20 Jahre Schröder-Blair-Papier - Die Ouvertüre des Abstiegs

Die SPD steht vor dem Abgrund. Die Volkspartei hat ihre Kern-Klientel verloren – die Arbeiter. Die Weichen dafür hat vor 20 Jahren das Schröder-Blair-Papier gestellt. Es ging von einem wirtschaftlichen Wandel aus, der so nie stattgefunden hat

Ihr Papier markierte den Anfang vom Ende der SPD: Tony Blair und Gerhard Schröder / picture alliance
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Autoreninfo

Stefan Laurin ist freier Journalist und Herausgeber des Blogs Ruhrbarone. 2020 erschien sein Buch „Beten Sie für uns!: Der Untergang der SPD“.

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Am 8. Juni 1999 veröffentlichten der britische Regierungschef Tony Blair (Labour) und Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) ein gemeinsames Papier mit dem Titel „Der Weg nach vorne für Europas Sozialdemokraten“. Geschrieben hatten die beiden Regierungschefs das nach ihnen benannte Schröder-Blair-Papier natürlich nicht selbst. Die Autoren waren der damalige Kanzleramtsminister Bodo Hombach und der frühere britische Minister für Handel und Industrie, Peter Mandelson. Es sollte die Sozialdemokraten in Europa in die Zukunft führen und wirkt im Nachhinein wie ein Vorspiel der 2003 vorgestellten Agenda 2010. Das Schröder-Blair-Papier sprach sich dafür aus, den Sozialstaat zu flexibilisieren. Es gab den Sozialdemokraten die Grundlage für eine Partnerschaft mit Unternehmen der Wissens-, Finanz- und Kreativwirtschaft. Und es markierte, was damals kaum jemanden auffiel, den Abschied der Sozialdemokraten von der Industriegesellschaft:

„Unsere Volkswirtschaften befinden sich im Übergang von der industriellen Produktion zur wissensorientierten Dienstleistungsgesellschaft der Zukunft. Sozialdemokraten müssen die Chance ergreifen, die dieser wirtschaftliche Umbruch mit sich bringt. Sie bietet Europa die Gelegenheit, zu den Vereinigten Staaten aufzuschließen. Sie eröffnet Millionen Menschen die Chance, neue Arbeitsplätze zu finden, neue Fähigkeiten zu erlernen, neue Berufe zu ergreifen, neue Unternehmen zu gründen und zu erweitern – kurzum, ihre Hoffnung auf eine bessere Zukunft zu verwirklichen.“

Kein Ende des Industriezeitalters

Ein oberflächlicher Blick auf die Statistiken schien Blair und Schröder Recht zu geben. 1950 arbeitete mit 43 Prozent fast jeder zweite Beschäftigte in Deutschland in der Industrie, dem „verarbeitenden Gewerbe”. 1999, als das Schröder-Blair Papier entstand, waren es in Deutschland nur noch gut 25 Prozent. In Großbritannien war die Entwicklung sogar noch radikaler verlaufen: In dem Mutterland der Industrialisierung war nach der Ära-Thatcher nicht einmal mehr jeder fünfte Arbeitnehmer in einer Fabrik oder auf dem Bau beschäftigt. Großbritannien sah seine Zukunft in den Dienstleistungsbranchen und setzte vor allem mit Deregulierungen darauf, den Finanzplatz Londons auszubauen. Mit der Industrie, das war den Autoren klar, würde es in den westlichen Staaten weiter bergab gehen. Die Unternehmen und die Beschäftigten musste sich also fit machen für die Zukunft und mit ihnen die Sozialdemokraten.

Doch der Zeitgeist war eben, was das Wort schon andeutet, ein Geist: 2008, keine zehn Jahre nach dem Schröder-Blair-Papier, kam Deutschland relativ glimpflich durch die weltweite Finanzkrise, weil es noch eine stabile und vor allem mittelständische Industrie hatte. 2010 lag der Anteil der Beschäftigten im verarbeitenden Gewerbe bei 23 Prozent. Und von damals 5,6 Millionen stieg er im Laufe des langen Booms bis auf 7,4 Millionen im Jahr 2018. Das von Blair und Schröder beschworene Ende des Industriezeitalters ist bislang in Deutschland nicht eingetreten.

Und andere Staaten wünschen sich eine so hohe Industriequote wie die Bundesrepublik: Die US-Regierung unter dem Demokraten Barack Obama als auch die seines Nachfolgers, des Republikaners Donald Trump, wollen die Zahl der Industriebeschäftigten in den USA steigern. Auch Bundeswirtschaftsminister Peter Altmaier will den Industrieanteil in Deutschland nicht nur halten, sondern ausbauen. Angesichts immer höherer Sozialausgaben, schlechter Infrastruktur und steigender Energiepreise ein kühn anmutendes Unterfangen.

Industrie als Export-Motor 

Verwundert stellten viele Prediger der Deindustrialisierung fest, dass die Zahl der Beschäftigten in der Industrie in den vergangenen Jahrzehnten kaum zurückgegangen war und der Wohlstand Deutschlands nach wie vor auf seiner Exportwirtschaft beruht. Technische Innovationen finden fast nur in Industrieunternehmen statt, die Branchen mit den meisten Patenten waren 2018 Transport, Elektrotechnik, Maschinenbau und Messtechnik. Auch zahlreiche Dienstleistungen hängen an einer leistungsfähigen Industrie: Ob Ingenieursbüros oder Logistik – wo Deutschland wohlhabend ist, hat es eine starke Industrie. 

Die Unionsparteien im Süden und Osten der Republik, in Sachsen, Baden Württemberg und Bayern wären damals nie auf die Idee gekommen, der Industrie pauschal die Zukunftsfähigkeit abzusprechen. In diesen Ländern war Industrie High-Tech und Zukunft. Aber der Mülheimer Bodo Hombach, geprägt von dem Niedergang der traditionellen Schwerindustrie im Ruhrgebiet, kam zu einem anderen Schluss. Er ging davon aus, dass das, was im Revier und auch in Großbritannien schon geschehen war, die nahe Zukunft der anderen Industriestandorte sein würde.

Bruch mit den Arbeitern 

Während er am Schröder-Blair-Papier schrieb, setzte sein Parteifreund Wolfgang Clement erst als Wirtschaftsminister und dann als Ministerpräsident von Nordrhein-Westfalen auf Medien und Call-Center als neue Job-Motoren der Zukunft. Für die SPD in Deutschland hatte das Schröder-Blair-Papier aber nicht nur wirtschaftspolitische Bedeutung. Es verfestigte auch die Möglichkeiten der Zusammenarbeit mit den Grünen. Die Dienstleistungs- und Medien-SPD, das war klar, würde weniger Konflikte mit den Grünen, dem damaligen Regierungspartner, haben, als die alten Industrie-Sozis. Der Streit vor der Bundestagswahl 1998 zwischen dem angehenden „Autokanzler” Schröder und den Grünen mit ihrer Forderung nach 5 Mark für einen Liter Benzin saß allen noch in den Knochen.

Wie in Großbritannien und nahezu allen anderen Staaten Europas bedeutete dies aber auch den Bruch der Sozialdemokratie mit den Arbeitern. Galt die Industrie als absterbender Wirtschaftszweig, so galten die Arbeiter nun als Schicht, die langsam verschwinden würde. Auf sie würde es in Zukunft nicht mehr ankommen. Warum noch Rücksicht auf sie nehmen? Der naheliegende Gedanke, sich vermehrt um Freiberufler und Beschäftigte im Dienstleistungsbereich zu kümmern, kam den Genossen indes nicht.

Annäherung an die Akademiker

Die SPD öffnete sich postmaterialistischen Positionen, die bei den Grünen so modern wirkten. Sie näherte sich damit auch ideologisch ihren Mitgliedern an, die seit den siebziger Jahren immer häufiger einen akademischen Hintergrund hatten, im Öffentlichen-Dienst arbeiteten und mit der alten, schon damals oft nur noch folkloristisch von den Genossen gepflegten Arbeiterkultur fremdelten. Das Schröder-Blair-Papier lieferte nicht nur die Grundlage für die Agenda 2010, es half auch die SPD für die bunte Welt der Postmoderne zu öffnen und die Werkshallen und Fabriken hinter sich zu lassen. Schaut man sich an, wo heute die SPD und ihre Schwesterparteien in fast ganz Europa stehen, wurde das gegebene Aufbruchsversprechen in eine bessere sozialdemokratische Zukunft nicht eingelöst. 

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