Parteiausschlussverfahren gegen Boris Palmer - Grüner Wahrheitsbegriff

Der Grüne Boris Palmer soll wegen seiner Ansichten aus der Partei geworfen werden. Dabei wird ihm in der Antragsschrift nicht einmal vorgeworfen, die Unwahrheit gesagt zu haben. Er habe lediglich gegen die „grundlegende Programmatik“ der Grünen verstoßen. Das bedeutet letztlich, dass die eigene Überzeugung, selbst wenn sie wahr ist, parteipolitischen Interessen geopfert werden soll.

Kann mit dem „Pippi Langstrumpf“-Prinzip nichts anfangen: Boris Palmer / dpa
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Mathias Brodkorb ist Cicero-Autor und war Kultus- und Finanzminister des Landes Mecklenburg-Vorpommern. Er gehört der SPD an.

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Als er im Mai dieses Jahres in ironischer Absicht öffentlich das Wort „Negerschwanz“ ausgesprochen hatte, riss den Grünen Baden-Württembergs endgültig der Geduldsfaden. Boris Palmer, die Sahra Wagenknecht der Grünen, soll aus der Partei geschmissen werden. So jedenfalls beschlossen es seine Parteifreunde nur Stunden nach dem Vorfall auf einem Landesparteitag mit 166 zu 44 Stimmen.

Seit kurzer Zeit nun liegt die Antragsschrift der Gegenseite vor, von Boris Palmer höchstselbst am heutigen Tage öffentlich gemacht. Vorausgegangen war diesem Schritt eine Pressemitteilung des Landesverbandes der Grünen. Darin heißt es, dass Palmer wiederholt und vorsätzlich „die Grenzen des Sagbaren“ überschritten habe. Und da kennen die damaligen Landesvorsitzenden Sandra Detzer und Oliver Hildenbrand kein Pardon: „Er hat unserer Partei mit seinen populistischen und destruktiven Äußerungen schweren Schaden zugefügt. Für jemanden, der mit Rassismus kokettiert und Ressentiments schürt, ist bei uns kein Platz.“

„Grenze des Sagbaren überschritten“

Die Liste der Verfehlungen, die Palmer in der Antragsschrift vorgeworfen werden, ist lang. Auf insgesamt 33 Seiten werden sie minutiös aufgelistet. So legt man dem Bürgermeister Tübingens zum Beispiel folgende parteischädigende Aktivitäten zur Last:

•    Er habe im Rahmen der Flüchtlingskrise behauptet, Deutschland könne nicht alle Flüchtlinge aufnehmen, und die EU müsse ihre Grenzen daher notfalls auch mittels Waffen schützen.
•    Flüchtlinge, die elementare Verhaltensregeln missachteten, müssten ebenso abgeschoben werden wie jene, deren Asylantrag abgelehnt wurde.
•    Wenn jemand das Wort „Mohrenkopf“ verwende, sei er nicht gleich ein Rassist.
•    Er habe die Lockdownmaßnahmen kritisiert, weil die meisten über 80-Jährigen, die dadurch gerettet würden, ohnehin bald stürben.
•    Er habe die transsexuelle Politikerin Maike Pfuderer einmal mit ihrem ehemaligen, männlichen Vornamen öffentlich angesprochen.
•    Er unterstütze Sahra Wagenknechts Position, dass im Rahmen linker Identitätspolitik immer mehr Minderheiten einen Opferstatus für sich beanspruchten.
•    Er würde in der Flüchtlingspolitik der Bundesregierung eine Mitursache für das Erstarken der AfD sowie den Austritt Großbritanniens aus der EU sehen.

Das alles stehe im krassen Gegensatz zu den „Grundsätzen“ der Grünen, also zum Beispiel zu den Menschenrechten und dem Ziel des Schutzes von Minderheiten, und würde so ihr öffentliches Ansehen schädigen. Und es verstoße gegen die „Ordnung“ der Grünen, also das gedeihliche innerparteiliche Miteinander.

Selbst die CSU muss aushelfen

Nahezu possierlich wirkt die Antragsschrift dort, wo zur Begründung der eigenen Position gar nicht auf Satzungen, Statute oder Schiedssprüche aus den Reihen der Grünen, sondern hilfsweise anderer Parteien verwiesen wird. Nicht nur entsprechende Dokumente von SPD und CDU müssen dafür herhalten, sondern einmal sogar eine Entscheidung des Landesschiedsgerichts der CSU vom 23. Juli 1983, in der es sinngemäß heißt, dass man von einem Parteimitglied die Unterwerfung unter die Interessen der Partei erwarten dürfe. Die Botschaft dieser Argumentation ist gerade für eine liberale Partei wie die Grünen zweischneidig. Im Zweifel soll also die eigene Überzeugung, selbst wenn sie wahr ist, parteipolitischen Interessen geopfert werden.

Besonders paradox ist dieser Mechanismus im Falle des Brexit sowie des Erstarkens der AfD. Noch einmal: Die Grünen werfen Palmer die Meinung (!) vor, der Umgang Deutschlands mit der Flüchtlingskrise habe in Deutschland die AfD beflügelt und in Großbritannien die Brexit-Bewegung. Auch damit hat Palmer offenbar die „Grenze des Sagbaren“ überschritten.

Flüchtlingspolitik nach „Pippi Langstrumpf“-Prinzip

Dass die Wahlergebnisse der AfD nach Beginn der Flüchtlingskrise in die Höhe schnellten, wird man indes nicht einmal bei den Grünen ernsthaft bestreiten können. Bestritten wird aber nach dem „Pippi Langstrumpf“-Prinzip, dass zwischen beiden Ereignissen ein Wirkzusammenhang bestehe, weil einfach nicht sein kann, was nicht sein darf. Dabei müsste man diesen Zusammenhang nicht einmal dann bestreiten, wenn man die Willkommenskultur für historisch unvermeidlich hielte. Das Handeln der Bundeskanzlerin mag alternativ-, aber sicher nicht wirkungslos gewesen sein.

In der Politikwissenschaft wird das mehrheitlich auch so gesehen. Schon unmittelbar nach Beginn der Flüchtlingskrise führten Oskar Niedermayer und Jürgen Hofrichter den Stimmenzuwachs der AfD auf einen programmatischen Richtungswechsel von der EU- zur Zuwanderungskritik zurück: „Der nähere Blick auf die AfD-Wähler bei den März-Wahlen von 2016 zeigt, wie sehr deren Einstellungen von der Flüchtlingspolitik geprägt waren: Diese war für ihre Wahlentscheidung das mit Abstand wichtigste Thema; sie waren geschlossen der Ansicht, dass Angela Merkel mit ihrer Politik einen Fehler gemacht habe (…). Die AfD- Anhänger hatten insgesamt den Eindruck, dass die Bundesregierung die Lage nicht im Griff habe (…)“

Von der Lüge zum Bullshit

Wir haben es bei Palmers Position, jedenfalls in dieser Frage, also mit einer respektablen und wohl auch richtigen, wissenschaftlich gestützten Position zu tun. Aber die Grünen Baden-Württembergs ficht das nicht an. In der Antragsschrift heißt es hierzu: „Auch mit seinen Thesen zum Erstarken des Rechtspopulismus (…) verstößt der Antragsteller gegen die Ordnung der Partei. Die Bereitschaft zur Aufnahme von Flüchtlingen, die (…) Teil der grundlegenden Programmatik von Bündnis 90/Die Grünen ist, stellt der Antragsgegner (…) als ursächlich oder zumindest mitursächlich für den Austritts Großbritanniens aus der Europäischen Union und das Erstarken der AfD in Deutschland dar. (…) Zwar ist innerhalb politischer Parteien inhaltliche Kritik üblich und erlaubt, um die innerparteiliche und demokratische Willensbildung anzuregen. Die Form einer solchen Kritik hat sich jedoch aus Gründen der Ordnung der Partei nach der Bühne zu richten, auf der sie vorgetragen wird. Je mehr die Kritik die öffentliche Bühne sucht, desto zurückhaltender hat sie in der Form zu erfolgen.“

Das muss man sich in aller Ruhe auf der Zunge zergehen lassen: Palmer müsste, selbst wenn er Recht hätte, als Grüner öffentlich seine Klappe halten, weil die „grundlegende Programmatik“ der Grünen in diesem Falle keinen Raum für die Wahrheit lässt. Nicht einmal eine „Mitursache“ und damit eine kleine Wahrheit in Sachen innenpolitischer Auswirkungen der Flüchtlingspolitik ist erlaubt. Genau betrachtet ist das noch absurder als der Anspruch der SED, als Partei immer Recht zu haben.

Das war zwar eine Lüge, aber eben noch kein Bullshit wie bei den Grünen. Den Unterschied zwischen beidem markierte der Philosoph Harry G. Frankfurt dabei in seinem Buch „On Bullshit“ (Princeton University Press 2005) wie folgt: „Niemand kann lügen, sofern er nicht glaubt, die Wahrheit zu kennen. Zur Produktion von Bullshit ist solch eine Überzeugung nicht erforderlich. Wer lügt, reagiert auf die Wahrheit und zollt ihr zumindest in diesem Umfang Respekt.“ Dem Bullshitter sei es, „gleichgültig, ob seine Behauptungen die Realität korrekt beschreiben. Er wählt sie einfach so aus oder legt sie sich so zurecht, dass sie seiner Zielsetzung entsprechen.“

Keine Demokratie ohne Debatte

Dabei wäre das alles natürlich kein Problem, wenn wir nicht ausgerechnet in einer Demokratie lebten. Für gewöhnlich werden Demokratien, repräsentative zumal, als mit der Fähigkeit zum Diskurs ausgestattete politische Herrschaftssysteme begriffen. Den Grünen geht das übrigens noch gar nicht weit genug, sie wollen eine „partizipative Demokratie“ erkämpfen. „Sowohl die parlamentarische Demokratie als auch die direkte Demokratie brauchen für ihre Entscheide gut organisierte gesellschaftliche Diskurse“ und mehr Bürgerbeteiligung, heißt es dazu in einem Debattenbeitrag.

Nun sollte man meinen, dass ein solcher gesellschaftlicher Diskurs gut vorbereitet sein und dieses normative Ziel in der eigenen Partei als Keimzelle einer künftigen Gesellschaft noch viel offensiver gelebt werden müsste als in der ohnehin hinterherhinkenden Gesellschaft. Aber für die innerparteilichen Gegner Palmers endet das Prinzip der „demokratischen Willensbildung“ an der Grenze des Wohlgefallens durch die innerparteiliche Mehrheit.

Ein Debakel für die Grünen

Für die Grünen dürfte daher das öffentlich ausgetragene Ausschlussverfahren um Palmer zu einer erheblichen symbolischen Schädigung führen. Und das gerade für jene Partei, die zumindest in den 1980er-Jahren einmal für den offenen Meinungsstreit bekannt war. Palmer müsste dazu nur, wo immer möglich, nach wissenschaftlichen Belegen für die Richtigkeit seiner Aussagen suchen. Das wird, wo er zwanghaft der Logorrhoe verfiel, zwar nicht immer gelingen, aber doch wohl so ausreichend oft, dass die Schiedskommission vor einem veritablen Dilemma stünde: Sie müsste ihn dafür ausschließen, die Wahrheit gesagt zu haben, nicht obwohl, sondern weil das Grundsatzprogramm genau diese nicht vorsah. Wie könnte sich eine demokratische Partei eigentlich noch mehr blamieren als mit derartigem Bullshit?

Es dürfte daher auch für die Grünen von Vorteil sein, im Rahmen des Verfahrens doch eine gütliche Einigung mit Palmer anzustreben, und zwar ziemlich schnell. Denn wahrscheinlich gilt auch in diesem Fall ein weiser Spruch des amerikanischen Präsidenten Lyndon Baines Johnson aus dem Jahre 1971: „It’s probably better to have him inside the tent pissing out, than outside the tent pissing in.“

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