Sachsen und Brandenburg - Vollendet die AfD die Wende?

​​​​​​​Bei den Landtagswahlen in Brandenburg und Sachsen hat die AfD ihre bisher besten Wahlergebnisse erzielt. Ihre Wahlerfolge zwingen den Westen, die Gründe der ostdeutschen Unzufriedenheit besser zu verstehen. Das fördert die Vollendung der deutschen Einheit

Die AfD leistet einen Beitrag zur Wiedervereinigung – wenn auch nur aus Versehen / picture alliance
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Victor Trofimov Doktorand für Sozial- und Kulturanthropologie an der Europa- Universität Viadrina in Frankfurt (Oder).

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Als ich vor fünf Jahren aus Russland nach Berlin zog, habe ich mir vorgenommen, kleinere Städte in Ostdeutschland zu besichtigen. Innerhalb eines halben Jahres war ich in Halle, Schwerin, Chemnitz und Gera. Diese Orte hatten viel gemeinsam: Altstädte, die nach der Wende aufwendig saniert wurden. Straßenzüge mit Reihenhäusern aus der Gründerzeit, deren schicke Fassaden schön restauriert wurden. Viel Natur und Parks. Und: Sie wirkten alle wie leergefegt. Zumindest außerhalb vom Stadtzentrum konnte man an einem Werktag kaum Menschen auf der Straße treffen, schon gar nicht junge Menschen. Weil diesen Städten das Leben fehlte, wirkten sie wie eine surreale Kulisse zu einem Hollywood-Film.

In jenem Jahr, 2014, hat Deutschland das 25. Jubiläum des Mauerfalls gefeiert. Die Medien waren mit Meldungen über die Erfolgsgeschichte der deutschen Einheit überfüllt. Diese Meldungen stützten sich größtenteils auf die Arbeitslosenstatistik, die den konsekutiven Zuwachs der Beschäftigungszahlen in den ostdeutschen Bundesländern zeigte, und auf die Einkommensstatistik, die die sinkende Einkommenskluft zwischen dem Osten und dem Westen verdeutlichte. Doch wie spätere Ereignisse zeigten, waren diese Statistiken nur Fassade. Dahinter saß  eine tiefe Unzufriedenheit. 

Gehört Sachsen zu Deutschland? 

Diese ostdeutsche Unzufriedenheit war im nächsten Herbst nicht mehr zu übersehen. Nirgendwo waren Proteste gegen die Flüchtlingspolitik der Bundeskanzlerin so groß und allgegenwärtig wie im Osten. Nirgendwo wurde Angela Merkel so laut beschimpft und angegriffen wie im sächsischen Heidenau, beim Besuch eines Flüchtlingsheims. Und, besonders wichtig – nirgendwo hat die Flüchtlingskrise größere politische Veränderungen mit sich gebracht als in den Bundesländern östlich der Elbe. Die Landtagswahl im März 2016 in Sachsen- Anhalt, bei der die AfD aus dem Stegreif ein Viertel der Stimmen holte, war das erste Zeichen dafür, dass die Rechten im Osten zur entscheidenden politischen Kraft werden. Die letzten Wahlergebnisse in Brandenburg und Sachsen sind nur der jüngste Ausdruck des schon seit Jahren währenden Trends, dass sich die AfD als Volkspartei im Osten etabliert.

Der Aufstieg der AfD hat das westdeutsch geprägte politische und mediale Establishment bekanntlich tief irritiert. Wie bei allen Ereignissen, die das eigene Weltbild in die Frage stellen, haben die Herrschenden auf diese Irritation erstmal mit Abneigung reagiert. Beispielhaft dafür ist die nach den Ausschreitungen in Chemnitz erschienene Ausgabe des Spiegels, die die Frage aufwarf, ob Sachsen zum demokratischen Deutschland gehört. 

Aussterbende Städte 

Doch es mehren sich Zeichen, dass diese Abneigung gegenüber dem Osten, die durch die Wahlerfolge der AfD befördert wurde, dem besseren Verständnis von dessen Gefühlslage den Weg ebnet. Für diese Feststellung reicht der Blick auf die Titelgeschichten von Spiegel und Stern in der vergangenen Woche. Kurz vor den Landtagswahlen haben die beiden Nachrichtenmagazine ihre Korrespondenten nach Sachsen und Brandenburg geschickt. Die Journalisten sollten das Stimmungsbild vor Ort erfassen und nach Gründen für den vorhersehbaren Erfolg der AfD recherchieren. Die Reportagen, die von diesen Recherchen erschienen sind, zeigen das Bild Ostdeutschlands, das es in den etablierten Medien so lange nicht gab.

Sie zeigen aussterbende Städte mit verschwundener Industrie, deren Wunden nicht von künstlichen Seen und Freizeitparks gedeckt werden können, die an der Stelle ehemaliger Kohletagebauten eingerichtet worden sind. Sie zeigen durch Abwanderung und zunehmende Isolierung der Einzelnen zerstörte Dorfgemeinden. Sie zeigen Menschen, denen die Verwerfungen der Wendezeit die Lebensgrundlagen beraubt und die immer noch keinen Anschluss an das Leben im wiedervereinigten Deutschland gefunden haben. 

Vorsicht: Jammer-Ossis 

Bei ihrer Suche nach Gründen für den AfD- Erfolg fangen Spiegel und Stern jetzt damit an, die durch die Wiedervereinigung ausgelösten und lange Zeit verschwiegenen Probleme Ostdeutschlands zum Thema zu machen. Galt die deutsche Einheit bisher als eine vollendete Erfolgsgeschichte, werden nun ihre Schattenseiten thematisiert. Die Treuhand, die ganze Industriezweige abgewickelt, Regionen mit einer 150jährigen Industriegeschichte deindustrialisiert und Millionen von Menschen arbeitslos und ohne Perspektiven hinterlassen hat. Das Aussterben ostdeutscher Kleinstädte, deren Bevölkerung infolge der Abwanderung in manchen Fällen auf die Zahl der Mitte des 19. Jahrhunderts geschrumpft ist.

Die immerwährende Strukturschwäche der ostdeutschen Industrie, die kaum mehr als eine verlängerte Werkbank westdeutscher Unternehmen ist. Indem Spiegel und Stern AfD-affine Wendeverlierer zu Wort kommen lassen, machen sie auch die ostdeutsche Wut auf „die da oben“ greifbar. Die Wut, die daher rührt, dass viele Menschen in der ehemaligen DDR ihre Karriere- und Lebenspläne auf dem Altar der deutschen Einheit opfern mussten. Die Wut, die aber vor allem daher rührt, dass sie über die schmerzhaften Erfahrungen der Wende öffentlich nicht sprechen durften, wenn sie nicht als Jammer-Ossis verschrien werden wollten. Die Wut, die sich jetzt in der Wahl einer systemkritischen Partei äußert. 

Mit Spaltung zur Wiedervereinigung 

Es scheint so zu sein, dass die Suche nach den Gründen für die Wahlerfolge der AfD den Westen langsam dazu bringt, zu verstehen, dass der Osten nicht nur positive Erfahrungen mit der Wende gemacht hat. Damit trägt die rechte Partei nolen volens zum Abbau der immerwährenden mentalen Kluft zwischen den beiden Teilen des einst geteilten, aber formal schon längst wiedervereinigten Deutschlands bei. Paradoxerweise könnte es somit zum historischen Verdienst einer auf Spaltung ausgerichteten politischen Kraft werden, zur Vollendung der deutschen Einheit beizutragen. 

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