Sonderklauseln und übergroßer Bundestag - Warum unser Wahlrecht geändert werden muss

Der Bundestag platzt aus allen Nähten, die Linkspartei kommt dank drei gewonnener Direktmandate in voller Stärke ins Parlament. Und für den Südschleswigschen Wählerverband gelten Sonderregeln. Das ist alles kaum vermittelbar. Höchste Zeit, dass sich etwas ändert.

Stefan Seidler zieht für den Südschleswigschen Wählerverband (SSW) in den Bundestag ein / dpa
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Philipp Austermann war in der Bundestagsverwaltung als Jurist tätig. Er ist Professor für Staatsrecht, Politik und Europarecht an der Hochschule des Bundes für öffentliche Verwaltung in Brühl. Voriges Jahr erschien sein Buch „Der Weimarer Reichstag. Die schleichende Ausschaltung, Entmachtung und Zerstörung eines Parlaments“.

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Das Volk hat gesprochen. Der 20. Deutsche Bundestag ist gewählt. Die künftige Regierungskoalition ist noch offen. Die kleineren Parteien Grüne und FDP entscheiden, welche der beiden größeren Parteien sie mit ins Boot nehmen. Das ist ein Novum der bundesdeutschen Geschichte. Noch ist unklar, ob Armin Laschet oder Olaf Scholz Bundeskanzler werden darf. Umso deutlicher ist dagegen, dass das Wahlrecht an einigen Punkten geändert werden sollte:

1.) Zunächst ist die Grundmandatsklausel (§ 6 Abs. 3 S. 1, 2. Alt. BWahlG) zu streichen. Ihr verdankt die siechende Partei Die Linke, dass sie trotz eines Zweitstimmenergebnisses unter fünf Prozent neben den drei direkt gewählten noch 36 weitere Abgeordnete von den Landeslisten in den Bundestag entsenden darf. Die jahrzehntealte gesetzgeberische Rechtfertigung für diese Klausel trägt heute nicht mehr. Direktmandate sollten nur als solche zählen und nicht zugleich auf die Landeslisten „einzahlen“.

2.) Ebenso fragwürdig ist die Bevorzugung des Südschleswigschen Wählerverbands (SSW) als Partei einer nationalen Minderheit (§ 6 Abs. 3 S. 2 BWahlG). Zwar hat der künftige SSW-Abgeordnete Seidler angekündigt, auch einmal „auf den Tisch hauen“ zu wollen. Aber ob das in dem noch größer gewordenen Bundestag oder in den Medien jemanden interessiert? Als Fraktionsloser wird Seidler in einem Ausschuss nur beratendes Mitglied sein und sehr wenig Redezeit im Plenum erhalten. Anträge oder gar Gesetzentwürfe darf er als einzelner Abgeordneter ohnehin nicht einbringen. Die Privilegierung im Bundestagswahlrecht (und gerne auch schleswig-holsteinischen Landtagswahlrecht) ist nicht mehr zeitgemäß.

Die für den SSW antretenden Kandidaten sind allesamt deutsche Staatsbürger. Ansonsten wären sie gar nicht wählbar. Eine Benachteiligung der dänischen Minderheit im Norden ist ohnehin nicht zu befürchten. Dasselbe gilt für die deutsche Minderheit in Dänemark. Die Bonn-Kopenhagener Erklärung von 1955, welche auch die Rechte der jeweiligen Minderheiten regelte, bedarf insofern einer Überarbeitung, die der gesicherten engen Freundschaft zwischen beiden Staaten gerechter werden muss. 

3.) Die Zahl der Bundestagsmandate muss reduziert werden. Der Bundestag ist derzeit deutlich zu groß. Schon der 19. Bundestag war mit 709 Mitgliedern zu groß. Für den 20. Bundestag gilt mit 735 Sitzen dasselbe. Ein so großes Parlament leistet sich kein demokratisches Land der Welt. Von den Kosten abgesehen, ist die Größe der Effizienz abträglich. Die Arbeitsfähigkeit des Bundestages hat bereits in der vorhergehenden Wahlperiode gelitten hat. Das haben auch viele Abgeordnete beklagt. Eine schrittweise Absenkung auf 500 Abgeordnete wäre sinnvoll. Am besten könnte dies wohl mit einer gesetzlich festgeschriebenen Mandatszahl und einem Grabenwahlsystem erreicht werden. Dabei würde die Hälfte der Mandate direkt in den Wahlkreisen und die andere Hälfte über die Landeslisten gewählt werden. 

4.) Die Grundzüge des Wahlrechts (Mandatszahl, Grabenwahlsystem, Fünf-Prozent-Hürde) gehören ins Grundgesetz. Der Einfluss des Bundesverfassungsgerichts auf das Wahlrecht hat in den Jahren seit 2012 keine guten Ergebnisse gezeitigt. Der Gesetzgeber wurde auch dadurch zu unsinnigen Mechanismen wie den Ausgleichsmandaten veranlasst. Durch eine Aufnahme ins Grundgesetz würde der Karlsruher Einfluss stark reduziert werden.


Unsere parlamentarische Demokratie ist die beste denkbare Regierungsform. Die genannten Reformen würden unsere Volksvertretung, unser „Herz der Demokratie“, stärken.

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