Fall Sami A. - Alles Recht geht vom Volke aus

Der Fall des Islamisten Sami A. stellt das Rechtsempfinden vieler Menschen auf eine harte Probe. Ein CDU-Politiker forderte die Richter auf, dies in ihren Urteilen stärker zu berücksichtigen. Kritiker sagen: Das schwächt den Rechtsstaat. Dabei war die Forderung urdemokratisch. Von Alexander Grau

Verwaltungsgericht Gelsenkirchen: Es gibt keine ewigen Gesetze in einer Demokratie / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Richter dienen dem Recht, nicht der Macht. Deshalb sind sie allein den Gesetzen und der ständigen Rechtsprechung verpflichtet. Soweit zumindest die Theorie. Doch wir leben in einer Demokratie. Das heißt: Die Gesetze werden durch die Legislative erlassen und die wird in Gestalt der Parlamente vom Souverän, dem Volk, gewählt. Gesetze oder eine Rechtsprechung, die dem Rechtsempfinden des Souveräns dauerhaft widersprechen, werden in einer Demokratie nicht lange Bestand haben – was immer Fachjuristen dazu zu sagen haben.

Rechtsstaat trifft auf Rechtsempfinden

Juristen haben mit dieser Einsicht naturgemäß ihre Schwierigkeiten. Denn letztlich geht es um eine Machtfrage. Und es ist genau diese Machtfrage, genau dieser Dissens zwischen Souverän und Judikative, die dem Streit um die Abschiebung von Sami A. seine tiefere Brisanz verleiht. Denn dass eine absolute Mehrheit der Bevölkerung die Abschiebung von Sami A. befürwortet, darf man als gegeben voraussetzen. Zugespitzt wurde diese Unstimmigkeit noch durch die Aussage des nordrhein-westfälischen Innenministers Herbert Reul (CDU). Der hatte am Donnerstag gegenüber der Rheinischen Post betont: „Die Unabhängigkeit von Gerichten ist ein hohes Gut. Aber Richter sollten immer auch im Blick haben, dass ihre Entscheidungen dem Rechtsempfinden der Bevölkerung entsprechen“.

Die Reaktionen aus dem Milieu der Tugendwächter und Schnellempörten auf diese Äußerungen waren absehbar: Thomas Kutschaty (SPD) warf Reul ein „gestörtes Verhältnis zur Justiz und zum Rechtsstaat“ vor, Verena Schäffer (Grüne) sah einen Beitrag zur „Schwächung unseres Rechtsstaates“. Britta Haßelmann, parlamentarische Geschäftsführerin der Fraktion der Grünen im Bundestag, hob hervor, „es geht um den Rechtsstaat und nicht um das Rechtsempfinden“. Niema Movassat (Linke) und die Journalistin Dunja Hayali äußerten sich ähnlich. Und dass die machtbewussten Lobbyvertreter von Richterbund und Anwaltsverein in dieselbe Kerbe schlugen, kann nur Naive verwundern.

Es gibt keine Geheimformeln der Rechtsprechung

Gemach, gemach, möchte man all den weltgewandten Rechtsstaatshütern zurufen. Die Gewaltenteilung hat Reul zu keinem Zeitpunkt infrage gestellt, auch wenn seine Position als Vertreter der Exekutive in diesem Moment etwas unglücklich war. Das kann jedoch nicht davon ablenken, dass der Innenminister im Kern so unrecht nicht hat. Gesetze fallen nicht vom Himmel. Sie legitimieren sich weder durch sich selbst noch sind sie Ausdruck eines höheren Naturrechtes. Gesetze sind kulturelle Setzungen und damit relativ. Sie legitimieren sich, zumal in einer liberalen Demokratie, ausschließlich durch die Zustimmung des Souveräns. Dass die tägliche Gesetzespflege dabei an Fachleute delegiert wird, ändert daran nichts.

Natürlich sind Gerichte dem Gesetz verantwortlich und nicht dem gesunden Volksempfinden. Diese Binse der sich aufgeklärt Wähnenden darf jedoch nicht davon ablenken, dass ein Rechtssystem, das nicht mehr die Zustimmung des Souveräns hat, jede Legitimation einbüßt. Urdemokratische Staaten wie etwa die USA wissen das. Deshalb werden dort Richter mitunter immer noch vom Volk gewählt – keine schlechte Idee. Denn die Jurisprudenz ist keine objektive Wissenschaft. Jedes Urteil könnte auch anders ausfallen. Aus diesem Grund gibt es etwa den feinen Unterschied zwischen herrschender Rechtsprechung und herrschender Lehre – deshalb auch gibt es mehrere Instanzen.

Wenn nun seitens einiger Politiker und Journalisten, vor allem aber auch seitens juristischer Interessenverbände eine Kluft aufgemacht wird zwischen Recht und dem Rechtsempfinden der Bevölkerung, so ist das Augenwischerei. Denn Jurisprudenz ist keine Mathematik. Letztlich urteilen auch Richter nach ihrem Rechtsempfinden und nicht nach geheimnisvollen logischen Formeln. Dann aber muss die Frage erlaubt sein, ob es in einer Demokratie wirklich so abwegig ist, das Rechtsempfinden des Souveräns höher zu stellen als das Rechtsempfinden eines einzelnen Richters.

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