Perspektiven der AfD - „Jörg Meuthen ist nicht Joschka Fischer“

Trotz innerparteilicher Grabenkämpfe und der Beobachtung durch den Verfassungsschutz steuert die AfD auf ein ähnliches Ergebnis zu wie bei der Bundestagswahl 2017. Der Politik-Wissenschaftler Wolfgang Schroeder erklärt, woran das liegt – und warum es der AfD nicht gelingt, den Weg der Grünen zu wiederholen.

AfD-Parteichef Jörg Meuthen auf dem Dresdner Parteitag im April / dpa
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Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Wolfgang Schroeder ist Professor für das politische System der Bundesrepublik Deutschland an der Universität Kassel und Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin für Sozialforschung (WZB) in der Abteilung Demokratie und Demokratisierung. 2019 erschien sein Sammelband Smarte Spalter: Die AfD zwischen Bewegung und Parlament. Schroeder ist Mitglied der Grundwertekommission der SPD.

Herr Schroeder, seit Jahren bläst der AfD von Medien, politischer Konkurrenz und inzwischen auch dem Verfassungsschutz ein harter Wind entgegen. Dennoch steht die Partei in Umfragen fast bei ihrem Wahlergebnis von 2017, also 12,7 Prozent. Wie ist das zu erklären?

Die AfD hat das Potenzial, bei der Bundestagswahl ein ähnliches oder sogar noch stärkeres Ergebnis als 2017 zu erreichen.

Das ist überraschend.

Die meisten Analysen konzentrieren sich zu stark auf die Politikinteressierten. Aber diese haben häufig eine andere Agenda als die eher Politikfernen. Bei Wahlen kommen aber letztere, die eine bedeutende Größe auf dem Wählermarkt sind, auch zum Zuge. Am Anfang war die AfD noch stark im Bereich der Politikinteressierten angesiedelt – der Euroskeptizismus stand im Zentrum, viele Wähler waren durchaus auch im bürgerlichen Bereich verankert.

Das hat sich aber spätestens 2015 geändert.

Genau, die Partei wird seither immer weniger von ehemaligen Wählern von CDU, SPD, FDP und Linken genährt, sondern im Zeitverlauf sind es immer stärker jene aus dem Feld der ehemaligen Nichtwähler, die die AfD stärken. Gemeint sind diejenigen, die mit dem politischen Betrieb eigentlich nichts zu tun haben wollen, die dabei einerseits über ein recht festes Weltbild verfügen, das sich aus dem Gefühl speist, dass sich aus ihrer Sicht vieles im Land nicht zum Positiven verändert.

Und andererseits? 

Andererseits besteht mit der AfD für sie ein Angebot, dass diese Nachfrage nach einer Stimme gegen das Establishment befriedet. Was die AfD genau macht, also ob sie einig oder zerstritten ist, kompetent oder inkompetent, ist für diese Wähler von geringerer Relevanz. Sie sind deshalb auch in einem gewissen Maße immun gegenüber der Beobachtung der AfD durch den Verfassungsschutz, den parteiinternen Kämpfen und dem manifesten Rechtsextremismus in Teilen dieser Partei.

Professor Dr. Wolfgang Schroeder

2017 war das Thema Migration der große Aufreger, der die AfD stark gemacht hat. Viele prophezeiten: Der Wegfall dieses Themas wird die AfD schwächen, weil viele AfD-Wähler wieder ins Nichtwähler-Dasein zurückkehren werden. Aber das ist nicht passiert. Warum nicht?

Diese Schwächung ist ja bei den zurückliegenden Wahlen durchaus eingetreten. Der Zuspruch für die AfD ist stark zurückgegangen: In Baden-Württemberg und Rheinland-Pfalz hat die Partei deutlich verloren. Das liegt vermutlich daran, dass sich die Agenda etwas verschoben hat, und es der Partei bisher nicht gelungen ist, die Corona-Krisensituation in politisches Kapital zu übersetzen. Wenn man sich aber die jüngste Allensbach-Umfrage ansieht, zeigt sich, dass das Thema Flüchtlinge bei den eher Politikfernen weiterhin an erster Stelle steht. Für einen Teil der Wählerschaft ist das Thema also nach wie vor von außerordentlicher Bedeutung, und dieser Teil ist durchaus mobilisierungsfähig. In dieser Frage existiert eine Spaltungslinie: Auf der einen Seite Deutschland als offene Gesellschaft mit einer Willkommenskultur, auf der anderen Seite Deutschland mit der Sehnsucht nach einer homogenen, traditionsorientierten, nationalen Linie.

Manche sehen die AfD dahingehend als eine Gegenbewegung gegen das Erstarken der Grünen. Gibt es da einen Zusammenhang?

Der besteht zweifellos. Zwischen diesen Parteien und ihren Milieus besteht die größte Polarität und die geringste Berührung. Die Parteien verkörpern unterschiedliche Vorstellungen davon, wie die gesellschaftliche Ordnung und Lebensführung gestaltet werden soll. Hier im Wissenschaftszentrum unterscheiden wir zwischen Kommunitarismus und Kosmopolitismus, das ist eine Möglichkeit, um diese Bipolarität abzubilden.

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Also korrespondiert die Stärke der Grünen mit dem Erstarken der AfD?

Das sind zwei wachsende, in sich fester gefügte Präferenzordnungen geworden, die eine bipolare Struktur bilden. Das erklärt auch, warum Meuthen und Höcke in einer Partei sein können. Meuthen hat vom „linksgrün versifften Deutschland“ gesprochen, das ist das verbindende Element. Das verkörpern die Grünen aus Sicht der AfD in Reinform. Und dieser „Kulturkampf“ ist ein viel stärker verbindendes Element als der Kampf gegen Merkel oder gegen die EU.

Die Strategie der Öffentlichkeit bestand ja in den letzten Jahren aus einer massiven Ablehnung der AfD, die darauf zielte, das Verschwinden der AfD zu fördern. Nun ist die Partei aber noch immer da, fast so stark wie vor vier Jahren. Ist diese Strategie gescheitert?

Einen Königsweg gibt es in dieser Frage nicht. Diejenigen, die die offene Gesellschaft und die liberale, soziale Demokratie durch die AfD infrage gestellt sehen, können ja nicht einfach schweigend zusehen. Die zentrale Frage lautet: Wie kommuniziert man richtig, damit daraus ein demokratisches Gespräch werden kann? Die Gesellschaft hat inzwischen verstanden, dass es auch um die Politisierung von Sozialstrukturen und Lebensführung geht, die von längerfristiger Natur ist. Das erfordert einen entsprechend weiter ausgerichteten Ansatz. Es ist nicht hinreichend, dass die Medien oder einzelne Politiker mal auf den Tisch klopfen. Dieser Politikstil fordert nicht nur die politischen Aktivisten in den Parteien, Sozialen Bewegungen, sondern die gesamte demokratische Zivilgesellschaft heraus.

Praktisch alle westlichen Demokratien haben inzwischen rechtspopulistische Parteien, in einigen sind diese sogar weitaus radikaler und stärker als die AfD. Ist Deutschland mit der Etablierung der AfD nicht in gewisser Weise ein normales Land geworden?

Im internationalen Vergleich lässt sich dies grundsätzlich bejahen. Die Entwicklung macht deutlich, dass der Erhalt des demokratischen, auf Toleranz und wechselseitigem Respekt aufbauenden Umgangs miteinander kein Selbstläufer ist, sondern immer wieder neu abgesichert werden muss. In Deutschland gibt es seit den 50er-Jahren eine Zustimmung zu autoritären bis rechtsextremen Positionen von 15 bis 20 Prozent. Diese Einstellung ist aber historisch eher weniger zum Zuge gekommen.

Warum nicht? 

Hintergrund ist einerseits unsere besondere Geschichte und andererseits unser Wahlsystem: Die 5-Prozent-Sperrklausel hat es extremen Parteien schwer gemacht, ins Zentrum der parlamentarischen Debatte vorzustoßen. Aber was nützt uns das Argument der Normalität? Die Auseinandersetzung mit der rechten Herausforderung ist eine permanente demokratische Kraftanstrengung. Sie kann aber auch dazu beitragen, dass die Demokratie resilienter und robuster wird. Zugleich kostet diese Kontroverse viel Kraft, die etwa zur Abschaffung von Kinderarmut, der Beschleunigung und Gestaltung des technologischen Wandels oder der Absenkung der CO2-Emissionen gebraucht wird.

In der Union gibt es seit Jahren Diskussionen, ob man durch eine konservativere Positionierung der AfD Wasser abgraben kann?

Diese Möglichkeit sehe ich nicht. Wo man das versucht, wird das die CDU nachhaltig verändern. Der Versuch, Honig zu saugen aus einer AfD, die die liberale Moderne ablehnt und aus dem Zorn gegen das Establishment ihre Stärken gewinnt, und das zur eigenen Positionserneuerung zu nutzen, wird die Partei schädigen. Geht man weiter nach rechts, kann die Union ihre zentristische und damit stabilisierende Funktion im Parteiensystem verlieren. Das wäre eine andere CDU, die das liberale, weltoffene Bürgertum nicht halten könnte. Man wird sicher einige Wähler von der AfD bekommen können, etwa die, die sich in der AfD für das Kandidatenpaar Cotar/Wundrak ausgesprochen haben. Diejenigen, die es mit der Ablehnung der liberalen Moderne ernst meinen, die sich als Opfer der pluralisierten Demokratie begreifen und die eine in ihren Grundweichen andere Republik fordern, lassen sich auch nicht in eine konservativere Union einbinden.

Eine tatsächliche Schwächung der AfD könnte also nur eintreten, wenn es zu einer massiven Demobilisierung der Wähler kommt, die die AfD aus dem Nichtwählerreservoir herausgeholt hat?

In diesem eher unpolitischen Lager beobachten wir etwa seit 2012 eine stärkere Mobilisierung. Und wenig deutet darauf hin, dass diese rückläufig ist. Die Umfragen geben der AfD Hoffnung, dass sie bei den nächsten Bundestagswahlen wieder zwischen zehn und 13 Prozent erreichen kann.

Ist es denn am Ende demokratietheoretisch nicht besser, wenn diese Meinungen und Lebensvorstellungen kanalisiert und im Parlament vertreten sind?

Im Sinne der Repräsentation ist die Abbildung im parlamentarischen Korridor besser, als wenn sich diese illiberalen Gesellschaftsvorstellungen intransparent und subkutan einen eigenen Weg bahnen. Aber die Einbindung im Sinne der Repräsentation setzt voraus, dass der Parlamentarismus als Zuchtmeister dazu fähig ist, diese Formen der Anti-Haltung in den Kanon parlamentarischer Denk- und Verhaltensformen einzubinden. Auf der anderen Seite steht das Problem, dass der Staat für die Finanzierung der Parteien immer wichtiger wird, und auf diese Weise alimentiert er eben auch den Rechtspopulismus, der sich in der AfD parlamentarisch etabliert hat.

Aus diesem Paradox kommt man nicht heraus – außer durch ein mögliches Parteiverbot, richtig?

Dieses Paradox existiert. In den 70er-Jahren lobte ein kleines Segment in der Linken die Verfassung dafür, dass sie ihnen die Möglichkeit gebe, gegen die Grundlagen der Verfassung mit der Verfassung vorzugehen. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt ist unsere Republik aber so resilient, dass sie in der Lage ist, mit dieser Herausforderung umzugehen, ohne dass wir Angst haben müssen, dass die Demokratie Schaden nimmt. Ich würde noch einen Schritt weitergehen: Bei populistischen Aussagen gibt es immer auch ein Körnchen Wahrheit. Deshalb kann die Auseinandersetzung mit dem Rechtspopulismus auch dahingehend positiv wirken, dass man sich mit den Pathologien der Mehrheitsgesellschaft und den Schwächen der liberalen Moderne intensiver auseinandersetzt. Aber zur Auseinandersetzung mit dem Rechtsextremismus gehört auch die Möglichkeit des Parteienverbots. Auf jeden Fall muss der Verfassungsschutz seine Hausaufgaben machen, um Politik und Gesellschaft ein klareres Bild über die Gefahrenlage zu vermitteln.

Im Falle der Grünen hat der „Parlamentarismus als Zuchtmeister“ ja aus einer Anti-Establishment-Partei, einem „gärigen Haufen“, wenn man so will, im Laufe der Jahrzehnte eine demokratisch gefestigte Partei gemacht. Sehen Sie bei der AfD einen ähnlichen Lernprozess?

Den sehe ich nicht. Diese Integration positiver Art setzt neben dem Zuchtmeister des Parlamentarismus auch das Wollen und Können derer voraus, die sich demokratisieren sollen. Ein wichtiger Unterschied besteht darin, dass Jörg Meuthen nicht Joschka Fischer ist. Und die Grünen hatten die Helferlein von Bündnis 90 aus dem Osten, die diesen Kurs der Integration in das demokratisch-parlamentarische System unterstützt haben. Bei der AfD ist es genau umgekehrt: In den ostdeutschen AfD-Landesverbänden ist die radikalere, rohe Form der Bekämpfung von liberaldemokratischen Grundprinzipien besonders stark. Zudem ist Meuthen ein schwacher Agitator und Stratege für eine pragmatische, konservative, koalitionsorientierte Option in der AfD.

In naher Zukunft wird die Brandmauer gegenüber der AfD also halten?

Im Westen ist die Grenze zwischen CDU und AfD in allen Landesverbänden gezogen, auch elektoral sind die Abstände ziemlich klar. Im Osten fällt die Distanz zwischen CDU- und AfD-Wählern weitaus geringer aus.

In den östlichen Ländern versammelt die AfD ein Viertel der Wählerstimmen auf sich. Kann es auf Dauer gut gehen, wenn man in der Regierungsbildung diese Wähler ignoriert?

Bisher hat es funktioniert. Das ist eine Frage der Kräfteverhältnisse. Man kann den österreichischen Weg wählen, wo man frühzeitig kapituliert und die Rechtspopulisten in die Regierung geholt hat. Aber damit hat sich Österreich nicht unbedingt als stabiler, verlässlicher Staat präsentiert. Und wir können das kleine Österreich, das halb so groß wie Nordrhein-Westfalen ist, nicht mit der Bundesrepublik vergleichen, von deren Entwicklung auch die Stabilität und Reformfähigkeit der EU abhängt.

In der AfD galt ein Kanzlerkandidat Armin Laschet als Wunschkandidat. Hat die Personalie Laschet der AfD in diesem Wahlkampf noch einen Push gegeben?

Dafür ist weniger die Personalie Laschet verantwortlich, sondern eher die auch mediale Inszenierung seiner Schwächung im öffentlichen Raum. Dazu gehört auch die Attacke von Markus Söder gegen die repräsentative Demokratie in der Union und seine trumpistisch anmutende Aktion für eine präsidiale Bewegungsorientierung.

Herzlichen Dank für das Gespräch.

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