RAF Anwälte - Verteidiger, Verführer, Menschenfänger

Ohne die Rechtsanwälte der ersten RAF-Generation hätte es die zweite Generation nicht gegeben – und auch nicht das deutsche Terrorjahr 1977

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Der Star der Prozessanwälte ist Otto Schily. Rhetorisch brillant, schlagfertig, souverän/ picture alliance
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Dr. Butz Peters ist Publizist und Rechtsanwalt in Dresden. Er ist einer der führenden deutschen Experten zur Geschichte der RAF und hat mehrere Bestseller zum Thema Innere Sicherheit geschrieben.

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Den Bundestagsabgeordneten Hans-Christian Ströbele kennt die Öffentlichkeit seit vielen Jahren als hartnäckigen Aufklärer. Geht es um die Arbeit der Geheimdienste, um tatsächliche oder vermeintliche Verfehlungen von Verfassungsschutz, BND oder NSA, ist der Grünen-Politiker immer einer der Ersten, der einen „Skandal“ wittert, „Aufklärung“ fordert und „umfassende Akteneinsicht“ verlangt. Geht es um eigene Verfehlungen, ist Ströbele sehr viel wortkarger. Seine Verstrickung in den RAF-Terror redet er klein, eine zehnmonatige Bewährungsstrafe erklärt er mit seinem „Einsatz als Verteidiger für die Gefangenen aus der RAF“.

Dabei fand das Landgericht Berlin 1982 deutliche Worte. Es verurteilte Hans-Christian Ströbele wegen „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ zu zehn Monaten Freiheitsstrafe – ausgesetzt zur Bewährung –, weil der Rechtsanwalt von Juni 1973 bis Mai 1975 die RAF-Gruppe unterstützt hatte. Ein „besonders schwerer Fall“ von Unterstützung, urteilte die 10. große Strafkammer, da die von Ströbele unterstützte Vereinigung darauf ausgerichtet gewesen sei, „Straftaten des Mordes und Sprengstoffdelikte zu begehen“. Es fehlte nicht viel, und Ströbele hätte vor dem Landgericht Berlin auch seine Anwaltszulassung verloren. „Hätte das Verfahren nach Eingang der Anklageschrift beschleunigt durchgeführt werden können, wäre durch Urteil ein Berufsverbot gegen den Angeklagten zu verhängen gewesen“, heißt es in dem unveröffentlichten Strafurteil, auf das der Autor nach intensiven Recherchen stieß. „Dabei ist insbesondere zu berücksichtigen, dass der Angeklagte mit der festgestellten recht erheblichen Straftat seine Verteidigerrechte als Rechtsanwalt in besonders einschneidender Weise missachtet hat.“ 

Wesentliche Unterstützung des RAF-Postsystems

40 Jahre nach dem Deutschen Herbst schärft das bislang unbekannte Ströbele-Urteil, aus dem Cicero erstmals Auszüge veröffentlicht, den Blick auf die RAF-Anwälte und ihre Rolle in der Geschichte des Linksterrorismus. Ohne die Hilfe von Ströbele und seinen Kollegen hätte die RAF in der Haft nicht fortbestanden. Ohne sie hätte es die zweite Generation der RAF nicht gegeben – und auch nicht das deutsche Terrorjahr 1977, in dem zehn Menschen von der RAF getötet wurden, darunter Generalbundesanwalt Siegfried Buback, Dresdner-Bank-Chef Jürgen Ponto und Arbeitgeberpräsident Hanns Martin Schleyer. 

Im Sommer 1972 saß ein Großteil der ersten RAF-Generation im Gefängnis. Andreas Baader, Holger Meins und Jan-Carl Raspe waren am 1. Juni 1972 festgenommen worden, Gudrun Ensslin am 7. Juni 1972, Brigitte Mohnhaupt am 9. Juni 1972, Ulrike Meinhof am 15. Juni 1972, Klaus Jünschke und Irmgard Möller am 7. Juli 1972. Im März 1973 begannen die inhaftierten RAF-Mitglieder klandestin miteinander zu kommunizieren und zu diskutieren. Die Initiative ging von Andreas Baader aus. In einem Kassiber verlangte der Chef der ersten RAF-Generation den Aufbau eines Knast-Postsystems. Es entstand das „info“. Baader träumte davon, draußen Gesinnungsgenossen zu mobilisieren, die ihn befreien. Das „info“ ermöglichte in diesem Sinne den Gedankenaustausch von Zelle zu Zelle und auch mit Unterstützern draußen. So konnten die RAF-Häftlinge eine gemeinsame Linie festlegen.

Die „info“-Postzentrale war im Haus von Rechtsanwalt Kurt Groenewold an der Osterstraße 120 in Hamburg untergebracht. Drei Mitarbeiter waren mit dem Umpacken der Papiere beschäftigt. Die Pakete, bis zu 60 Seiten dick, wurden als Verteidigerpost in die Gefängnisse geschickt (sie unterlag damals noch nicht der Postkontrolle) oder von den Anwälten transportiert. 

Bewährungsstrafen für Ströbele und Croissant

Im Sommer 1975 wird der Rechtsanwalt Ströbele festgenommen. Er habe „laufend fast sämtliche Angehörige der Baader-Meinhof-Gruppe in den Haftanstalten“ besucht, heißt es in dem Haftbefehl des Amtsgerichts Berlin-Tiergarten vom 22. Juni 1975 – vier Wochen lang sitzt er wegen des Verdachts der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung und Verdunklungsgefahr in Untersuchungshaft. Wie Ströbele müssen sich auch zwei weitere RAF-Anwälte für das „info“ vor Gericht verantworten. Beide werden wegen „Unterstützung einer kriminellen Vereinigung“ in einem besonders schweren Fall verurteilt – Kurt Groenewold 1978 zu zwei Jahren auf Bewährung; Klaus Croissant 1979 zu einer Freiheitsstrafe von zweieinhalb und vier Jahren Berufsverbot als Rechtsanwalt. 

Heute erklärt Ströbele auf seiner Homepage: Das Infosystem sei eingerichtet worden „als Hilfsmittel, um die gemeinsame Verteidigung, die damals noch gesetzlich zulässig war, gegen eine gemeinsame Anklage der Gefangenen aus der RAF und ihren zahlreichen Verteidigern zu koordinieren und zu organisieren“. Tatsächlich jedoch lässt sich die Rolle Ströbeles und des Anwaltstrios im Infosystem der RAF-Häftlinge im Lichte der heutigen Erkenntnisse wohl am treffendsten so charakterisieren: Ströbele war eine Art Postbote der RAF, sein Anwaltskollege Groenewold Chef der Postsortierer. 

Strafminderung für Ströbele

Dass das Verfahren gegen Ströbele so lange dauerte, lag unter anderem daran, dass sowohl Ströbele als auch die Staatsanwaltschaft 1981 Revision gegen das erste Urteil des Landgerichts Berlin eingelegt hatten. Der Bundesgerichtshof bestätigte Ströbeles Schuldspruch, hob aber das Strafmaß von einem Jahr und sechs Monaten zur Bewährung auf. Der Grund: Das Landgericht hatte Ströbele im ersten Durchgang auch deshalb verurteilt, weil er „Prozesserklärungen“ von RAF-Mitgliedern an andere weitergeleitet hatte. Nicht strafbar, urteilt der Bundesgerichtshof 1982: Die Weiterleitung von Erklärungen Angeklagter im Prozess, mit denen sie „das politische Selbstverständnis“ erläutern, sei „noch – strafrechtlich erlaubte – Verteidigung“, entscheidet Karlsruhe. Denn was ein Angeklagter im Prozess sagen dürfe, könne nicht bei Weitergabe bestraft werden. 

In anderen Punkten bestätigt der Bundesgerichtshof Ströbeles kriminelle RAF-Unterstützung: So hätte der unter seiner Beteiligung erfolgte Aufbau und Betrieb des RAF-Nachrichtensystems „das info“ zur „Fortsetzung der kriminellen Bestrebungen der Vereinigung“ gedient; ebenso um „die Fortsetzung des bewaffneten Kampfes“ vorzubereiten. Auch sprach der BGH Ströbele schuldig, weil er eine von Ulrike Meinhof im Gerichtssaal vorgetragene „Hungerstreikerklärung“ ins „info“ gegeben hatte. Die Hilfe bei der Durchführung eines Hungerstreiks, „der dem Ziel dient, den Zusammenhalt einer in der Haft bestehenden kriminellen Vereinigung aufrechtzuerhalten und die Fortsetzung ihres Kampfes zu sichern“, erfülle den Tatbestand der Unterstützung einer kriminellen Vereinigung, befindet das höchste Strafgericht der Bundesrepublik. Nach diesen Hinweisen aus Karls­ruhe verurteilte das Landgericht Berlin Ströbele im „zweiten Durchlauf“ am 9. Juli 1982 zu zehn Monaten auf Bewährung. 

Die Folterkampagne

Doch das Infosystem der RAF-Häftlinge, das von den Anwälten so eifrig organisiert wird, dient nicht nur der Kommunikation. Die RAF nutzt diesen Kanal auch dazu, neue Sympathisanten zu rekrutieren. Dazu ersinnt die RAF die Folterkampagne. 

Aus den Gefängnissen heraus teilen die Häftlinge mit, sie würden gefoltert. Grundtenor der Schreiben: Wir sterben, wenn ihr uns nicht helft. Ulrike Meinhof spricht vom „Foltercharakter der Isolationshaft“. „Meine auschwitzphantasien darin waren, kann ich nur sagen, realistisch“, kassibert sie über den „toten trakt“ in der Justizvollzugsanstalt Köln: „ich habe mich ziemlich lange gewehrt, das folter zu nennen, weil ich immer dachte, die tupas [Tupamaros, Guerillabewegung in Uruguay], die sie fixen, würden immer noch sofort mit mir tauschen, bis ich begriffen habe, dass das ja nur ’ne frage der zeit, von monaten ist.“ Bevorstehe die „liquidation der antiimperialistischen linken, wie der neue faschismus sie vorhat“, teilt Meinhof ihren Anhängern draußen mit. Und Gudrun Ensslin schreibt: „Unterschied toter Trakt und Isolation: Auschwitz zu Buchenwald, der Unterschied ist einfach: Buchenwald haben mehr überlebt als Auschwitz.“ 

Die Saat fällt draußen auf fruchtbaren Boden. In 23 Städten entstehen „Komitees gegen die Isolationsfolter“ mit insgesamt 450 Mitgliedern. Deren Ziel ist es, eine breite Öffentlichkeit gegen die Haftbedingungen der RAF-Häftlinge zu mobilisieren. Sie demonstrieren, verteilen Broschüren wie „Die Systematik der Folter“ und „Der Kampf gegen die Vernichtungshaft“ oder organisieren Infoveranstaltungen. Ihr zentrales Argument für die Rekrutierung ist das moralische Postulat, alles zu tun, damit nicht wieder Häftlinge wie im Dritten Reich ermordet werden. Die Strategie der Komitees formuliert dessen Vordenker Christian Sigrist, Soziologieprofessor in Münster: Aufgabe aller demokratischen Kräfte sei es, „diese mit den Blutmalen des Faschismus befleckte Justiz daran zu hindern, die Vernichtungsstrategie der herrschenden Klasse zu Ende zu führen und an diesen antiimperialistischen Kämpfern ein Exempel zu statuieren.“

Vom Folterkomitee zur RAF-Helferszene

Der Sympathiefeldzug für die RAF würde ohne die Anwälte nicht funktionieren. In der straff organisierten Kampagne agieren sie als politische Verführer und begnadete Menschenfänger. Groenewold, Ströbele und andere reisen durch die Republik, berichten auf Veranstaltungen der RAF-Freundeskreise von den „Torturen“, die Baader und seine Genossen in ihren Zellen ertragen müssten. Sie sprechen mit schmerzverzerrtem Gesicht und hungerleidendem Blick. 

Eine, die ihnen glaubt, ist Susanne Albrecht. Die Pädagogikstudentin aus einer großbürgerlichen Familie ist 22 und kann mit den Idealen ihres Elternhauses nahe der Elbchaussee nichts anfangen. Sie betreut milieugeschädigte Kinder. Ihr Herz schlägt für die Benachteiligten. Sie schließt sich dem Hamburger Folterkomitee an und engagiert sich mit großer Hingabe. Sie kämpft für bessere Haftbedingungen der „politischen Gefangenen“ im Allgemeinen und im Besonderen für die Freilassung „der Gefangenen aus der RAF“. Bald hilft Albrecht im Büro des Hamburger Rechtsanwalts Kurt Groenewold, er ist der Steuermann des Komitees in der Hansestadt. Für Albrecht ist es ein Fulltime-Job, und vom Folterkomitee zur RAF-Helferszene ist es nun nicht mehr weit. Susanne Albrecht stiehlt Ausweise und Kfz-Papiere. 

Die Amnesty-International-Besetzung

Einer der Höhepunkte der Folterkampagne ist die Besetzung des Büros von Amnesty International in Hamburg. 32 RAF-Sympathisanten stürmen am 24. Oktober 1974 die Räume in Groß Flottbek. Sie kritisieren, dass Amnesty – weltweit im Einsatz für die Menschenrechte – nichts gegen die „Folter“ in deutschen Gefängnissen unternimmt, verlangen die „Abschaffung der Sonderbehandlung und der Vernichtungshaft“ von Baader, Meinhof & Co. 

Die Aktion ist ein Stelldichein künftiger RAF-Mitglieder, unter den Besetzern befindet sich ein Dutzend junger Menschen, die schon bald zur zweiten RAF-Generation gehören: Lutz Taufer, Bernhard Rößner und Karl-Heinz Dellwo überfallen ein halbes Jahr später die deutsche Botschaft in Stockholm, um 26 RAF-Häftlinge freizupressen. Knut Folkerts, Willy Peter Stoll, Günter Sonnenberg, Adelheid Schulz, Christian Klar, Monika Helbing und Stefan Wisniewski stoßen zur „Offensive 77“. Roland Mayer wird im November 1976 festgenommen – in seinem Wagen liegt der „Fahrplan“ für die „Offensive 77“: 132 Blatt Papier. 

Die unterschiedlichen Anwaltstypen

Für Andreas Baader waren die RAF-Verteidiger von Anfang an nicht nur Rechtsbeistände. Aufgenommen in die Riege wurde nach seinen Vorgaben nur, wer sich „auf unsere konzeption zur verteidigung einlässt zu unseren bedingungen“. Ein „unabhängiges Organ der Rechtspflege“, wie es die Rechtsanwaltsordnung bestimmt, akzeptierte die RAF-Ideologie nicht. Die Anwälte fügten sich, für sie war es Ausdruck linker Solidarität, die RAF-Mitglieder zu verteidigen. Sie waren jung und genossen die öffentliche Aufmerksamkeit. Ihre Opferbereitschaft war groß. Facettenreich spielten sie verschiedene Rollen. Nicht wenige übernahmen Aufgaben, die das Weiterleben der Terrorgruppe ermöglichten. Vier Grundtypen lassen sich in der Riege der RAF-Anwälte unterscheiden: 

•    Die Prozessanwälte: Der Star unter ihnen ist Otto Schily. Rhetorisch brillant, schlagfertig, souverän. Hart in der Sache. Aber niemand käme auf die Idee, dass er sich mit den politischen Zielen seiner Mandantin Gudrun Ensslin identifiziert. Doch sein geschliffener Vortrag vermittelt RAF-Sympathisanten den Eindruck, der „bewaffnete Kampf“ sei legitim. Ähnlich argumentiert sein Kollege Axel Azzola. Er verlangt, Baader & Co. als „Kriegsgefangene“ anzuerkennen und deshalb freizusprechen. 

•    Die Propagandisten: Prototyp ist Klaus Croissant. Einst bekennender FDP-Sympathisant und gefragter Scheidungsanwalt des Stuttgarter Establishments. Mit dem Habitus des gestandenen Anwalts wird er zu einer Art PR-Chef der RAF. Den Bundesgerichtshof nennt er „einen braunen Gangsterhaufen“. Auch Hans-Christian Ströbele gehört zu den Propagandisten.

•    Die Laufburschen: Armin Newerla und Arndt Müller sind für den Transport von Kassibern und sonstigen Gegenständen zuständig – von und nach Stammheim. Sie bilden die Brücke zum Untergrund. Sie schmuggeln mit der Anwaltspost auch Sprengstoff, Munition, Radios und Kameras nach Stammheim – sowie die Pistolen, mit denen sich Baader und Raspe im Oktober 1977 erschießen. 

•    Die Mitkämpfer: Das schwärzeste Schaf ist Siegfried Haag, Baaders Vertrauensanwalt. Er beschafft Waffen für den RAF-Überfall auf die Botschaft in Stockholm 1975, taucht ab und wird Spiritus Rector der Offensive 77. 

Genialer Mobilisierungsschachzug

Wegen RAF-Straftaten verurteilen deutsche Gerichte insgesamt acht Rechtsanwälte. RAF-Mitbegründer Horst Mahler bekommt 14 Jahre. Haag wird zu 15 Jahren Freiheitsstrafe wegen „fortgesetzter Beihilfe zum Mord“ verurteilt. Jörg Lang, der Sozius von Croissant und ebenfalls Vertrauensanwalt von Baader, taucht kurz vor Beginn seines eigenen Strafverfahrens 1974 ab. Seine letzten Worte in seiner letzten Erklärung vor seinem Verschwinden: „FREIHEIT FÜR DIE RAF“.

Der Foltervorwurf, an dem viele RAF-Anwälte eifrig mitstricken, ist ein genialer Mobilisierungsschachzug. Die RAF propagiert aus der Haft heraus nicht mehr die Revolution, sondern macht sich selbst zum Thema, stilisiert sich zu Opfern, die akut von der „Vernichtung“ bedroht sind. Die Kampagne hat zwei strategische Ziele. Zum einen soll sie die ins Auge gefasste brutale Befreiungsaktion rechtfertigen, zum anderen Sympathisanten und Unterstützer akquirieren. Der Foltervorwurf zielte darauf, „die Linke in der Bundesrepublik moralisch zu erpressen und Faschismus vorzutäuschen, um die brutalisierten Kampfformen der RAF zu legitimieren“, erklärt Horst Mahler schon 1978.

Die Lüge von der Isolationshaft

Tatsächlich jedoch ist der Foltervorwurf nichts anderes als eine dreiste Propagandalüge. Gefoltert wurde kein einziger RAF-Häftling. Einige von ihnen, etwa Ulrike Meinhof, Gudrun Ensslin und Astrid Proll, saßen über Monate in strenger Einzelhaft. Eine Reaktion der Justiz darauf, dass die Gefangenenbefreiung erklärtes Ziel des „bewaffneten Kampfes“ ist. Und darauf, dass Baader, der 1970 gewaltsam aus der Haft befreit wurde, bereits wieder an Befreiungsplänen arbeitet. Aber in ihren Zellen haben die Häftlinge Radios, Schreibmaschinen, Zeitungen und Literatur. Sie bekommen zahlreiche Besuche von Rechtsanwälten und Verwandten. Mehr als Untersuchungshäftlinge üblicherweise. So erhielt etwa Ulrike Meinhof innerhalb der ersten neun Monate nach ihrer Festnahme im Sommer 1973 insgesamt 48 Besuche. Die meisten RAF-Häftlinge durften ihre Runden im Gefängnishof jeweils zusammen mit anderen Häftlingen drehen. Aber das lehnen sie ab, weil dadurch der „Isolationsfolter“-Vorwurf entlarvt worden wäre. 

Die Europäische Kommission für Menschenrechte in Straßburg weist die „Isolationsfolter“-Beschwerde der Stammheim-Häftlinge 1978 denn auch als „offensichtlich unbegründet“ zurück. Und als Ministerialdirigent Kurt Rebmann, der spätere Generalbundesanwalt, das einzige Mal in seinem Leben auf Andreas Baader trifft, im Frühjahr 1977 in Stammheim, will er wissen: Was ist dran am „Vorwurf der Folterhaft“? „Ne, ne, der Vorwurf der Folter“, grinst der RAF-Kopf, „ist nicht wörtlich zu nehmen. Wir sehen das eher sportlich.“ 

Der Tod von Holger Meins

Zwei Wochen nach der Amnesty-Besetzung in Hamburg stirbt Holger Meins am 9. November 1974 in der Justizvollzugsanstalt Wittlich an den Folgen eines Hungerstreiks. Auf seinen Tod folgt die größte Mobilisierungswelle in der RAF-Geschichte. Wieder sind die Anwälte eine treibende Kraft: Öffentlichkeitswirksam benennen sie die aus ihrer Sicht „Schuldigen“: „Die Verantwortung für den Tod durch langsames Verhungernlassen trägt nicht nur der Anstaltsarzt“, erklärt Siegfried Haag am nächsten Abend in der „Tagesschau“, „sondern auch der Richter, der die Haftbedingungen bestimmt.“ Auf einer Pressekonferenz in Stuttgart verkündet Otto Schily, „dass die im Hungerstreik befindlichen Gefangenen in Raten hingerichtet werden“. Er kritisiert die „Verwesung bei lebendigem Leibe“ und die „Verschleierung der Isolation“. Die Mobilisierung funktioniert: Durch Frankfurt ziehen Hunderte Demonstranten mit der Forderung: „Schluss mit den Gefangenenmorden“. Vorneweg tragen sie zwei vier Meter hohe Plakate. Auf dem einen ist die Leiche von Meins zu sehen. Auf dem anderen das Foto eines nackten KZ-Häftlings.

Der Tod von Holger Meins ist das Schlüsselerlebnis für die 23-jährige Susanne Albrecht auf dem Weg in den Untergrund – und für alle anderen künftigen RAF-Mitglieder. Er führt bei vielen zu einem Radikalisierungsschub. Der Tod des 33-Jährigen sei für sie „das Schlimmste“ gewesen, sagt sie später: „Diese gesamte Situation führte in meinem Bewusstsein zu einer Eskalation, zu einer ohnmächtigen Wut, ja man könnte sagen, zu Hass.“ Für Stefan Wisniewski, keine drei Jahre später Chef des RAF-Kommandos, das in Köln die vier Begleiter von Arbeitgeberpräsident Schleyer ermordet und ihn entführt, ist Meins’ Tod das „Überschreiten einer Schwelle“. Die Organisation des Meins-Begräbnisses ist für ihn die „letzte legale politische Tätigkeit“. Anschließend taucht er ab.

Perfide Strategie

Holger Meins wurde von Baader, Ensslin & Co. geopfert: Sie schickten ihn in den Tod, um die Mobilisierung draußen voranzutreiben – und damit ihre eigene Befreiung: „ich denke, wir werden den hungerstreik diesmal nicht abbrechen“, hatte Baader seine Genossen über das „info“ vor Beginn dieses dritten RAF-Hungerstreiks im September 1974 auf den mörderischen Kurs eingenordet: „D. h. es werden typen dabei kaputt gehen.“

Nach zwei Monaten politischem Fasten ist der 33-jährige Holger Meins besonders gefährdet: Nur noch 40 Kilo wiegt er – bei 1,83 Meter. Zwei Tage vor seinem Tod stachelt ihn Gudrun Ensslin an: „runter: ticken, dass es geschichte ist … du bestimmst, wann du stirbst. freiheit oder tod.“ Im Klartext: Meins solle mit dem Gewicht weiter „runter“ gehen. Er möge die historische Dimension seines Todes erkennen. Das tut er. Er stirbt, weil er nichts isst – nicht, weil er nichts zu essen bekam. 

Das Kalkül geht auf, auch die Anwälte stoppen den Irrsinn nicht. Endlich haben Baader und Ensslin ihren Märtyrer. Die Gruppe von sechs RAF-Neueinsteigern, die ein halbes Jahr später die deutsche Botschaft in Stockholm überfällt, 13 Botschaftsangehörige als Geiseln nimmt und zwei von ihnen erschießt, nennt sich – „Kommando Holger Meins“. 

Anwälte machen weiter Karriere

Einer Reihe von RAF-Anwälten schadete ihre Verstrickung nicht. Zwei Jahrzehnte nach dem Deutschen Herbst ist Otto Schily Bundesinnenminister, Rupert von Plottnitz stellvertretender hessischer Ministerpräsident und Axel Azzola Staatssekretär in Mecklenburg-Vorpommern. Kurt Groenewold ist ein unter Künstlern angesehener Rechtsanwalt, dazu verwaltet er in Hamburg ein umfangreiches Familienvermögen. Jörg Lang lebte acht Jahre im Libanon und tauchte 1982 just in dem Moment wieder auf, als seine Verjährungsfrist verstrichen war.

Ihre eigene Rolle im Netzwerk der RAF verharmlosen einstige Verteidiger bis heute. Zur Aufklärung tragen sie wenig bei. Auch der Oberaufklärer Hans-Christian Ströbele nicht. Das Urteil in eigener Sache liegt ihm seit über drei Jahrzehnten vor, er hätte seitdem jede Chance gehabt, es zu veröffentlichen oder an einer Veröffentlichung mitzuwirken. Wenn Ströbele auf seine Jahre als RAF-Verteidiger zurückblickt, schleicht er wie eine Katze um den heißen Brei herum, an den Fakten formuliert er wortreich vorbei. 

Keine Reue

Auf seiner Homepage wehrt er sich zwar gegen „falsche Informationen“ über seine „Tätigkeit als Strafverteidiger der RAF“. Aber auch dort präsentiert er nicht die historischen Tatsachen. Stattdessen verliert er sich auf Nebenkriegsschauplätzen, breitet historische Belanglosigkeiten aus. So schreibt er beispielsweise, dass ein Ehrengerichtsverfahren gegen ihn gescheitert sei, das Ehrengericht „keine schweren Verstöße gegen meine Pflichten als Rechtsanwalt“ hätte „feststellen können“. So hätte er den „Beruf als Rechtsanwalt und Strafverteidiger von 1969 bis heute ununterbrochen ausgeübt“.

Zur Wahrheit würde aber auch gehören, dass gegen ihn ein vorläufiges Berufsverbot von mehr als zwei Jahren bestand, von Oktober 1977 bis Januar 1980 – bezogen „auf die Verteidigung von Staatsschutzsachen“. Und ebenso gehört zur Wahrheit, dass das Landgericht 1982 über Ströbele urteilt: „Ohne die festgestellte schwerwiegende Verletzung der Pflichten des Angeklagten als Strafverteidiger (im Zusammenspiel mit seinen Mittätern) wäre der festgestellte Zusammenhalt der RAF-Gruppe als kriminelle Vereinigung nicht möglich gewesen.“ Das heißt: Ohne die Hilfe Ströbeles und seiner Kollegen hätte die RAF in der Haft nicht fortbestanden, das Jahr 1977 wäre nicht als Terrorjahr in die bundesdeutsche Geschichte eingegangen. 

Was Hans-Christian Ströbele damals getan hat, findet er bis heute offenbar völlig in Ordnung. Auf seiner Homepage schreibt der Grünen-Politiker: „Mein besonderes Engagement als Verteidiger der Leute aus der RAF erkläre ich aus den damaligen außergewöhnlichen Umständen. Ich habe es damals für richtig und notwendig gehalten und sehe es heute nicht viel anders.“

 

Dieser Text stammt aus der Februarausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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