Debatte um Neutralitätsgesetz - Das letzte Gefecht der Sandra Scheeres

Berlins SPD-Bildungssenatorin zieht vor das Bundesverfassungsgericht, um die Gültigkeit des Berliner Neutralitätsgesetzes endgültig zu klären. Linke und Grüne schäumen vor Wut. Doch sie bekommt auch viel Zuspruch.

Berlins Bildungssenatorin Sandra Scheeres / dpa
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Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

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Berlins Schulsenatorin Sandra Scheeres (SPD) gehört nicht gerade zu den ohnehin rar gesäten Aktivposten der rot-rot-grünen Landesregierung. Die Liste der ihr zumindest teilweise anzulastenden Versäumnisse und Fehler ist lang und reicht von der desaströsen Lehrerbedarfsplanung über die schleppende Sanierung und den Neubau von Schulen bis zum eklatanten Versagen bei der Digitalisierung des Bildungswesens. Auch in der Corona -Krise machte sie mit merkwürdigen Pirouetten bei der Organisation des Schulbetriebs unter Pandemie-Bedingungen keine gute Figur.  

Doch jetzt, wenige Monate vor dem angekündigten Ende ihrer landespolitischen Karriere, zeigt Scheeres noch einmal Flagge – und das ist aller Ehren wert. Die Senatorin kündigte vor einigen Tagen an, vor das Bundesverfassungsgericht zu ziehen, um endgültig klären zu lassen, ob das Berliner Neutralitätsgesetz Bestand behalten und weiterhin angewendet werden kann. Scheeres reagiert damit auf ein Urteil des Bundesarbeitsgerichts (BAG) vom August 2020, dessen ausführliche Begründung aber erst seit Ende Januar vorliegt.

Bundesarbeitsgericht sieht Religionsfreiheit eingeschränkt

Die Erfurter Richter stoßen sich besonders an §2 des bereits seit 2005 geltenden Gesetzes. Dort heißt es: „Lehrkräfte und andere Beschäftigte mit pädagogischem Auftrag in den öffentlichen Schulen dürfen innerhalb des Dienstes keine sichtbaren religiösen oder weltanschaulichen Symbole, die für die Betrachterin oder den Betrachter eine Zugehörigkeit zu einer bestimmten Religions- oder Weltanschauungsgemeinschaft demonstrieren und keine auffallenden religiös oder weltanschaulich geprägten Kleidungsstücke tragen.“ 

Für die Richter ist das ein „unverhältnismäßiger Eingriff in die Religionsfreiheit nach Art. 4 GG , sofern das Tragen des Kopftuchs  wie hier im Fall der Klägerin – nachvollziehbar auf ein als verpflichtend verstandenes religiöses Gebot zurückzuführen ist“. Ein entsprechendes Verbot könne nur mit dem Nachweis „einer konkreten Gefahr für den Schulfrieden oder die staatliche Neutralität“ ausgesprochen werden. Das BAG bestätigte damit ein Urteil des Landesarbeitsgerichtes Berlin-Brandenburg vom November 2018.

Die Richter sprachen einer Bewerberin für den Schuldienst eine Entschädigung in Höhe von 5.159,88 Euro wegen erlittener Diskriminierung zu. Die Frau war aufgrund ihrer Ankündigung, das Kopftuch auch im Unterricht nicht ablegen zu wollen, abgelehnt worden. Gegen dieses Urteil legte die Senatsverwaltung für Bildung Revision ein und scheiterte. Jetzt soll das Bundesverfassungsgericht entscheiden.

Krach in der rot-rot-grünen Koalition

In der ohnehin fragilen Berliner Koalition sorgt das Vorgehen der Senatorin für heftigen Krach. Während die SPD geschlossen hinter Scheeres steht, reagierten besonders die Grünen regelrecht wütend. Justizsenator Dirk Behrendt sprach von „sinnfreier Prozesshanselei“. Er sei ferner „verwundert, dass neuerdings Verfassungsbeschwerden ohne Senatsbeschluss eingereicht werden.“ Behrendt und die meisten seiner Parteifreunde würden das Gesetz in seiner bisherigen Form am liebsten abschaffen. Und in seinem Bereich hat er bereits Lockerungen für muslimische Gerichtsreferendarinnen angeordnet.

Innerhalb der Linken gibt es dagegen heftigen Streit über das Gesetz. Der stellvertretende Bürgermeister und Kultursenator Klaus Lederer bezeichnet das Kopftuchverbot für muslimische Lehrerinnen bereits seit Jahren regelmäßig als  unvereinbar mit einer „weltoffenen Gesellschaft“. Auch der Landesvorstand fasste 2019 einen Beschluss mit diesem Tenor.

Es gibt in der Partei allerdings auch eine „Landesarbeitsgemeinschaft (LAG) Säkulare Linke“, die das Gesetz vehement verteidigt und das Vorgehen von Scheeres ausdrücklich unterstützt. Roman Grabowski, einer der LAG-Koordinatoren, stellt auf Cicero-Nachfrage „eine Kluft zwischen der stillen Basis und dem Ober- und Mittelbau der Partei bei diesem Thema“ fest. Man wolle keinen „Showdown“ auf einem Landesparteitag, sondern strebe jetzt einen Mitgliederentscheid zu dieser Frage nach den Wahlen an und schätze die Erfolgsaussichten als gut ein.

Ethiklehrer unterstützen Scheeres

Zu Wort gemeldet hat sich jetzt auch der Fachverband der Ethiklehrer. In einer dem Tagesspiegel vorliegenden Stellungnahme heißt es, die Forderung nach religiöser Neutralität der Lehrkräfte sei nicht diskriminierend, zumal das muslimische Kopftuch auch für Vorstellungen stehe, „die dem ethischen Minimalkonsens unserer Gesellschaft nicht entsprechen“.

Unterstützung kommt auch von der überparteilichen Initiative Pro Neutralitätsgesetz, zu deren prominenten Förderern auch die frühere SPD-Bundestagsabgeordnete Lale Akgün und die Rechtsanwältin und Autorin Seyran Ates gehören. Ates wurde auch als Gründerin einer liberalen Moschee in Berlin bekannt. Michael Hammerbacher, einer der Sprecher der Initiative, nannte Scheeres‘ Gang nach Karlsruhe gegenüber Cicero „einen richtigen Schritt, dem aber weitere folgen müssten“. Man fordere „ein Register für die Erfassung und Dokumentation von Fällen konfrontativer Religionsbekundung und religiösen Mobbings an Berliner Schulen“. Denn es wachse die Gefahr, das gerade muslimische Mädchen, „die sich bestimmten weltanschaulichen und religiösen Riten und Bekleidungsvorschriften nicht unterwerfen, durch das Vorbild des Lehrpersonals immer weiter unter Druck gesetzt werden.“

Ende einer glücklosen Amtszeit

Bei den Wahlen zum Berliner Abgeordnetenhaus könnte das hochemotionale Thema Neutralitätsgesetz durchaus eine Rolle spielen. Zumal sich auch Franziska Giffey als SPD-Spitzenkandidatin – anders als Grüne und Linke – eindeutig zu dem Neutralitätsgebot und seiner Durchsetzung bekennt. Sandra Scheeres hat es jedenfalls geschafft, das nahende Ende ihrer glücklosen Amtszeit als Bildungssenatorin mit einem mutigen und konsequenten Schritt einzuläuten. Das schaffen nicht viele Politiker.  

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