Politische Kultur in Zeiten von Corona - Führung statt Freiheit

Die ersten 50 Jahre Demokratie in Deutschland waren geprägt von spannenden, oft hässlichen Auseinandersetzungen. Die Deutschen lernten, was es heißt, Demokratie zu leben. Heute jedoch herrscht Unterordnung statt Streit.

Hat keine Diskussionsorgien nötig: Angela Merkel / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Frank A. Meyer ist Journalist und Kolumnist des Magazins Cicero. Er arbeitet seit vielen Jahren für den Ringier-Verlag und lebt in Berlin.

So erreichen Sie Frank A. Meyer:

Anzeige

Der Satz ist warm und wahr. Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat ihn Deutschland am 8. Mai geschenkt – zum Gedenken der Geschichte, zum Bedenken der Gegenwart: „Man kann dieses Land nur mit gebrochenem Herzen lieben.“ War die Niederlage der Deutschen vor 75 Jahren „ein Tag der Befreiung“, wie Steinmeiers Amtsvorgänger Richard von Weizsäcker am 8. Mai 1985 zu sagen wagte? Und wenn – Befreiung wovon? Die Antwort des Historikers Götz Aly: Es war „eine Befreiung von uns selbst“.

Wie aber liebt man, befreit von sich selbst, mit gebrochenem Herzen? Vor allem: Was liebt man? Die Nation? Seit 1945 ist das ein fragwürdiger Begriff. Jürgen Habermas, Philosoph für komplizierte Zeitläufte, formulierte die rettende Formel:„Verfassungspatriotismus“. Das Grundgesetz als Liebesobjekt also. 

Warum eigentlich nicht? Die deutsche Verfassung ist die freiheitlichste der Welt. Ein Diktat zwar – im Geiste der westlichen Alliierten USA, Großbritannien und Frankreich. Doch welche Demokratie hätte würdigere Paten! Die Demokratie lieben? Der dritte deutsche Bundespräsident Gustav Heinemann verbat sich diese Vorstellung: „Ach was, ich liebe keine Staaten, ich liebe meine Frau, fertig“, beschied er 1969 dem Land. 

Streitlustig zur Stunde null der Demokratie

Die Demokratie lieben? Da steht ein „i“ zu viel. Demokratie leben – das ist in diesem Fall praktizierte Liebe! Die Deutschen übten das Demokratieleben ein, ohne je vorher nachhaltig prägende Erfahrungen mit Freiheit gemacht zu haben. 

Streitlustig ging es zu nach der Stunde null der Demokratie – nach der Geburt des Grundgesetzes 1949: Die Parteien bekämpften sich ohne Pardon, die Medien heizten die Debatten an. Der Spiegel feuerte als „Sturmgeschütz der Demokratie“, wie Verleger Rudolf Augstein sein Magazin martialisch nannte, auf alles, was sich nicht bewegte. 

Im Bundestag, auf der Bühne von Deutschlands Demokratiepremiere, wich die Würde des Parlaments zeitweise wilden Wortgewittern: Der altkommunistische SPD-Zuchtmeister Herbert Wehner verballhornte politische Gegner gern ohne Rücksicht auf verordnetes Wohlverhalten: Jürgen Wohlrabe nannte er „Herrn Übelkrähe“, Jürgen Todenhöfer sprach er an mit „Hodentöter“ – Flachwitz im hohen Hause. Als der Spiegel Adenauer auf einem scharf fotografierten Titelbild als überfälligen Greis ins Bild setzte, schwenkte der Kanzler am Rednerpult ebendieses Titelbild und rief bibelfest in den Saal: „Fürchtet euch nicht, ich bin es!“

Der wilde Westen Deutschlands

Ja, so ging’s zu in jenen frühen Zeiten, als die Grünen noch nicht vor Merkels Futternapf nach Happen hechelten. Joschka Fischer beschied 1984 dem Bundestagsvizepräsidenten Richard Stücklen nach einer höchst fragwürdigen Entscheidung: „Mit Verlaub, Herr Präsident, Sie sind ein Arschloch!“

Es war der wilde Westen Deutschlands: Willy Brandt wurde wegen seiner unehelichen Herkunft verächtlich mit dem Namen Herbert Frahm angesprochen, den er vor seiner Flucht aus Nazideutschland trug. In der Spiegel-Affäre machte die Linke mobil gegen Franz Josef Strauß, nach dem Attentat auf Rudi Dutschke marschierte sie gewalttätig gegen den Springer-Verlag. Helmut Schmidt, der spätere Hausweise der heute zum Wohlfühlblatt weichgespülten Zeit, wurde wegen seines Eintretens für das atomare Wettrüsten aus dem Amt gemobbt. Helmut Kohl galt der mächtigen Meinungsphalanx von Süddeutscher Zeitung, Stern und Spiegel wegen seiner Körperfülle als „Birne“, während Strauß den Pfälzer als „vollkommen unfähig“ schmähte. Gerhard Schröder schließlich wurde als Brioni-­Kanzler karikiert, der mit Hartz IV und Agenda 2010 dem Sozialstaat das Grab schaufle. 

War das nicht alles unschön? Nun, Demokratie ist selten schön. Demokratie ist Freiheit. Und Freiheit ist Politik. Die Philosophin Hannah Arendt brachte die Begriffe zur Deckung. Der eine funktioniert nicht ohne den anderen. Mit Ästhetik haben beide nichts zu tun.

Ästhetik ist der Versuch totalitärer Systeme, den Anschein von Politik zu inszenieren: mit Massenchoreografie und Uniformen, mit Paraden und Fahnen und Wimpeln. Angela Merkel wuchs mitten in einer solchen Potemkin-Welt auf: Gleichschritt statt Politik, Führung statt Freiheit. 

Ein derber Blockbuster der Freiheit

Die Sozialisation der Bundeskanzlerin in der untergegangenen DDR erklärt auch den Begriff „Öffnungsdiskussionsorgien“, der ihr bei der Debatte über die Lockerung von Corona-Restriktionen in den Sinn kam. Gleich drei Wörter vereinigt das Wortungetüm: Öffnung – Diskussion – Orgie. 

Ungewollt beschreibt Merkel damit die Essenz demokratischen Lebens: Diskussion in einer offenen Gesellschaft, die durchaus orgiastisch vonstattengehen kann, als sinnlicher, lustvoller und auch Knigge-Grenzen überschreitender Streit, bis hin zu Pöbeleien. 
Die ersten 50 Jahre Demokratie in Deutschland waren in der Tat keine Labsal für Ohren und Augen. Aber spannend waren sie. Ein derber, oft sogar hässlicher Blockbuster der Freiheit. 

Ein derart brachial praktiziertes System bedarf anstelle von Ästhetik der soliden Statik: Montesquieus Gewaltenteilung in Legislative, Exekutive und Judikative. Dazu Karl Poppers Betriebsanleitung: Versuch und Irrtum. 

Erlebt Deutschlands dritte Demokratiegeneration heftige Rede und ebenso heftige Gegenrede? Verbale Gefechte vor dem Parlament und den Talkshow-Kameras? In den Medien? Bebt die Bundesrepublik vor politischem Leben? 

Merkel: Sonderbare Gewissheit persönlicher Macht

Die Kanzlerin führe nicht mehr, wie sie früher geführt habe, heißt es klagend und verunsichert. Bang ertönt die Frage: Führt sie überhaupt noch? Führung als aktuelles Schlüsselwort der deutschen Demokratie? 

Wenn sich Angela Merkel in ihrem sparsamen Sprachschatz äußert, hat sie sich bestenfalls „heute in der Tat mahnend eingelassen“, wie die Frankfurter Allgemeine zustimmend seufzt. Und wenn sie Landesregierungen zurechtweist, wird das von den Medien in Schülerpose als „Rüffel aus Berlin“ rapportiert. Wagt der Unions-Fraktionschef im Bundestag Widerworte, entschuldigt er das Wagnis mit der unterwürfig-rechtfertigenden Beteuerung: „Wir nehmen uns auch die Freiheit zu kritisieren.“

Ein Parlamentarier nimmt sich die Freiheit? Wer hat sie gepachtet? Die Kanzlerin, deren Regierungsgeschäft zur „Kanzlerindemokratie“ veredelt wird. Von diesem Podest herunter belehrt sie die Menschen draußen im Lande mit „wir schaffen das“ über „wir dürfen nicht leichtsinnig werden“ bis hin zur Anmaßung, es werde keine Eurobonds geben, „solange ich lebe“ – sonderbare Gewissheit persönlicher Macht. 

Bettlektüre statt Baldrian

FDP-Chef Christian Lindner beschreibt den Sachverhalt fassungslos: „Die Kanzlerin redet zu uns wie zu Kindern.“ Doch hat die Machtfrau, vor der sich Machiavelli verbeugt hätte, nicht einfach recht? Seit 2015, als Merkel Millionen Migranten unkontrolliert ins Land ließ, prägt ihr Maternalismus Deutschlands politische Kultur – sie bedient die Sehnsucht nach Führung durch eine Erwachsene. Noch die dürftigste Ansprache der Landesmutter wird zum Führungsauftritt hochstilisiert. Hinter dem man sich einreiht: Politiker, Professoren, Pastoren, Publizisten. Bloß keine Spaltung der Gesellschaft! Das ist das hehre Ziel dieser Funktionselite. Doch Demokratie ist Dissens der Meinungen – und Dissonanz der Gesellschaft. Oder sie ist keine. 

Als Kanzlerin wird Angela Merkel das Durcheinander wohl nicht mehr widerfahren, das die Folge leidenschaftlich bis orgiastisch gelebter demokratischer Freiheit wäre. Die hart arbeitende Kopfdemokratin kann jeden Abend selig entschlummern, in der Hand noch den aufgeblätterten Spiegel, auf dem Nachttisch die taz, am Boden die Süddeutsche – Bettlektüre statt Baldrian.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe von Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

Jetzt Ausgabe kaufen

 

 

 

Anzeige