Ska Keller - Ewig jung

Bei der Europawahl Ende Mai hat Ska Keller im Mai mit den Grünen viele Stimmen abgeräumt – jetzt wird die Spitzenkandidatin aus Ostdeutschland antreten für das Amt der EU-Parlamentspräsidentin

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„Es macht mehr Sinn, auf konkrete Veränderungen zu setzen, als auf die Weltrevolution zu warten“, sagt Ska Keller / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Eigentlich soll Ska Keller vor der Diskussionsrunde zur Europawahl in der Französischen Friedrichstadtkirche noch schnell einen Videoclip für die sozialen Medien drehen. Doch dann wartet die grüne Europaabgeordnete vergeblich auf die jungen Leute mit der Kamera und blickt etwas verloren über den Berliner Gendarmenmarkt. Keine Entourage wartet auf sie, und auch die Gastgeber kümmern sich nicht um die Spitzenkandidatin der deutschen und der europäischen Grünen. Ihr Fahrrad hat sie an einem Verkehrsschild angeschlossen.

In der Kirche hat Ska Keller dann allerdings ein Heimspiel: Über globale Nachhaltigkeitsziele diskutiert sie auf Einladung von „Brot für die Welt“ und „Misereor“ mit den Spitzenkandidaten der Konkurrenz, über Frieden, Gerechtigkeit und Bewahrung der Schöpfung. Grüner geht es nicht.

Überzeugte Europäerin

Unspektakulär macht Ska Keller an diesem Frühlingstag Wahlkampf, vom Hype um den Höhenflug der Grünen ist nichts zu spüren. Und auch nichts von dem Scheidungsdrama, das zur selben Zeit ein paar Hundert Meter entfernt verhandelt wird. Im Kanzleramt sitzt die britische Premierministerin Theresa May und bettelt bei Angela Merkel um eine Gnadenfrist für die europamüden Briten. Mit welchem Ausgang man angesichts der verfahrenen Situation ernsthaft rechnen könne, weiß Keller auch nicht. Viel lieber allerdings würde sie darüber reden, „wie geht es weiter mit der EU nach dem Brexit“.

Ska Keller ist eine überzeugte Europäerin. Fragt man sie, wo sie zu Hause ist, dann antwortet sie: „in Europa“, nicht im brandenburgischen Guben, wo sie aufgewachsen ist; nicht in Berlin, wo sie Islamwissenschaft, Turkologie und Judaistik studierte und noch eine Wohnung hat; auch nicht in Brüssel, wo das Europaparlament seinen Sitz hat. Die Antwort mag politisch grün-korrekt klingen, aber vielleicht ist sie auch dem Nomadenleben einer europäischen Spitzenpolitikerin geschuldet, die ständig auf dem ganzen Kontinent unterwegs ist und nie länger als ein paar Tage an einem Ort bleibt.

Ostdeutsche Herkunft

Wenn Ska Keller dann allerdings darüber spricht, wo sie herkommt, dann spricht sie über Ostdeutschland. Acht Jahre war sie alt, als die Mauer fiel, trotzdem habe sie dies geprägt, sagt sie, der Aufbruch, die Demokratieerfahrungen von 1989 und auch Diskriminierungserfahrungen in den Jahren danach, bis heute seien Ostdeutsche in Führungspositionen von Staat und Wirtschaft unterrepräsentiert. Und sie spricht über ihr europäisches Schlüsselerlebnis, die Öffnung der deutsch-polnischen Grenze, die das Zusammenwachsen von Guben mit der Nachbarstadt Gubin ermöglichte.

„Die Zukunft Europas entscheidet sich am 26. Mai“, davon ist Keller überzeugt. Nie sei eine Europawahl wichtiger gewesen, sagt sie, „die Nationalisten wollen zurück in die fünfziger Jahre“. Stattdessen müsse der europäische Zusammenhalt gestärkt werden, mit sozialen Mindeststandards und einer europäischen Klimapolitik: „Es geht ums Ganze.“ Nur an einen Befreiungsschlag nach der Wahl glaubt nicht einmal Keller, egal wie die Wahl ausgeht. „Bei der Europawahl wird die Richtung entschieden“, sagt Keller. Anschließend gehe es darum, auf dem einzuschlagenden Weg „konkrete, kleine Schritte zu gehen.“

Wechsel in die Bundespolitik?

Europa wird sich also weiter durchwursteln und Ska Keller ist da schon lange dabei. Sie ist zwar erst 37 Jahre alt, aber bereits seit zehn Jahren Europaabgeordnete, seit 2016 steht sie an der Spitze der grünen Europafraktion. Wobei ihre Stärke eher die Bühne ist, heißt es in Brüssel. In den europäischen Hinterzimmern, wo die Deals ausgehandelt werden, da sind andere Parteifreunde stärker. Dort allerdings verfolgen die Brüsseler Grünen seit vielen Jahren jene Strategie, die sie mittlerweile auch in vielen Bundesländern mit Erfolg praktizieren: sich nach außen radikal geben und im Alltag selbst kleinen Kompromissen zustimmen. Keller kann dafür viele Beispiele aufzählen, beim Verbot von Plastikverpackung etwa in der Handelspolitik und selbst in der Asylpolitik. „Es macht mehr Sinn, auf konkrete Veränderungen zu setzen, als auf die Weltrevolution zu warten“, sagt sie.

Marktwirtschaftlich betrachtet, gehört Keller also eher zur grünen Abteilung Verkaufen. Das allerdings macht sie so gut, dass ihre Partei aller Voraussicht nach zu den großen Gewinnern der Europawahl zählen wird. In Deutschland könnten die Grünen ihr Ergebnis mehr als verdoppeln und gleichzeitig an der SPD vorbeiziehen, auch europaweit werden die Grünen, so sagen Prognosen, deutlich zulegen. Es wäre auch ein persönlicher Erfolg der Spitzenkandidatin, und deshalb wird in Berlin bereits darüber spekuliert, ob die ewig junge Ska Keller nicht irgendwann in die Bundespolitik wechseln könnte.

Dies ist ein Artikel aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Online-Shop erhalten.









 

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