Stephan Weil - Retter in spe

Stephan Weil ist der derzeit erfolgreichste SPD-Politiker. In Berlin könnte er schon bald ganz dringend gebraucht werden. Zu Besuch beim niedersächsischen Ministerpräsidenten

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Stephan Weil ist Hannoveraner durch und durch, aber immer häufiger ist er in der SPD auch in Berlin gefragt / Daniel Pilar
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Autoreninfo

Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Für eine Partei, die gerade um ihre Existenz ringt, ist der SPD-Landesparteitag Mitte April im niedersächsischen Bad Fallingbostel eine überraschend leidenschaftslose Veranstaltung. Der Beifall ist mau, als Stephan Weil auf die Bühne tritt. Selbst der Ministerpräsident und Landeschef wirkt irritiert – immerhin ist er der einzige sozialdemokratische Wahlsieger der vergangenen zwei Jahre. Er unterbricht die Begrüßung, lacht verlegen und beginnt seine Rede mit den Worten: „damit ihr wach werdet“. Auch nachdem sich Weil 40 Minuten lang durch sein Manuskript gequält hat, klatschen die Delegierten lediglich routiniert. Nur in den hinteren Reihen stehen ein paar Zuhörer auf. Sie drängen in den Vorraum, dort wird Kartoffelsuppe ausgeschenkt.

Doch ausgerechnet auf Stephan Weil, auf diesem ein wenig bieder wirkenden Niedersachsen mit randloser Brille, lasten enorme Erwartungen. Unter Sozialdemokraten gilt er als heimlicher Hoffnungsträger und als aussichtsreicher Anwärter auf die Kanzlerkandidatur 2021. Man könnte auch sagen: Stephan Weil ist das letzte Aufgebot einer orientierungslosen Partei.

Zwischen Berlin und Northeim

„Los, Abmarsch“, sagt der Retter in spe zwei Monate zuvor in Northeim und macht sich strammen Schrittes auf vom Parteibüro durch die Fußgängerzone zum Marktplatz. Sein Tross hat Mühe zu folgen. Dann geht es schnell noch durch ein Eiscafé, aus dem ein paar Rentnerinnen dem niedersächsischen Ministerpräsidenten winken, Händchen hier, Händchen da. Stephan Weil strahlt. Gleich anschließend jedoch stöhnt er, „ich habe erst mal genug Wahlkampf gemacht“. Und dann steht er an einem sonnigen Februarmorgen schon vor 120 Zuhörern in der Alten Wache.

Stolz begrüßt Stephan Weil seine Gäste in der Staatskanzlei

„Ich hatte heute Morgen die Wahl zwischen Berlin und Northeim“, sagt der SPD-Mann, und dann: „Ich habe mich für Northeim entschieden.“ Das Publikum lacht und klatscht. In Berlin, das weiß hier jeder, ringen Union und SPD gerade um einen Koalitionsvertrag. Eine Krisensitzung jagt dort die andere. Doch Weil steht stattdessen in der Kleinstadt im Süden Niedersachsens neben Simon Hartmann, der bei den Bürgermeisterwahlen für die SPD antritt, und sagt: „Bürgermeister ist das schönste Amt in der Demokratie.“

Stephan Weil redet nur kurz, dann darf das Publikum Fragen stellen. Auf den Tischen liegen rote Kugelschreiber bereit und Bierdeckel. Die Leute in der Alten Wache in Northeim haben jede Menge Fragen, zum ÖPNV, zum Lehrermangel oder zum Leben auf dem Land. Nur zu den Themen, über die sich zur selben Zeit in Berlin CDU und SPD in den Haaren liegen, haben sie keine Fragen. Nicht zur Zweiklassenmedizin, auch nicht zur anlasslosen Befristung von Arbeitsverhältnissen oder zum Familiennachzug bei Flüchtlingen. „Auch nach der Bürgerversicherung hat auf diesen Veranstaltungen noch niemand gefragt, umso intensiver nach dem Pflegenotstand“, bemerkt der SPD-Politiker spitz, wohl wissend, dass die Bürgerversicherung auf jedem SPD-Parteitag als Schlager präsentiert wird.

Gegen den Trend die Landtagswahlen gewonnen

Stephan Weil liebt die Veranstaltungsreihe mit dem Titel „Auf ein Wort“, er liebt den Talk mehr als die Rede, im Dialog wirkt er schlagfertig, am Rednerpult steif. Ein paar Tage zuvor hat der Sozialdemokrat noch auf dem Parteitag in Bonn nachdrücklich für die Große Koalition geworben. Der 21. Januar 2018 ist einer der spannendsten Tage in der jüngeren SPD-Geschichte. Ein Tag, an dem die Partei existenziell mit sich ringt. Doch überzeugen kann Weil in Bonn kaum. Sein Versuch, auf Emotionen zu setzen, wirkt unbeholfen; um seinen Argumenten Nachdruck zu verleihen, redet er einfach lauter und gestikuliert ungelenk.

Das Niedersachsenpferd darf im Büro des Ministerpräsidenten nicht fehlen

Ein Volkstribun ist Stephan Weil nicht, eher ein Mann der Tat. Nach der Landtagswahl in Niedersachsen Mitte Oktober etwa hat es nicht sechs Monate, sondern nur fünf Wochen gedauert, bis die Große Koalition in Hannover stand, obwohl sich SPD und CDU in dem Bundesland spinnefeind waren. So demonstrierte Weil, während die ganze Partei über #Groko oder #NoGroko stritt, selbstbewusst und mit Kalkül, was er unter politischer Verantwortung versteht.

Mit Erfolg. Die niedersächsische SPD hat mit Stephan Weil unter jeweils widrigen Umständen und gegen den Trend nicht nur zwei Landtagswahlen gewonnen. In keinem anderen Bundesland steht die Partei zudem stabiler und geschlossener da, in keinem in der Wählergunst besser, außer vielleicht in Rheinland-Pfalz. Während die SPD zuletzt bei sieben Wahlen in Folge zum Teil dramatische Verluste hinnehmen musste und vor allem bei der Bundestagswahl im September 2017 abstürzte, legte die SPD in Niedersachsen drei Wochen später satte 4,3 Punkte zu. Sie kam auf 36,9 Prozent, wurde stärkste Partei. Rot-Grün wurde zwar abgewählt, aber Weil blieb Ministerpräsident.

Kritische Distanz zu Merkels Flüchtlingspolitik

Anfang April besucht Stephan Weil den Frühjahrsempfang der SPD Lüchow-Dannenberg. Im klassizistischen Bahnhofsgebäude, das jetzt die Diakonie nutzt, kann er nicht den Talker geben, sondern muss die verunsicherten örtlichen Genossen aufbauen. Draußen vor dem Bahnhof steht noch der Kleintransporter mit der Aufschrift „Zeit für mehr Gerechtigkeit“. Der Wahlkampfslogan klingt bereits ein halbes Jahr später ziemlich aus der Zeit gefallen, die Ära Schulz in der SPD ist inzwischen Geschichte. Doch der Zustand der SPD oder die neue Regierung in Berlin sind Weil kein Wort wert. Stattdessen beginnt er mit einem Potpourri an guten Nachrichten. Die Arbeitslosenquote in Niedersachsen sei so niedrig wie seit 1990 nicht mehr, das Land komme erstmals seit 70 Jahren ohne neue Schulden aus, die Lebenserwartung sei so hoch wie noch nie. Und dann fragt er die 60 anwesenden Parteifreunde: „Wie kommt es, dass gleichzeitig die Stimmung so kippelig ist?“

Noch bevor Andrea Nahles zur SPD-Vorsitzenden gewählt wird, macht sie Weil ihre Aufwartung

Als Antwort hat er einen Buchtipp parat: Yuval Noah Harari, „Eine kurze Geschichte der Menschheit“. In dem Bestseller des israelischen Historikers könne man nachlesen, wie schnell und wie tief greifend Digitalisierung und Globalisierung die Welt veränderten, sie sei auf dramatische Weise zusammengerückt. „Deshalb haben die Menschen trotz der guten Lage ein mulmiges Gefühl.“ Schließlich spricht er über Flüchtlinge, über den „tiefen Einschnitt“ von 2015, in dem die Menschen den Eindruck gehabt hätten, der Staat habe es nicht mehr im Griff.

Stephan Weil weiß seit langem, dass die Migrationsfrage für die SPD eine Schlüsselfrage ist, und interne Umfragen der Partei bestärken ihn. Schon im Winter 2015/2016 hat er zusammen mit dem damaligen Parteichef Sigmar Gabriel und dem damaligen Fraktionsvorsitzenden Thomas Oppermann parteiintern für eine andere Flüchtlingspolitik und mehr Distanz zu Angela Merkel geworben. Doch in der Parteiführung konnten sich die drei Niedersachsen nicht durchsetzen. Anschließend wurde seine Loyalität zur Bundes-SPD auf eine harte Probe gestellt. Bis heute.

Hannoveraner durch und durch

Erst zum Schluss seiner etwa 30-minütigen Rede sagt Weil in Dannenberg dann doch noch kurz zwei, drei kurze Sätze über die eigene Partei und ihren „niedersächsischen Weg“: eine SPD, die selbstbewusst sei, aber einen klaren Kopf habe, die nicht um die Probleme herumrede, sondern hart daran arbeite, dass man mit ihnen klarkomme, „eine solche SPD ist in Niedersachsen eigentlich nicht zu schlagen“.

Beim Stadtfest in Ahlten zeigt sich der Sozialdemokrat bürgernah

Sehr bewusst präsentiert sich Weil so als der etwas andere Sozialdemokrat. „Ich bin in der SPD ja nicht unbedingt Mainstream“, sagt er, wenn er darauf angesprochen wird, oder: „Die SPD wird nicht dafür gewählt, dass sie sich permanent mit sich selber beschäftigt.“ Er sieht viele hausgemachte Fehler, zu viele „Scheinkompromisse“, „viele Themen, aber kein Thema“. Von der Politikblase der Hauptstadt, wo es „viel Rauch und wenig Feuer gebe“, hält er sich fern, die meisten Talkshow-Einladungen schlägt er aus. Man könnte auch sagen, Stephan Weil fremdelt mit Berlin. Er inszeniert dieses Fremdeln regelrecht, in Niedersachsen ist so etwas populär.

Weil ist Hannoveraner durch und durch. Er wird zwar 1958 in Hamburg geboren, wächst aber in Hannover auf, 1977 macht er auf dem ehrwürdigen Kaiser-Wilhelm-Gymnasium Abitur. Nach dem Zivildienst studiert er Jura in Göttingen. Einer der Kommilitonen ist Thomas Oppermann, mit ihm zusammen beginnt er, sich politisch zu engagieren. 1980 tritt Weil in die SPD ein. Doch er interessiert sich nicht für die ideologischen Schlachten der Jusos. Aus den Theoriedebatten hält er sich raus, Freunde verpassen ihm deshalb den Spitznamen „Helmut Schmidt“. Was in jenen Jahren alles andere als ein Kompliment ist. Aber immerhin: Seinen ersten Wahlsieg hat Weil zusammen mit Oppermann da schon errungen, 1979 bei den Fachschaftsratswahlen. Auf der Party, mit der die „Basisgruppe Jura“ ihren Wahlsieg feiert, tanzen sie zu Fleetwood Mac: „Don’t stop thinking about tomorrow.“

Wehmütiger Blick auf die Jahre als Oberbürgermeister

Beim Thema Zukunft denkt Weil in den achtziger Jahren an vieles – er heiratet, wird Vater eines Sohnes –, nur an eine politische Karriere denkt er erst mal nicht. Weil arbeitet als Rechtsanwalt und wechselt, damit er mehr Zeit hat, um sich ehrenamtlich als SPD-Unterbezirksvorsitzender zu engagieren, in den Staatsdienst. Er arbeitet als Staatsanwalt, Richter und Ministerialrat im Justizministerium. Als junger Vormundschaftsrichter ist er unter anderem für Entmündigungen zuständig, besucht regelmäßig verwirrte Heimbesucher und begegnet so dem Elend der Pflege. 1997 wird er Kämmerer der Stadt Hannover. Doch dies ist eine klassisch parteipolitische Besetzung, „der hatte von Finanzen keine Ahnung“, sagt einer, der damals dabei war. Das ändert sich schnell.

Auch viele SPD-Träume haben sich im Gestrüpp der Realität verfangen

Politiker, das betont Stephan Weil gerne und auch dies mit einem Seitenhieb auf den Berliner Politikbetrieb, sei er erst mit 48 Jahren geworden. 2006 wird er zum Oberbürgermeister gewählt. Hannover geht es gut, der Haushalt ist dank des Kämmerers Weil saniert. Zur Weltausstellung Expo im Jahr 2000 wurde zudem die Infrastruktur der Stadt auf Kosten des Bundes komplett erneuert, das Verkehrsnetz, der Hauptbahnhof, die U-Bahn, das Messegelände. Die rot-grüne Mehrheit im Stadtrat ist stabil, die Opposition zahm.

Gelegentlich blickt Weil durchaus wehmütig auf seine Oberbürgermeisterjahre zurück, er habe diese „sehr genossen“, der Job sei zwar durchaus hart, weil einen auch jede Kritik direkt und unmittelbar erreiche. Aber der Oberbürgermeister stehe zugleich über dem Parteienstreit, „er steht nicht primär für seine Partei, sondern für das Gemeinwesen insgesamt“. Umso erschrockener ist Weil, als er 2013 nach seiner Wahl zum Ministerpräsidenten erstmals an Landtagssitzungen teilnimmt und erlebt, wie feindselig sich die rot-grüne Regierung und die Opposition aus CDU und FDP dort gegenüberstehen. Trotzdem regiert Stephan Weil weitgehend geräuschlos mit einer Ein-Stimmen-Mehrheit, bis im Sommer 2017 eine grüne Parlamentarierin zur CDU überläuft und es zu vorgezogenen Neuwahlen kommt, drei Wochen nach der Bundestagswahl.

Pragmatisch und erfolgreich

Wer verstehen will, wie Weil Politik macht, wie er Allianzen schmiedet, widerstrebende Interessen zusammenführt, persönliche Loyalitäten schafft, wird in seinen frühen Rathausjahren fündig. Der neue Kassenwart der Stadt ist da noch unsicher und hat sich gleich mit dem Sozialdezernenten von der CDU überworfen. Drei Monate lang reden sie nicht miteinander, der Konflikt zwischen den Dezernenten lähmt die Verwaltung. Schließlich verabreden sich die beiden im belgischen Biergarten auf dem Expo-Gelände. Es geht lange, es fallen deutliche Worte, und es fließt manches Bier. Aber schließlich verabreden die beiden einen Modus Vivendi.

Die Episode geht als „der belgische Krieg“ in die Annalen der Landeshauptstadt ein. Längst sind die beiden ehemaligen Dezernenten Freunde, bei Heimspielen von Hannover 69 sitzen sie zusammen in der Fankurve. Ähnlich baut Weil nach der knapp gewonnenen Landtagswahl 2017 eine Brücke zum CDU-Vorsitzenden Bernd Althusmann und legt so die Basis für die Große Koalition. Die Stimmung zwischen beiden ist angespannt, der Wahlkampf war kurz, aber hart. Noch bevor die Koalitionsverhandlungen offiziell beginnen, treffen sich Weil und Althusmann inoffiziell und sehr diskret im Gästehaus der Landesregierung. Dieses Mal steht kein Bier auf dem Tisch, sondern Rotwein.

Kuchen ist für jeden Spitzenpolitiker eine süße Verführung

Mit der Großen Koalition in Hannover präsentiert Weil sein Meisterstück, auf Rot-Grün folgt nun Rot-Schwarz, auch und vor allem in Berlin ist nicht mehr zu übersehen, wie konsequent, wie pragmatisch und wie erfolgreich Stephan Weil Politik macht. Und im Gegenzug weiß Stephan Weil, wie sehr damit sein Einfluss in der Bundespartei gewachsen ist, auch wenn er dem Präsidium der SPD nur qua Amt angehört und er in den vergangenen Jahren nur gelegentlich an dessen Sitzungen teilgenommen hat.

SPD als Niedersachsenpartei

Dem Landesparteitag im April in Bad Fallingbostel macht auch Andrea Nahles, die eine Woche später in Wiesbaden zur SPD-Vorsitzenden gewählt werden soll, ihre Aufwartung. Die Kleinstadt ist tiefste niedersächsische Provinz und landwirtschaftlich geprägt. Das Internet ist langsam, das WLAN in der Heidmark-Halle bricht ständig zusammen. Eigentlich gehört die Region zum christdemokratischen Kernland, aber sowohl bei der Bundestags- als auch bei der Landtagswahl holte die SPD hier überraschend das Direktmandat.

Es wäre ein Leichtes für Weil, der Parteivorsitzenden in spe aus Fallingbostel ein paar kritische Botschaften mit auf dem Weg zu geben, zwei oder drei schnelle bundespolitische Schlagzeilen zu produzieren. Zum Beispiel könnte er sagen, dass die Partei sich mit der Programmdebatte nicht bis Ende 2019 Zeit lassen dürfe, sondern auf die Sorgen der Menschen sehr viel schneller sehr konkrete Antworten formulieren müsse. Von beidem ist Weil zutiefst überzeugt. Doch der Landesvorsitzende redet ausschließlich über die Landespolitik, über die SPD als „Niedersachsenpartei“ und den „niedersächsischen Weg der Parteierneuerung“.

Nur auf den ersten Blick macht es den Eindruck, als würde die Krise der SPD um Niedersachsen einen Bogen machen

Unter dem Stichwort soziale Gerechtigkeit etwa spricht er nicht über Mindestlohn und Hartz IV, sondern über die „gut laufende niedersächsische Wirtschaft“, über „sichere Arbeitsplätze“, über das „Autoland Nummer eins“, das Niedersachsen nur bleiben könne, wenn die Autos umweltfreundlicher würden. Auf Bundesebene, sagt er, habe sich seine Partei „aus unerfindlichen Gründen“ von den Rechten das Thema Sicherheit wegnehmen lassen, dazu lobt er seinen Innenminister Boris Pistorius, den letzten profilierten SPD-Innenpolitiker. Und er erwähnt die „gesellschaftliche Mitte“, mit deren Unterstützung die SPD auch in Zukunft Wahlen gewinnen könne, „in Niedersachsen und übrigens auch in Deutschland“. Man könnte Stephan Weils Fallingbosteler Botschaft für die neue Parteivorsitzende auch wie folgt übersetzen: Von Niedersachsen lernen heißt siegen lernen.

„Ohne Weil wird 2021 in der SPD nichts gehen“

Auf der Partei- und Fraktionsvorsitzenden Andrea Nahles und auf Finanzminister Olaf Scholz lastet ein gewaltiger Druck. Und mit solchen Reden erhöht Weil den Druck gewollt oder ungewollt zusätzlich. Nahles und ­Scholz müssen die Stimmung so schnell wie möglich drehen, sonst könnte in der SPD Panik ausbrechen. Schon jetzt misstraut etwa ein Drittel der Basis der Parteiführung ganz grundlegend. Kurzum: Wahlsiege müssen her, doch die sind nicht in Sicht.

Und obwohl beide erst frisch im Amt sind, wird in der SPD deshalb bereits über personelle Alternativen geredet. „Ohne Weil wird 2021 in der SPD nichts gehen“, sagt ein Insider. Und anders als etwa Heiko Maas, der neue Außenminister, oder auch Manuela Schwesig, die umtriebige Ministerpräsidentin von Mecklenburg-Vorpommern, habe Stephan Weil schon Wahlen gewonnen. Dieser lächelt nur, wenn er auf solche Spekulationen angesprochen wird, und sagt, was man als loyaler Genosse halt sagt: „Ich bin gerne Ministerpräsident.“ Politische Weggefährten ergänzen, er wolle nicht nach Berlin. Aber vielleicht pflegt er diesen Eindruck vor allem deshalb, weil dies zu seinem Erfolgsimage gehört?

Bald auch in Berlin?

Schon jetzt jedoch scheint den Niedersachsen die Ahnung zu beschleichen, dass er sich der Verantwortung für die Gesamtpartei nicht mehr entziehen und die Berliner Zustände nur von der Seitenlinie aus kommentieren kann. Dass er für seine Positionen und seinen Politikstil in der Partei kämpfen muss. Regelmäßig nimmt Stephan Weil inzwischen montags an den Präsidiumssitzungen teil, und es wäre keine Überraschung, wenn er sich im nächsten Jahr zum stellvertretenden Parteivorsitzenden wählen lässt.

Und dann? Auch Ministerpräsident wollte Weil eigentlich nie werden. Als die SPD 2011 einen Spitzenkandidaten für die Landtagswahl 2013 suchte, sträubte sich Weil hartnäckig. Die Granden beknieten ihn, Parteichef Sigmar Gabriel, Altkanzler Gerhard Schröder, sein Freund Thomas Oppermann. Doch der damalige Oberbürgermeister sagte mehrfach Nein. Natürlich gefiel es ihm zugleich, wie die ganze Partei um ihn warb. Also sagte er schließlich zu und stürzte sich sofort in den Wahlkampf: „Ich hatte das Gefühl, dass ich meiner Partei etwas schuldig bin.“ Bereut hat er den Sinneswandel nie. Gut möglich, dass sich der Sozialdemokrat Stephan Weil 2021 auch in Berlin in die Pflicht nehmen lässt.

Fotos: Daniel Pilar

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.










 

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