Wahlkampf in Marzahn-Hellersdorf - „Die Linke ham wa zum Fressen jern“

Bundesweit ist Die Linke zerstritten und muss bei der Wahl am Sonntag wegen der Fünf-Prozent-Hürde zittern. Im Berliner Bezirk Marzahn-Hellersdorf mit der Abgeordneten Petra Pau werden hingegen Ergebnisse erzielt, von denen die Partei sonst nur träumen kann. Zu Besuch an einem üblichen Wahlkampf-Tag.

Dienstälteste Vizepräsidentin des Deutschen Bundetags: Petra Pau von den Linken / dpa
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Ulrich Thiele ist Politik-Redakteur bei Business Insider Deutschland. Auf Twitter ist er als @ul_thi zu finden. Threema-ID: 82PEBDW9

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Der ältere Herr ist wütend. „Wir werden nur von Schmarotzern regiert“, stänkert er, als er mit seiner Krücke in der Rechten und dem Einkaufstrolley in der Linken an Petra Pau vorbeigeht. „Das sehe ich anders“, sagt Pau, doch der Mann hat kein Interesse an einer Diskussion und geht weiter. „Das ist alles nicht besser wie früher“, ruft er noch zurück.

Natürlich könne sie seine Wut nachvollziehen, sagt Pau hinterher. „Die Menschen fühlen sich in ihrer Lebensleistung nicht wertgeschätzt.“ Die Linken-Politikerin und dienstälteste Vizepräsidentin des Deutschen Bundetags (seit 2006) steht an diesem Mittwochvormittag vor dem Netto an der Marzahner Promenade. Es ist Wahlkampfzeit, Pau verteilt mit ihrem Team Flyer und Kekse auf dem Wochenmarkt und in den Friseursalons, Supermärkten, Solarien, Dönerbuden. So gut wie jeder erkennt sie hier: „Juten Morgen, Frau Pau, vielen Dank, nach dem Motto: Die Linken ham wa zum Fresssen jern“, sagt der Mitarbeiter der Fahrschule, als Pau ihm ein Keksherz mit Linken-Logo gibt. Seit 1998 sitzt sie – stets direkt gewählt – im Bundestag; als Vertreterin des Bezirks Marzahn-Hellersdorf erhielt sie in den vergangenen 16 Jahren stets über 30 oder sogar 40 Prozent der Erststimmen. 2017 waren es 34,2 Prozent.

Wahlerfolge für die AfD

So freundlich wird ihr aber nicht überall begegnet. „Manche reagieren mit heftiger Ablehnung“, sagt sie. 2014 erhielt sie wegen ihres Einsatzes für Flüchtlinge und gegen die teils von Rechtsextremen geprägten Proteste gegen ein Flüchtlingsheim in Hellersdorf Morddrohungen, wenige Monate später wurde sie von Demonstranten vor ihrer Wohnung bedroht.

Marzahn-Hellerdorf ist das, was Zeitungen gern als „Problembezirk“ bezeichnen. Niedrige Renten, Kinderarmut, Arbeitslosigkeit, ausbaufähige Wahlbeteiligung (2017 wählten nur 69,3 Prozent der Wahlberechtigten). Viele der hier lebenden Migranten sind nicht stimmberechtigt. Der Bezirk im Osten Berlins ist eine Hochburg für die Themen der Linken, die sich dort als Kümmerer-Partei begreift.

Doch auch die AfD hat hier mit Wahlergebnissen von über 20 Prozent Erfolg – obwohl ihre Sozialpolitik vor allem die oberen Einkommensschichten entlastet. „Die AfD greift den Zorn der Menschen auf und gibt ihnen einen Sündenbock, ohne wirklich etwas für sie zu tun“, sagt Pau. „Wir hätten alle aufwachen müssen, als Professor Wilhelm Heitmeyer 2011 seine Studie über zunehmende gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit veröffentlicht hat – das war lange bevor so viele Geflüchtete zu uns kamen.“ Heitmeyer nannte als Grund die Ökonomisierung von allem Sozialen und damit einhergehend die Akzeptanz von Gewalt und Ressentiments als Politikersatz.

Warum sind die Ost-Renten niedriger?

Pau nennt ein Beispiel: Kurz vor den Wahlen zum Abgeordnetenhaus 2016, bei denen die AfD 23,3 Prozent erreichte, sei bei ihr in der Sprechstunde eine junge Mutter gewesen, deren Wohnung kurz vor der Zwangsräumung stand. Die Räumung konnte verhindert werden, doch einige Wochen später sei die Frau mit einem anderen existenziellen Problem zu ihr gekommen. „Den Ausländern wird alles gegeben, und uns hilft sowieso keiner“, habe sie gesagt. Pau entgegnete: „Bilden Sie sich ein, dass sie einen Cent mehr vom Jobcenter überwiesen bekommen würden, wenn die Ausländer nicht hier wären?“ Nee, stimmt, habe die Frau geantwortet. 

Spricht man Pau und andere Linken-Politiker in Marzahn-Hellersdorf auf drängende Themen an, dann betonen sie eine Sache, die den eingangs beschriebenen Mann betreffen dürfte: Die Angleichung der Ost-Renten. Das sagt auch Manuela Schmidt, Vizepräsidentin im Abgeordnetenhaus und Vertreterin des Wahlkreises Marzahn-Hellersdorf 2, die ebenfalls an der Marzahner Promenade ihre Flyer verteilt. „Meine Tochter ist Altenpflegerin und wird trotzdem eines Tages eine Ost-Rente kriegen – das ist doch nicht fair!“, sagt sie. Deswegen habe sie sich so geärgert, dass während der Corona-Pandemie auf Balkonen für das Pflegepersonal geklatscht wurde, aber die Forderung nach allgemeingültigen Tarifverträgen zu leise gewesen sei.

Marzahn ist noch vergleichsweise gutsituiert. Es gibt eine – ebenfalls vergleichsweise – große Mittelschicht und ein ausgeprägtes bürgerliches Engagement. Etwa in dem Stadtteilzentrum „Volkssolidarität“, das Integrationsarbeit leistet, und in einer Nähwerkstatt, in der syrische Frauen, die nicht arbeitsberechtigt sind, einer Arbeit nachgehen können.

Jedes zweite Kind von Hart IV betroffen

Wahlkampf in Hellersdorf: Petra Pau
und Steffen Ostehr / Foto: Ulrich Thiele

In Hellersdorf ist die ökonomische Armut drastischer. Jedes zweite Kind ist hier von Hartz IV betroffen. „Wenn es bei uns um Schulessen geht, dann geht es nicht um Bio, sondern darum, dass es kostenlos ist“, sagt Steffen Ostehr. Der 36-Jährige ist Bezirksabgeordneter in der Bezirksverordnetenversammlung von Marzahn-Hellersdorf und steht vor der U-Bahn-Station Louis-Lewin-Straße – Petra Paus nächste Station an diesem Vormittag. Bildungs- und Jugendpolitik sind seine Steckenpferde. Dass die ökonomische Armut hier so groß ist, habe auch damit zu tun, dass ärmere Familien wegen der hohen Mieten aus dem Stadtkern an den Stadtrand verdrängt würden, sagt er.

Um ihren Platz im Bundestag muss Petra Pau sich keine Sorgen machen, die erneute Direktwahl ist höchstwahrscheinlich. Anders sieht es für ihre Partei bundesweit aus, die in den jüngsten Umfragen bei 6 bis 7 Prozent lag und wegen der 5-Prozent-Hürde zittern muss. Pau war schon einmal als fraktionslose Abgeordnete im Bundestag, nachdem die PDS bei der Bundestagswahl 2002 an der Fünf-Prozent-Hürde gescheitert war.

Identitätspolitik vs. Sozialpolitik?

Gründe für den derzeitigen Abstieg gibt es mehrere. Etwa der Ruf, die Partei habe die soziale Frage aus dem Auge verloren. Zuletzt hatte Sahra Wagenknecht einmal mehr mit ihrer These für Aufregung gesorgt, die Linkspartei bediene identitätspolitische Anliegen urbaner Akademiker zuungunsten sozialer Themen. Dabei ist das Parteiprogramm voller typisch linker Forderungen: Mindestlohn von 13 Euro, niedrigere Steuern für Mittel- und Geringverdiener, höhere Steuern für Besserverdiener, verbindliche Tarifverträge, Krankenhäuser in staatlicher Hand. Trotzdem hat die Partei im Westen in Großstädten und akademischen Milieus zugelegt, während sie im Osten bei ihrer Kernklientel Wähler verlor. Es scheint, als würde das soziale Programm nicht wahrgenommen.

Der Partei würde vorgeworfen, dass sie Punkte wie die Rentenangleichung nicht durchsetzen konnte, obwohl sie bisher gar nicht die Mehrheiten und Möglichkeiten dafür hatte, sagt Pau. Zudem dürfe man nicht vergessen, dass die Behauptung, die Linke kümmere sich nicht mehr um die soziale Frage, „aus den eigenen Reihen bespielt“ wurde. „Das finde ich nicht in Ordnung.“

Pau erfüllt nicht den von Wagenknecht postulierten Widerspruch von sozialen Themen und Einsatz für Minderheiten. Berlin-Marzahn ist, was die Wählerstimmen angeht, ein linkes Biotop, Polemiken gegen Identitätspolitik hört man von Pau nicht. Sie setzt sich für Flüchtlinge ein und erreicht mit ihrem Sozialprogramm Zahlen, von denen ihre Partei bundesweit nur träumen kann. Bezeichnend dafür: Bereits um 11 Uhr sind alle Flyer vor der U-Bahn-Station Louis-Lewin-Straße verteilt, die Ablehnungsrate war gering. Pau und ihre Kollegen ziehen weiter, eine Stunde früher als geplant.

Ein Paukenschlag kurz vor der Wahl

Wenige Tage später erschüttert ein erneuter Paukenschlag die zerstrittene Partei, als René Wilke, Linken-Politiker und Oberbürgermeister von Frankfurter (Oder), der taz ein Interview gibt. Wilke sagt: „Ganz ehrlich? Ich könnte es keiner anderen Partei empfehlen, mit meiner Partei nach der Bundestagswahl zu koalieren. Es gibt viel zu viele innere Gräben in der Partei – man ist sich für die konkrete Verantwortungsübernahme viel zu uneins – selbst in der einfacheren Rolle als Opposition. Das ist keine gute Basis für notwendige Verlässlichkeit.“

Auf Nachfrage teilt Pau per Mail mit: „Ich teile diese Meinung nicht, rede aber auch nicht pauschal über koalieren oder opponieren. Mir ist aus verständlichen Gründen die Berliner Linke am nächsten und hat bewiesen bzw. beweist, dass sie beides kann.“

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