Rechtsextremismus in Ostdeutschland - Bautzen Brown Under?

Bautzen gilt als Inbegriff des braunen Ostens: Anschläge auf Asylunterkünfte, Prügeleien, Rechtsextremismus. Unsere Autorin ist hier aufgewachsen und sieht die Dinge etwas anders.

An einer Landstraße nahe Bautzen protestieren Menschen gegen die Corona-Maßnahmen / Anja Lehmann
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Edda Schlager arbeitet als Korrespondentin in Zentralasien.

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Tilo hat sich kaum verändert: Die dunklen Haare, die tiefe Stimme, etwas grauer und kräftiger ist er geworden, aber seinen beißenden Sarkasmus hat er behalten. „Manchmal ist der Mund eben schneller als der Kopf“, wird er später sagen. 

Jetzt kommt er mir in Adiletten und kurzer Hose entgegen, im Hof einer dieser vierstöckigen Wohnblöcke aus den Siebzigern. „Schön, dass du da bist“, sagt er und drückt mir herzlich die Hand. 32 Jahre ist es her, dass wir uns das letzte Mal gegenüberstanden. 

Damals habe ich Bautzen verlassen. In der Pubertät vom Dorf hierher verpflanzt, war ich bis zum Ende der Schulzeit nie wirklich angekommen. Ich floh in die Welt. Den unsanften Abschied von meiner Kindheit habe ich Bautzen nie verziehen. Regelmäßig kehre ich zur Familie zurück, alle anderen Kontakte aber brach ich rigoros ab. Jetzt ist mein ehemaliger Klassenkamerad Tilo Schütze mein wichtigster Ansprechpartner. Er ist hiergeblieben. Von allen, denen ich begegnen werde, steht er am ehesten für das, was Bautzen ausmacht. 

Woher Bautzens Ruf rührt

Seit 2015 gilt die 39 000-Einwohner-­Stadt eine Stunde östlich von Dresden als Inbegriff für den „rechten Osten“, in den sozialen Netzwerken macht der Spitzname „Brown Under“ die Runde. Zahlreiche Vorkommnisse brachten Bautzen diesen Ruf ein. Im Februar 2016 wird das Hotel Husarenhof in Brand gesteckt. 300 Asylbewerber, die hier untergebracht werden sollten, kommen nicht, weil das Hotel unbewohnbar wird. Im September desselben Jahres prügeln sich in der Innenstadt Asylbewerber und Deutsche. Im Dezember 2016 dann ein weiterer Anschlag, diesmal auf das als Asylunterkunft dienende Spreehotel.

Hier holt die AfD 2017 eines ihrer drei Direktmandate, mit 32,8 Prozent wird die Partei stärkste Kraft im Bundestagswahlkreis. Im Stadtrat sitzt die AfD als zweitgrößte Fraktion nach der CDU.
Tilo Schütze gehört zu den AfD-­Wählern. Er gehört auch zu denen, die 30 Jahre nach der Wende im Osten wohnen und im Westen arbeiten. 

Jeden Montag um halb zwei Uhr morgens fährt der Klempner los nach Buttenheim bei Bamberg, wo er bei einer Zeitarbeitsfirma angestellt ist. Donnerstag 16 Uhr „fällt der Hammer“, und er macht sich auf den Rückweg nach Bautzen, wo seine Frau Gabi und der Pudel in der kleinen Zweiraumwohnung warten. Dazu kümmert er sich um seine 85-jährige Mutter, die auch in Bautzen lebt.

Für die AfD, aus Protest

Hier wohnen, drüben arbeiten, so geht das seit 20 Jahren. Aber Jammer­ossi? Ist er nicht. Schütze hat sich so entschieden, weil die Arbeitsbedingungen im Osten härter sind. „Was die drüben seit 60 Jahren haben, haben die hier jetzt knallhart in 30 Jahren aufgeholt. Den Bauunternehmen hier geht es ja nicht schlecht, aber die Leute stehen alle stramm, weil es weniger Arbeitsplätze gibt“, sagt er. Das Leben auf Montage im Westen ist für ihn ein Stück Emanzipation. 

Blick in eine Wohnung in der Bautzener
Innenstadt / Anja Lehmann

Ich erinnere mich an ihn als intellektuell Unterschätzten. Hat ihm der Ehrgeiz gefehlt, mehr zu erreichen? „Klar könnte man immer ein bisschen mehr Geld haben“, sagt er, „aber ich bin zufrieden. Mir ist wichtiger, dass man als Familie funktioniert. Und das passt hier.“ 

Warum dann AfD? „Es läuft zurzeit so viel schief“, sagt Schütze. „Man soll ja nicht immer sagen: die Flüchtlinge. Aber um die geht’s.“ Im Westen sieht er Verhältnisse, die er in Bautzen nicht haben will: Flüchtlinge, die regelmäßig Ärger machen wie im Ankerzentrum in Bamberg. Stadtviertel, in denen der Polizei die Kontrolle zu entgleiten droht. In Deutschland, sagt er, soll jeder willkommen sein, der Schutz sucht, aber eben auch die Sprache lernt und arbeitet. 

Schütze hat Kollegen aus Bosnien, Serbien und Russland, mit denen er gut auskommt. Mit seinem türkischen Döner-­Verkäufer in Bamberg wundere er sich gemeinsam, warum Deutschland den Zuzug in seine Sozialsysteme zulasse. „Wir haben so viele eigene Faule, die nichts machen – da hol ich mir noch ne Million zusätzlich her? Das macht mich wahnsinnig“, sagt er. Früher habe er SPD und CDU gewählt, heute stimme er für die AfD, aus Protest. 

Eine Westdeutsche mischt Bautzen auf

Wenn überregionale Medien über Bautzen berichten, werden fast ikonisch immer dieselben Protagonisten herausgestellt, die als klassische Antagonisten taugen. Aber bildet das die Wirklichkeit ab?

Auf der einen Seite steht da regelmäßig die 34-jährige linke Aktivistin Annalena Schmidt. Die gebürtige Hessin und promovierte Historikerin kam 2015 für einen Dreijahresvertrag ans Sorbische Institut nach Bautzen. In ihren ersten Tagen erlebte sie, wie Flüchtlinge in der Innenstadt angegriffen wurden. Das war ihr Anstoß, sich öffentlich zu Bautzen zu äußern und hier politisch aktiv zu werden. Sie organisiert Aktionen gegen rechts, berichtet auf Twitter über Bautzen. 14 000 Menschen folgen ihr dort, sie hat den Begriff „Brown Under“ populär gemacht. 2018 zeichnet die Bundesregierung Schmidt als Botschafterin für Demokratie und Toleranz aus, 2019 wird sie als Parteilose für die Grünen in den Stadtrat gewählt. 

Ihre Kritik an den Bautznern: Der Großteil äußere sich nicht gegen rechts, lasse offenen Rassismus zu. „Vielleicht ist das eine sehr westdeutsche Perspektive, aber die Menschen hier, die in der DDR sozialisiert wurden, haben es eingeübt, in der Öffentlichkeit den Mund zu halten. Ihnen fällt es schwerer, sich zu erheben“, sagt sie. 

Dass sie als Westdeutsche den Bautznern erklärt, wie sie sich zu verhalten haben, stößt auf Ablehnung. Mehrfach wurde sie von Rechten bedroht, bekam Hassbriefe, erlebte Konfrontationen auf der Straße. Und auch die, die Schmidts Engagement begrüßen, räumen ein, dass sie sich manchmal im Ton vergreife. 

Die beiden weiteren Bautzener „Ikonen“

Die zweite mediale „Ikone“ ist Oberbürgermeister Alexander Ahrens, 54, Westberliner, den die Liebe zu einer Sächsin nach Bautzen brachte. 2015 wird das Ex-SPD-Mitglied als Parteiloser zum Bürgermeister gewählt. 25 Jahre lang hatten die Bautzner einen CDU-Bürgermeister. Dann wollten sie etwas Neues und gaben dem Zugereisten eine Chance. 

Ahrens sagt, er sei „kein Wessi“, Bautzen sei seine Heimat. Er setzt sich ein für die Bautzner, will das Etikett der braunen Ossis nicht auf ihnen sitzen lassen. „Die Leute im Osten sind radikaldemokratisch“, sagt er. „Die sagen, mit politischer Korrektheit brauchst du mir nicht zu kommen. Solange die AfD nicht verboten ist, ist es erlaubt, sie zu wählen.“ Seine Bereitschaft zum Dialog mit allen Lagern, auch mit Rechten, stößt wiederholt auf Kritik. Auch dass er 2017 erneut in die SPD eintritt, sich im vergangenen Jahr sogar um den SPD-Parteivorsitz bewirbt, kommt in Bautzen nicht gut an.

Die dritte Ikone ist Bauunternehmer Jörg Drews, 61 Jahre alt, Geschäftsführer der Hentschke Bau GmbH, dem mit mehr als 700 Mitarbeitern drittgrößten Unternehmen in Bautzen. Drews entstammt einer in den sechziger Jahren enteigneten Oberlausitzer Bauernfamilie, nach der Wende arbeitete er sich zum erfolgreichen Unternehmer empor. Von einem westdeutschen Manager, der die Privatisierung des VEB Wohnungsbau Bautzen zur Hentschke Bau verantwortete, lernte er das Einmaleins der Marktwirtschaft. 

Zur Bundestagswahl 2017 war Hentschke Bau einer der größten Parteispender der AfD. Heute sagt Drews zu deren Arbeit auf Bundesebene: „Ich bin in vielerlei Hinsicht enttäuscht von der AfD. Ich hätte mir eine fundiertere, sachlichere Oppositionspolitik gewünscht, auch wenn das nicht einfach ist.“ Er sitzt für das Bürgerbündnis Bautzen im Stadtrat. 

Spaltung oder Meinungsverschiedenheit?

Drews unterstützt alternative lokale Medien, Sportvereine oder die Bautzner Sternwarte, die sonst längst pleite wäre. Drews sagt, er investiere, weil er an das Potenzial der Wirtschaftsregion Lausitz glaubt. Aber er sieht sich als kritischen Bürger: „Wenn man mit den Widersprüchen in der DDR aufgewachsen ist, hat man einen kritischeren Bezug zu vielen Dingen. Man lässt sich nicht mehr so leicht mit Schlagworten und propagandistischen Zeilen einfangen.“ Seine Kritiker sagen: Drews’ Sympathien für verschwurbelte Ideen, gepaart mit seinem finanziellen und politischen Engagement in der Stadt machten ihn zu einem Vorreiter für die schleichende Infiltration der politischen Mitte mit rechtem Gedankengut. Die Sächsische Zeitung sieht ihn in der Nähe von Verschwörungstheoretikern und Reichsbürgern. 

An Schmidt, Ahrens und Drews entlang kann man die politische Spaltung der Gesellschaft beschreiben, das Abdriften Bautzens in den Rechtsextremismus, die Zerstörung der Demokratie. Oder auch die Tatsache, dass sich in einer deutschen Kleinstadt schlicht Menschen mit unterschiedlichen Meinungen, Interessen und Instrumenten zu deren Durchsetzung gegenüberstehen.

„Drews und Annalena sind nicht die Antipoden“, sagt Lutz Hillmann. „Es geht um die Bürger in Bautzen, die schweigenden und die aktiven.“ Der heute 61-jährige Hillmann ist seit 1999 Intendant des Deutsch-Sorbischen Volkstheaters. Er hat öffentliches Gewicht, ist emotional, nahbar. Abends nach einer Vorstellung im Theatergarten bleibt er, um mit dem Publikum zu plaudern, entspannt an seiner Zigarre ziehend. 

Wie man das Publikum in Bewegung bringt

Das Theater ist einer der wenigen gesellschaftlichen Fixpunkte der Stadt. Das war es schon in Wendezeiten. Noch vor 1989 nahm es sich Freiheiten wie kaum ein anderes Haus in der DDR. Damals sah ich Hillmann, wie er in „Diktatur des Gewissens“ aus der Feder des russischen Autors Michail Schatrow von 1986 spielte, möglich geworden erst durch die Perestroika. Das Publikum wurde aktiv mit einbezogen – ein Novum. „Es war etwas vollkommen Unbekanntes, dass Leute plötzlich etwas laut ins Mikrofon sagen durften“, erinnert sich Hillmann. „Einige erschraken furchtbar, haben gar nichts gesagt, einige haben vom Leder gezogen, andere darauf hingewiesen, dass der halbe Saal voll Stasi sitzt und sie nichts sagen wollen.“ Heute versucht Hillmann als Intendant, das Publikum in Bewegung zu bringen, mit Stücken wie „Terror“ von Ferdinand von Schirach. 

Annalena Schmidt sieht ihn kritisch, „weil er zwar auch mal klar Stellung bezieht, aber das Haus auch an Veranstaltungen wie den Friedenspreis vermietet.“

Der jährlich von einem Verein vergebene Bautzner Friedenspreis ist umstritten: Mal bekommen ihn unverdächtige soziale Projekte, mal Anhänger der Neuen Rechten. 2019 war der Geehrte der abgedriftete CDU-Politiker Willy Wimmer. Bauunternehmer Drews unterstützt die Initiative. Hillmann sagt, auch sein Haus müsse wirtschaftlich arbeiten. Eine öffentliche Distanzierung von Drews lehnt er ab. Er stimme mit ihm in vielem nicht überein, „aber Drews hat eine Lebensleistung, das muss erst mal einer machen. Er hätte sonst wohin gehen können, ist aber einer der größten Arbeitgeber hier, einer, der mit Bautzen denkt.“

Scheu vor politischer Verantwortung

Hillmann wurmt das schlechte Image seiner Stadt. „Bautzen ist stigmatisiert, und das verletzt“, sagt er. Grundlos seien die Vorwürfe aber nicht, er selbst hat „eindeutig rechts“ orientierte Jugendliche mit Quarzhandschuhen durch die Stadt ziehen sehen. „Da kommt so ne Truppe aus zwölf, 15 Männern, aggressionsbereit – das ist schon mal ein Eindruck. Und ich kann dann auch nicht mehr hören: Das gibt es hier nicht!“ 

Er meint die Wagenburg-Mentalität der Bautzner: „Es würde Bautzen gut tun, die Differenziertheit, die Komplexität des Ganzen anzuerkennen.“ Besonders nervt ihn an den Menschen im Osten die Scheu vor politischer Verantwortung. „Wo lassen sie sich denn zu Bürgermeistern wählen? Ist doch bequemer, in der Deckung zu bleiben und über das zu meckern, was andere tun“, sagt er.

„Uns fällt die Politik auf die Füße“

Eine, die nicht nur meckert, sondern anpackt, ist Astrid Riechmann. Die 59-Jährige ist Diplomingenieurin für Verfahrens- und Silikattechnik, arbeitete mehr als 20 Jahre in sächsischen Elektronik-Unternehmen. Seit 2015 engagierte sie sich ehrenamtlich in der Flüchtlingshilfe, 2018 kündigte sie ihren Job und ist nun Geschäftsführerin des Vereins „Willkommen in Bautzen“, der Sprach- und Integrationskurse für Flüchtlinge organisiert und Berührungsängste zwischen Bautznern und Migranten abbauen will. In den kleinen Laden in der abschüssigen Schülerstraße hinter dem Dom kommen Syrer, Afghanen, Kurden, Frauen mit und ohne Kopftuch, Junge und Alte.

Riechmann ist resolut, aber auch skeptisch. Es arbeitet in ihr. Mehrfach erlebte sie, dass muslimische Frauen kein Deutsch lernten, wenn sie dies zusammen mit Männern tun sollten, weil sie sich nicht zu Wort trauten. Das Bildungsniveau vieler Flüchtlinge sei lange nicht das, was es auf dem Papier verspreche. An die Sprachkurse müsse man ganz anders herangehen als von der Politik vorgegeben: „Nicht Syrer und Afghanen zusammen unterrichten, nicht Analphabeten zusammen mit denen, die schreiben und lesen können, nicht Frauen und Männer gemeinsam.“ 

„Warum hat man im Osten nicht versucht, die Integration anders zu gestalten als im Ruhrgebiet, wo eine Schattengesellschaft zugelassen wird?“, fragt sie. Mafiöse Strukturen, bei denen Flüchtlinge von anderen Flüchtlingen abhängig seien, habe man längst auch hier. „Wir versuchen unser Bestes, aber uns fällt die Politik auf die Füße“, sagt sie. Sie klingt dabei kämpferisch. Dass Bautzner lieber AfD wählen, anstatt sich zu engagieren oder sich klar gegen rechts zu positionieren, ist für sie ein Kernproblem der Stadtgesellschaft: „Mittlerweile wird vielen klar, dass wir ein rechtsextremes Problem haben. Doch die bürgerliche Mitte sagt nichts.“ 

Rechte Landnahme?

In diesem Sommer streiten die Bautzner über die Nachricht, dass der neurechte Rapper Chris Ares hier ein Tattoo-Studio und einen Jugendtreff eröffnen wolle – nur wenige Schritte von Riechmanns Verein entfernt. Ares, den der bayrische Verfassungsschutz als rechtsextrem einstuft, erhält in lokalen Facebook-Gruppen viel Sympathie von den Bautznern. Daran ändert auch nichts, dass die Vermietung eines Ladengeschäfts an Ares im letzten Moment platzt. Ares soll sich jetzt in einem Dorf in der Umgebung niedergelassen haben.

Das Hotel Husarenhof brannte 2016 aus.
Dort sollten Flüchtlinge untergebracht
werden / Anja Lehmann

Rechte Aktivisten wie Ares wollen Bautzen als Kulisse für ihre Zwecke nutzen. Ähnlich ergeht es regelmäßig der verkohlten Ruine des Husarenhofs, der 2016 brannte: In den Medien wird er gerne als Symbolbild für die rechtsextreme Gewalt in Sachsen benutzt. Eine Untersuchung der sächsischen Polizei konnte bisher weder eine rechtsextreme Straftat noch ein anderes Motiv ermitteln. Selbst Schmidt räumt ein: „Ich glaube mittlerweile auch, dass der Brand nicht rechts motiviert gewesen sein könnte, sondern eher Versicherungsbetrug oder Ähnliches.“

Der Husarenhof ist also nur ein vermeintliches Sinnbild, das bei genauerem Hinsehen eine andere Geschichte erzählt.

Das Kapitel „Landkreis Bautzen“ im sächsischen Verfassungsschutzbericht liest sich dramatisch: 2018 zählten die Verfassungsschützer hier 250 bis 300 Personen aus der rechtsextremistischen Szene. Es gibt Ansiedelungsprogramme von Neonazis in der Oberlausitz, linke Aktivisten sprechen angesichts von Ares’ Ankunft von „rechter Landnahme“. 

Demokratie in Bewegung

Doch was mir bei meinen Gesprächen in Bautzen auffällt – egal, mit wem ich mich unterhalte: Die Menschen betrachten die Lage differenziert, selbstkritisch. Sie sind sich einig, dass die Stadtgesellschaft zu viel schweige, die Sprachlosigkeit untereinander hausgemacht sei. Die Empörung vieler Journalisten über meine angeblich nach rechts entglittene Heimatstadt kann ich nicht teilen. Ich sehe Menschen, die aufgrund ihrer eigenen Erfahrungen Gewissheiten infrage stellen, herausfordern bis zur Schmerzgrenze. Ich sehe Demokratie in Bewegung.

Bürgermeister Ahrens ist einer, der den Dialog sucht. Astrid Riechmann schätzt ihn dafür – und auch dafür, dass er sich gegen rechts positioniert. „Aber er ist kein Moderator“, sagt sie, „und er hat die Stadtverwaltung nicht hinter sich.“

Ahrens redet gern, über Bautzen, über sich: Massive Polizeipräsenz und eine von ihm ins Leben gerufene Sicherheitsrunde mit allen Ressorts der öffentlichen Verwaltung hätten Bautzen ruhiger gemacht. Er hat es sich aber auch mit vielen Bautznern verdorben, als er einen FDP-Stadtrat wegen Verleumdung verklagte und 2017 erneut in die SPD eintrat, wo er doch als Parteiloser angetreten war. 
Ahrens scheint es an Vermittlerqualitäten zu fehlen, die bei der Gemengelage in Bautzen notwendig wären. Welche Unzulänglichkeiten sieht er selbst an sich? „Ich bin bei Themen zu emotional, den Vorwurf muss ich mir gefallen lassen. Mehr Sachlichkeit würde die Sache besser befördern.“ Es klingt so wie das, was er Annalena Schmidt ankreidet: „Sie ist mutig, hat aber mehr kaputt gemacht, als sie aufbaut. Und beim Thema Toleranz muss sie noch üben.“ 

Intoleranz und Sich-Bedeckt-Halten

Schmidt räumt ein, dass sie als Identifikationsfigur für linke Kreise diene, eine Rolle, auf die sie nicht immer Lust habe. Aber sie hat eine Mission: Als Historikerin, die zehn Jahre zur Shoa geforscht habe, wolle sie nie wieder, „dass Menschen in Deutschland aufgrund ihrer Religion, ihres Glaubens, ihrer Sexualität oder ihrer Herkunft getötet werden und Nachteile bekommen“. Wie aber steht sie zur Ausgrenzung der Menschen, die sich politisch anders positionieren? Im Stadtrat etwa werden Anträge der AfD-Fraktion von Grünen und Linken abgelehnt, selbst wenn es um eine neue Bushaltestelle geht. 

Schmidt ist da eindeutig: „Wer eine Partei wählt, zu der es Unvereinbarkeitsbeschlüsse der anderen Parteien gibt, muss sich nach der Wahl nicht wundern, dass sie nicht beteiligt werden.“ Dieses Demokratieverständnis, das pauschal bestimmte Spektren ausschließe, stößt Bauunternehmer Drews auf, der wie Schmidt im Stadtrat sitzt: „Heute sagt man: Der ist undemokratisch, ohne es irgendwie zu begründen.“ Aber gerade die Auseinandersetzung, das Finden des Kompromisses, der alle Seiten berücksichtigt, mache doch Demokratie aus. „Ohne den Kompromiss“, ist Drews überzeugt, „gibt es keine lebendige Demokratie mehr.“

Straßenszene im Bautzener Stadtteil
Gesundbrunnen / Anja Lehmann

Mit Drews ins Gespräch zu kommen, ist nicht einfach. Mit Medien hat er schlechte Erfahrungen gemacht. Wenn er einem dann gegenübersitzt, im kühlen Ambiente eines Konferenzraums in seiner Unternehmenszentrale, entsteht der Eindruck, dass die Differenzen in der Stadt auch einfach ein Generationenkonflikt sein könnten. 

Drews sagt, die besten Jahre nach der Wiedervereinigung seien die Neunziger gewesen. Er war in seinen Dreißigern, baute ein Unternehmen auf. „Da waren wir voller Euphorie, haben die Möglichkeiten genutzt, Reisefreiheit, Austausch – und mussten dann zehn Jahre später feststellen, dass sich etwas entwickelt, was wir so nicht erwartet hatten.“ Er meint die Finanzkrise, Europas Weg hin zu einer Schulden-Union, das Abdriften der CDU nach links. Drews ist ein Konservativer, der sich nach alten Zeiten sehnt und den Kontakt zur politisch aktiven Jugend verloren zu haben scheint.

„Ich würde mir wünschen“, sagt er, „dass die Jugend mehr sagt, was sie will – aber die jungen Leute, die das formulieren können, sind weggegangen, während der andere Teil eine Rolle eingenommen hat, wie wir sie aus der DDR kennen: Bleib ruhig, äußere dich nicht, sonst eckst du nur an.“ 

Bautzen in einem neuen Licht

Nun ist es nicht so, dass die Bautzner sich gar nicht äußerten. Viele von ihnen wählen, so wie Tilo Schütze, die AfD. Wäre er denn bereit, sich über Wahlen hinaus politisch zu engagieren? Da winkt er ab. Das Privatleben beschäftige ihn schon genug.

„Nicht jeder, der sagt, es sind jetzt genug Flüchtlinge, ist ein Nazi“, gibt Annalena Schmidt zu. Aber sie sieht die Bautzner, wie auch alle anderen Menschen in Deutschland, in der Pflicht, sich politisch zu bilden und mit gesellschaftlichen Fragen auseinanderzusetzen. 

Was aber sollten ihrer Meinung nach Menschen wie Tilo Schütze tun? Er gibt seinem Protest ja Ausdruck, wird als AfD-Wähler aber verächtlich gemacht. „Ihren Protest auf die Straße tragen oder eben eine demokratische Partei gründen, die ihre Interessen vertritt, ohne rassistische und teilweise auch staatsgefährdende Aspekte“, antwortet Schmidt.

Ist ihre Argumentation konsequent, gerade vor ihrem Anspruch, niemanden aus der Gesellschaft ausschließen zu wollen? Soll in Deutschland nur der vor Diskriminierung geschützt und in gesellschaftliche Teilhabe eingeschlossen sein, der politisch aktiv ist? 

Annalena Schmidt wird diesen Fragen künftig woanders nachgehen. Sie wird Bautzen im Oktober verlassen – nicht aus Sorge, sondern um näher an ihrem neuen Arbeitsplatz zu wohnen. Sie bleibt aber in Sachsen. Jörg Drews würde in Bautzen gern eine Veranstaltungshalle bauen, um die Stadt künftig attraktiver zu machen. Und Alexander Ahrens will sich bei der Oberbürgermeisterwahl im Jahr 2022 erneut zur Wahl stellen. 

Ich selbst überlege, ob es nicht an der Zeit ist, Bautzen die Verletzungen aus meiner Jugend zu verzeihen. Es ist, trotz allem, ganz schön hier.

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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