Pannen im NSU-Prozess - „ Die Zahlen sprachen dafür, dass wir wussten, was da läuft “

Das Urteil im NSU-Prozess wird gesprochen. Einer Frage jedoch wich das Gericht systematisch aus: Was wusste der Ver­fassungsschutz über das mörderische Treiben der Rechtsterroristen?

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Fahndungsbilder von Beate Zschäpe (v.l.), Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos / picture alliance
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Stefan Aust ist Journalist und Herausgeber der Tageszeitung Die Welt

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Dirk Laabs ist mehrfach ausgezeichneter investigativer Journalist und Dokumentarfilmer

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Das Gerichtsgebäude an der Nymphenburger Straße in München galt bei seiner Eröffnung 1974 als modern – heute ist es wie aus der Zeit gefallen. Eine graue Trutzburg aus Beton, die nur noch von außen uneinnehmbar wirkt. Innen ist das Gebäude längst marode. Das Plädoyer, das die Bundesanwälte im Sommer im NSU-Prozess hielten, passte zu dem Gebäude. Als hätte es die vergangenen fünf Jahre nicht gegeben, als hätten sich nicht zwölf parlamentarische Untersuchungsausschüsse mit dem NSU-Komplex beschäftigt, hielten die Bundesanwälte an der These fest, die sie seit der Anklageerhebung 2012 zumindest nach außen unbeirrt vertreten: Der Nationalsozialistische Untergrund war ein Trio. Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos mordeten allein – die Dritte im Bunde, Beate Zschäpe, ist Mittäterin, obwohl sie an keinem Tatort war. 

Nun gibt es allerdings Zeugen, die Zschäpe zumeist allein in der Nähe der angeblich gemeinsamen Wohnung in Zwickau gesehen haben, was zumindest Zweifel darüber aufkommen lässt, ob das Trio tatsächlich die verschworene Gemeinschaft war, von der die Bundesanwaltschaft ausgeht. Ansonsten haben die Bundesanwälte kein Interesse daran, Neonazis in Bedrängnis zu bringen, die den NSU-Mitgliedern geholfen haben, ein halbwegs normales Leben zu führen.

Arbeitete ein NSU-Mörder bei einem Spitzel?

Das gilt vor allem für Ralf Marschner, einen Neonazi aus Zwickau, der schon zu Wendezeiten Bürgerrechtler durch die Straßen trieb. Andere Neonazis nannten ihn auch Manole oder Mann ohne Hals. Die Autoren dieses Artikels veröffentlichten im April 2016 ein Interview mit einem Zeugen, der Manole schwer belastete. Der Mann sagte, er habe Uwe Mundlos 2001 als Mitarbeiter eines Abrissunternehmens von Ralf Marsch­ner erlebt. „Ich bin absolut sicher, das ist der Mann, der als eine Art Vorarbeiter in der Baufirma von Herrn Marschner mit mir zusammengearbeitet hat“, sagte der Zeuge vor laufender Kamera. 

Aus dieser Zusammenarbeit ergaben sich für die Ermittler mehrere Probleme: Uwe Mundlos war zu diesem Zeitpunkt auf der Flucht vor der Polizei. Zudem hatte er gemeinsam mit seinem Kameraden Uwe Böhnhardt – und vielleicht auch anderen Neonazis – begonnen, Menschen in Deutschland umzubringen – allein weil sie seinem Weltbild nicht entsprachen. Außerdem war der Kamerad und Arbeitgeber Ralf Marschner nicht nur Bauunternehmer. Er spitzelte zudem als V-Mann für das Bundesamt für Verfassungsschutz (BfV), Deckname Primus, der Erste. Marschner war tatsächlich einer der ersten V-Männer des Inlandsgeheimdiensts in den neuen Bundesländern – er blieb aber bei Weitem nicht der einzige. Ein NSU-Mörder arbeitete also während der Mordserie bei einem vom Staat bezahlten Spitzel. Ein Bundesanwalt, der für den NSU-Prozess zuständig ist, erinnerte sich vor einem Untersuchungsausschuss, wie er die Ausstrahlung des Interviews mit dem Zeugen in der Dokumentation „Der NSU-Komplex“ erlebt hat. Man habe noch nachts die ersten SMS oder Whatsapp-Nachrichten ausgetauscht. Es begann ein „Selbstvergewisserungsprozess“, eine Bewertung der Lage und Neuausrichtung, schließlich die Erkenntnis, dass man an der Aussage des Bauleiters, der Mundlos im Bauunternehmen des Verfassungsschutz-Spitzels identifiziert hatte, „nicht vorbeikommt“.

Tote Täter sind bequem

Die Bundesanwälte gingen an die Arbeit. Sie nahmen den Hinweis aus der ARD-Dokumentation und der Welt allerdings nicht dankbar auf, sondern sie taten alles, um die Spur unglaubwürdig zu machen. Erneut schickten sie das BKA los. Die Ermittler verhörten diverse Bauarbeiter, die auch für Manole gearbeitet hatten und zur rechten Szene gehörten. Die Erkenntnisse wurden in einem Vermerk zusammengefasst: An den Vorwürfen sei nichts dran, andere Zeugen könnten sich nicht an Mundlos erinnern. Doch das ist eine glatte Lüge. Mehrere Zeugen, die auch vom BKA verhört worden waren – keine Nazis –, hatten ebenfalls Mundlos bei Marschner gesehen. Diese Tatsachen wurden jedoch in dem Schlüsselvermerk vom BKA unterschlagen.

Die Bundesanwaltschaft hatte ihr Ziel erreicht – alles blieb ruhig im Münchner Gerichtsbunker, der Prozess plätscherte weiter vor sich hin, der zuständige Senat unter dem Vorsitz des leicht entflammbaren Richters Manfred Götzl lehnte den naheliegenden Antrag einiger Nebenklagevertreter ab, Ralf Marsch­ner als Zeugen zu hören. Man tat an der Nymphenburger Straße weiter so, als schriebe man noch immer das Jahr 2011, als der NSU sich für alle Beteiligten bequemerweise selbst enttarnt hatte, sich gleichzeitig als Terrorgruppe ausgeschaltet und dazu noch die Beweise für eine Anklage gleichsam auf dem Silbertablett serviert hatte. Tote Täter sind bequem.

Tatsächlich war der Prozess schon seit Jahren längst nicht mehr als ein Nebenschauplatz, wenn es um die Aufklärung im NSU-Komplex ging. Viele Medienvertreter hatten das nur nicht mitbekommen. Dabei lieferten die Untersuchungsausschüsse reichlich Fakten.

Der Fall ist eine dramaturgische Zumutung

Als im Herbst 2016 mehrere Zeugen ihre Aussagen im Bundestag vor dem NSU-Ausschuss glaubhaft wiederholten, dass sie nicht nur Uwe Mundlos, sondern auch Beate Zschäpe in der Nähe des V-Mannes Primus alias Manole gesehen hatten, blieb die Berichterstattung insgesamt ziemlich mau. Die zittrige Aufregung, als diverse Enthüllungen in Sachen NSU – V-Männer! Vernichtete Akten! Lügende Agenten! – den Sicherheitsapparat im Sommer 2012 ins Wanken gebracht zu haben schienen, war bestenfalls einem matten, erschöpften Desinteresse gewichen. 
In der Mitte des NSU-Komplexes klafft ein schwarzes Loch, das alle Energie aus der Berichterstattung zu ziehen scheint. Das Thema ist eine dramaturgische Zumutung, es gibt keine geschlossene Erzählung, die alle offenen Fragen schlüssig beantworten könnte. Im Gegenteil: Jeder Versuch, die losen Enden zu verknüpfen, wäre eine Verschwörungstheorie. Und die vielen Widersprüche zu benennen, ebenso unbefriedigend. Dabei geben vor allem die zahlreichen Ungereimtheiten, scheinbaren Zufälle und offenen Fragen dem Fall NSU erst seine wirkliche Fallhöhe. Es steht offenkundig fest, dass verschiedene Verfassungsschützer etwas vertuschen – nur was? Fehler? Dummheit? Oder doch ihre unbewusste oder gar bewusste Mithilfe? 

Der Prozess in München hat dagegen etwas Beruhigendes. Hier hat der NSU ein Gesicht – Beate Zschäpe –, und die Berichterstatter konnten sich an Zschäpes Beziehungskrisen mit ihren diversen Anwälten abarbeiten. Zur selben Zeit leistete die parlamentarische Aufklärung des NSU-Komplexes Einzigartiges in der bundesdeutschen Geschichte. Insgesamt zwölf Ausschüsse gab es, vier versuchen noch immer, der eine mehr, der andere weniger, Antworten auf die vielen offenen Fragen zu finden. Getragen wurden diese Bemühungen von einer Großen Koalition der SPD, CDU/CSU und den Grünen. Man hat gemeinsame Interessen und trägt eine gemeinsame Verantwortung: Als der NSU ungestört von 1999 bis 2007 mordete und Bomben legte, war fast die ganze Zeit eine rot-grüne Bundesregierung verantwortlich für die innere Sicherheit. Am Ende der Serie war der CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble für die Aufklärung mit zuständig. Und die Grünen koalieren jetzt in Hessen und Baden-Württemberg mit der CDU – in den beiden Ländern, wo der NSU für die beiden rätselhaftesten Morde ihrer Serie verantwortlich ist: Man erschoss die Polizistin Michèle Kiesewetter und verletzte ihren Kollegen schwer. Die Mörder benutzten aber nicht die Ceska 83 mit Schalldämpfer, das NSU-Markenzeichen.

Für die Parteien steht viel auf dem Spiel

Mit dieser Pistole war im Jahr zuvor der neunte Mord begangen worden: an dem jungen türkischen Betreiber eines Internetcafés in Kassel. Es war der letzte Mord der Serie – diesmal in Anwesenheit eines V-Mann-Führers des Landesamts für Verfassungsschutz Hessen. Der hatte kurz zuvor mit seinem V-Mann, den er in der rechtsradikalen Szene führte, telefoniert. Zu allem Überfluss war er kurz zuvor von seiner Vorgesetzten darauf angesetzt worden, seinen Spitzel im rechten Sumpf nach Informationen über die Mordserie schnüffeln zu lassen. Schließlich verheimlichte er seine Anwesenheit am Tatort vor seinem Amt und den polizeilichen Ermittlern. Ein Rätsel, an dessen Lösung das LfV Hessen bis heute kein Interesse hat. Eine Akte im Zusammenhang mit einer Gruppe, die sich „National Sozialistischen Untergrundkämpfer Deutschlands“ nannte, wurde gerade für 120 Jahre unter Verschluss genommen.

Peinlich für den damaligen Innenminister und heutigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier. Inzwischen ist das auch peinlich für die ehemals aufklärerische Grünen, die Bouffiers merkwürdiges Verhältnis zum Verfassungsschützer Temme ohne Klagen mitträgt. Keine der Parteien hat also ein Verhältnis zum NSU-Komplex, das völlig frei von taktischen Gedanken sein könnte. Selbst die Linken haben einst einen besonders umstrittenen V-Mann in Brandenburg mitgetragen. Es steht also für alle Akteure viel auf dem Spiel.

Enthüllungen, die ins Leere liefen

Den Fall Manole alias Marschner alias Primus diskutierte man im NSU-Ausschuss der gerade zu Ende gegangenen Wahlperiode des Bundestags hinter den Kulissen kontrovers. Wie sollte man mit den Zeugen umgehen, die glaubhaft bestätigt haben, dass sie Mundlos bei einem V-Mann gesehen hatten? Was würde das für einen Wirbel geben, wenn das höchste deutsche Parlament klarstellen würde: Unsere Beweisaufnahme erhärtet den Verdacht – V-Mann beschäftigte Mörder? Am Ende siegten die Aufklärer. Im Ausschussbericht im gemeinsamen Teil steht auf Seite 1077: „Der Ausschuss hält den Zeugen Ernst für glaubwürdig.“

Der unscheinbare Satz hat es in sich. Der Vorgang belegt, dass ein V-Mann des BfV, der in der rechten Szene Zwickaus wie eine Spinne im Netz saß, über einen langen Zeitraum Kontakt zu dem seit Jahren gesuchten Mundlos hatte – während dieser verschiedene Morde beging und über dessen Firma Leihwagen just zu den Terminen gemietet wurden, als diese Taten verübt wurden. Doch die Sorge der beamteten Spurenvertuscher und Bedenken tragenden Abgeordneten war umsonst. Der Wirbel blieb aus. 

Dabei erklärt der Fall Marschner alles, was im NSU-Komplex schiefgelaufen ist. Er ist die Konsequenz einer Strategie der Inlandsgeheimdienste, die zwar im Münchner NSU-Prozess keine Rolle spielt, die aber durch die minutiöse Arbeit einiger der vielen Untersuchungsausschüsse inzwischen rekonstruierbar ist. 

Die Auswahl der Informanten

Zuständig für die Abwehr jeder Art von Terror ist das Bundesamt für Verfassungsschutz. Der Hintergrund – rechts, links, islamistisch – ist dabei egal. Das setzt seit seiner Gründung 1950 bei dieser Aufgabe auf den Einsatz von V-Männern – Spitzel, Informanten, Verräter. Das weitgehende Unvermögen, die militante linke Szene, später die Rote Armee Fraktion erfolgreich zu unterwandern, verstellt den Blick darauf, dass das BfV fast immer V-Männer an hohen Positionen in der rechten Szene führte, egal, wie sich die militanten Neonazis gerade nannten: NSDAP/AO, FAP, Nationale Einsatzkommandos – Verräter fanden sich immer und überall. 

Als die Mauer fiel und die Neonazis im Osten in das Vakuum des zusammenbrechenden DDR-Staates stießen, reagierte das nun zuständige BfV wie zu erwarten: Man rekrutierte Informanten in der rechten Szene. Das Bundesamt für Verfassungsschutz wirbt dabei keine Mitläufer an, es sucht Kandidaten aus, die das Zeug dazu haben, eine Gruppe auch zu führen oder, wie es im Jargon der Geheimdienste heißt, die „nach oben gespielt“ werden können. Und als Ende Mai 1993 fünf Menschen in einem Solinger Wohnhaus bei einem Anschlag verbrannten, das BfV noch einmal seine Bemühungen und warb gezielt Informanten auch in der militanten rechten Szene an. Man wollte mitbekommen, ob aus der spontanen Gewalt organisierte Terroranschläge werden würden. Damit in der brutalen rechten Szene ein Informant mitbekommt, was geplant wird, muss er selbst gewalttätig sein, so die naheliegende Logik der Verfassungsschutzbehörden. Man rekrutierte junge Männer, die Obdachlosen den Schädel eingetreten, die Asylbewerberheime angesteckt oder sich schon einer Gruppe wie den Nationalen Einsatzkommandos angeschlossen hatten. Man wollte Informanten, die an der Quelle waren, und man bekam sie auch. 

Der entscheidende Punkt

Die rechte Szene strukturierte und professionalisierte sich fortan ab Mitte der neunziger Jahre – mithilfe eben jener V-Männer, die wiederum Geld, technische Hilfsmittel und zum Teil logistische Unterstützung von den Verfassungsschutzämtern bekamen. Der Thüringer Spitzel Tino Brandt baute – da er sich mit dem Geld des Geheimdiensts plötzlich Mobiltelefon und Auto leisten konnte – den Thüringer Heimatschutz auf. Informanten des Bundesamts gründeten ebenfalls eigene Gruppen – die Hammerskins, Combat 18 – oder sie schufen Plattformen für die Szene im gerade populär werdenden Internet. Wenn einer der aufstrebenden Informanten Ärger mit der Polizei bekam, dann griffen die Verfassungsschutzämter ein. Sie warnten ihre Schützlinge vor Durchsuchungen, wirkten auf Staatsanwälte und Richter ein, wenn doch einmal Beweismittel angefallen waren. Das System begann sich selbst zu erhalten. 

Als der Thüringer Heimatschutz seinen Worten Taten folgen ließ und seine Mitglieder Bombenattrappen über Thüringen verteilten, waren Uwe Böhnhardt, Uwe Mundlos und Beate Zschäpe in erster Reihe mit dabei. Sie verhielten sich dabei ihrem Alter entsprechend – sie waren gerade 20 Jahre alt – und waren ein leichter Fang für die Kriminalpolizei. Doch deren Ermittlungen wurden vom Verfassungsschutz immer wieder sabotiert, Gerichtsprozesse wurden verschleppt. Man wollte nicht, dass der Thüringer Heimatschutz als Struktur ausgehoben wird – man hatte sich daran gewöhnt, von dem Chef der Gruppe, dem Informanten Tino Brandt, über Aufmärsche, Konzerte und Szenetratsch ordentlich informiert zu werden. Als einigen der 100-Prozentigen unter den Heimatschützern – darunter Böhnhardt und Mundlos – die Aktionen zu lasch wurden, als man Sprengstoff organisierte und über einen Kampf aus dem Untergrund heraus nachdachte, da will der Verfassungsschutz nichts mehr mitbekommen haben. Und genau an dieser Stelle entzünden sich alle entscheidenden Kontroversen im NSU-Komplex. 

Die Blood-and-Honour-Truppe

Die Verfassungsschutzämter können gar nicht mehr abstreiten, dass sie über die Jahre eine Art Frühwarnsystem aufgebaut hatten. Sie behaupten aber, trotzdem keine konkreten Informationen über den NSU bekommen zu haben. Immer knapp daneben, immer knapp vorbei. 

Dabei hatte man offenbar den richtigen Instinkt, denn die Ämter hatten vor allem eine Gruppe unterwandert, die sich „Blood and Honour“ nannte – und aus dieser Szene rekrutierten sich wiederum die wichtigsten Unterstützer des NSU. 

Blood and Honour war geprägt von Einflüssen aus England und den USA, dort witterten einflussreiche Neonazis und Skinheads einen bevorstehenden „Rassenkrieg“. Deshalb müsse es nun heißen: „Race before Nation“. Das Konzept hatte einen Vorteil: Das unerreichbare Ziel, die Macht im Staat, rückte in den Hintergrund, ein eingebildeter Überlebenskampf in den Vordergrund. Nicht mehr der abstrakte politische Kampf war gefragt, sondern die Aktion gegen den Feind, die andere Rasse.

In dieser rassistischen Internationale, die sich im Internet vernetzte, war der Ver­fassungsschutz durch seine V-Personen allgegenwärtig. Die Ideologie der Bewegung prägte auch den NSU, und aus den Reihen der Anhänger dieser Internationale stammten die vielen Unterstützer der NSU-Mitglieder, denn die handelten nicht im luftleeren Raum. Man verfolgte zwar damals schon das Ziel des „führerlosen Widerstands“ – das hieß jedoch nicht, dass man sich nicht auf die Hilfe vieler „Kameraden“ verlassen konnte.

Aussage gegen Aussage

Im Jahr 2000 – als der NSU dazu über­ging, Menschen zu erschießen –­ hatten die Inlandsgeheimdienste konse­quenterweise sieben V-Männer im Einsatz, die sich geografisch und strukturell im Umfeld der heute bekannten NSU-Mitglieder bewegten – alle von ihnen gehörten zu Blood and Honour oder hingen eng mit der Bewegung zusammen. Was diese V-Personen gesehen, gemacht und am Ende gemeldet haben, das ist auch fünf Jahre, nachdem Mundlos und Böhnhardt mit zerschossenem Schädel in einem ausgebrannten Wohnmobil in Eisenach gefunden worden waren, bestenfalls ungeklärt, oft genug aber umstritten. An zentralen Punkten steht Aussage gegen Aussage.

Einiges jedoch konnte in den vergangenen Jahren ermittelt werden:

– Mindestens drei der V-Männer halfen Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos bei ihrer Flucht. Sie sammelten Geld oder halfen, wie im Fall Primus, indem sie eine Beschäftigung organisierten. Und über die Firma des V-Mannes wurden Mietwagen an zwei Tagen gebucht, an denen der NSU einen Mord beging. Der V-Mann hat angeblich nie über Mundlos und die anderen mit seinem V-Mann-Führer beim Bundesamt für Verfassungsschutz gesprochen. Marschners Akte wurde allerdings schon 2010 zum Teil vernichtet – eine unabhängige Überprüfung der Behauptung, er habe nichts vom NSU gesagt, ist deshalb nicht mehr möglich.

– Ein V-Mann des LfV Brandenburgs mit dem Decknamen Piatto berichtete 1998 auch über die drei untergetauchten Böhnhardt, Zschäpe und Mundlos. Sie seien in Chemnitz auf der Suche nach Waffen, um „weitere Überfälle“ zu begehen. Piatto war mit einem der wichtigsten Unterstützer der drei – dem Chef des sächsischen Ablegers von Blood and Honour – befreundet und berichtete dem Verfassungsschutz, wie der Mann den drei Neonazis auf der Flucht half.

– Im sächsischen Ableger von Blood and Honour selber hatte man eine V-Person angeworben, deren Identität bis heute geheim gehalten wird. Es war vermutlich dieser Informant oder diese Informantin, die 1998 berichtete, dass man bei Blood and Honour Sachsen darüber nachdenken würde, in Zukunft die Politik in Form von Anschlägen fortzuführen. Zudem steht fest, dass es noch weitere unbekannte V-Personen in den Reihen von Blood and Honour gab.

– Ein V-Mann des BfV, Michael See aus Thüringen alias Tarif, behauptet, dass ein Unterstützer ihn gebeten hätte, die drei Flüchtigen bei sich unterzubringen. Er hätte das so auch dem BfV mitgeteilt – dort leugnet man das. Doch im BfV hat man zentrale Akten jenes V-Mannes im November 2011 vernichten lassen.

– Ein weiterer V-Mann des BfV, Thomas Richter alias Corelli, berichtete schon 1995 detailliert über Uwe Mundlos. 2005 produzierte er eine Daten-CD, die den Schriftzug NSU/NSDAP trug und auf deren Cover eine Pistole abgebildet war. Zufall, sagte das BfV, das eine Kopie der CD im Archiv hatte – die fand man jedoch nicht selber. Ein Beamter des BKA stellte sie sicher, als er gezielt nach ihr suchte. Die Protokolle der Treffen zwischen Corelli und dem Verfassungsschutz sind unvollständig, der V-Mann-Führer hatte angeblich irgendwann keine Lust mehr, alles mitzuschreiben. Und dieser V-Mann war auch Mitglied eines Ku-Klux-Klan-Ablegers im schwäbischen Böblingen, bei dem zwei Polizisten ebenfalls mitmachten. Einer der beiden Beamten war ausgerechnet an jenem Tag, an dem die Polizistin Michèle Kiesewetter erschossen wurde, ihr Einsatzleiter und als einer der Ersten am Tatort.

– Schließlich gibt es mindestens fünf weitere V-Männer, darunter Neonazis, die das BfV als besonders gute Informanten einschätzte, die wiederum über die Unterstützer des NSU berichteten oder eng mit ihnen befreundet waren – nicht jedoch, angeblich, über die Mitglieder des NSU selber, und sei es nur am Rande.

Schamlose Erinnerungslücken

Hinzu kommt, dass nicht nur die Inlandsgeheimdienste, sondern auch die Polizei Informanten in der rechten Szene geführt hat. Darunter, wie könnte es anders sein, waren wiederum Unterstützer des NSU. So wurde Thomas Starke – Vizechef eben jener rassistischen Bruderschaft Blood and Honour – in Sachsen Ende 2000 vom LKA Berlin als Informant angeworben. Starke hat zugegeben, Mundlos 1997 Sprengstoff besorgt zu haben. Warum wollte man ausgerechnet ihn als V-Mann? Auch das ist noch unklar. Wer ihn wollte, ist hingehen bekannt. Starke wurde auf Wunsch der Bundesanwaltschaft zum Informanten, jener Bundesanwaltschaft, die von dem wilden Jahr 2000 heute nicht mehr so viel wissen will. Denn gleich mehrere Ermittlungen liefen in der sensiblen Zeit gegen die Unterstützer des NSU, ohne dass jemals, und sei es zufällig, das Trio auf dem Radar aufgetaucht sein soll. 

Die bekannten Mitglieder des NSU waren zu Beginn ihrer Mordserie von V-Männern geradezu umstellt. Danach wurde eine Quelle nach der anderen enttarnt oder wegen Unzuverlässigkeit entpflichtet. Dazu argumentiert die Verfassungsschutzgemeinde, man habe eben Pech gehabt und ab 2001 die Fährte und die Zugänge zum Umfeld des Nationalsozialistischen Untergrunds verloren.

Dem entgegen steht das Verhalten vieler Verfassungsschützer und Polizisten. Sie benehmen sich, als hätten sie etwas zu vertuschen. Zeugen aus Verfassungsschutzbehörden geben sich vor Gericht und Untersuchungsausschüssen bisweilen nicht einmal mehr Mühe zu kaschieren, dass sie Erinnerungslücken nur vorschützen. Der hessische V-Mann-Führer Andreas Temme, der am Tatort des NSU-Mordes in Kassel war, kommt bis heute mit einer Lüge nach der anderen davon. Auch der Vorsitzende Richter in München, nachdem er den Agenten bei einer seiner vielen Befragungen noch daran erinnert hatte, dass er sich nicht selbst belasten müsse, entschuldigte am Ende die abstrusesten Erinnerungslücken – ausgerechnet in einem Beschluss des Senats, mehrere Beweisanträge der Nebenklage in Sachen Temme abzulehnen. 

Akten wurden vernichtet

Die Bundesanwaltschaft sprang dem Verfassungsschutz bei, wo immer es ging. Als sich ausgerechnet derjenige Verfassungsschützer, der angeordnet hatte, im großen Umfang Akten im BfV zu vernichten, bei einer Vernehmung durch die Bundesanwaltschaft in große Bedrängnis brachte, wurde den Prozessteilnehmern das Protokoll einfach vorenthalten. Kein Wunder. Der Mann mit dem Tarnnamen Lothar Lingen brachte auf den Punkt, warum er die Akten hatte vernichten lassen: „Die bloße Bezifferung der seinerzeit in Thüringen vom BfV geführten Quellen mit acht, neun oder zehn Fällen hätte zu der … Frage geführt, aus welchem Grunde die Verfassungsschutzbehörden über die terroristischen Aktivitäten der drei eigentlich nicht informiert worden sind. Die nackten Zahlen sprachen ja dafür, dass wir wussten, was da läuft, was aber nicht der Fall war. Und da habe ich mir gedacht, wenn der quantitative Aspekt, also die Anzahl unserer Quellen im Bereich des THS [Thüringer Heimatschutz] und Thüringen nicht bekannt wird, dass dann die Frage, warum das BfV von nichts gewusst hat, vielleicht gar nicht auftaucht.“ 

Die Frage tauchte dennoch auf. Beantwortet ist sie bis heute nicht.

Das Protokoll wurde erst durch die Arbeit des NSU-Untersuchungsausschusses im Bundestag bekannt und eben nicht durch den Prozess. Als das Zitat des Aktenvernichters verlesen wurde, blieb der öffentliche Aufschrei aus. Immerhin ermittelt, nach langem Zögern, die Kölner Staatsanwaltschaft gegen den Mann. 

Was darf der Staat geheimhalten?

Es läuft im NSU-Komplex alles auf die eine Frage hinaus: Stimmt es, wenn der Mann, der sich Lothar Lingen nennt, behauptet, man wusste oder ahnte nicht, dass sich ein NSU gebildet hatte? Warum wurden dann von allen zentralen V-Männern Akten vernichtet? Piatto, Primus, Tarif, Otto, VP 562 – viele Informanten, viele Decknamen, viele fehlende Akten. Die Bundesanwaltschaft hat kein Interesse gezeigt, dies aufzuklären. Will sie etwas aus dem Prozess heraushalten, heftet sie Verhöre und Dokumente in einem „Verfahren gegen unbekannt“ ab. Die Akten werden dann anderen Prozessteilnehmern vorenthalten. Vom BfV bekamen die Ankläger einst mehrere Kartons mit Akten über einen der wichtigsten NSU-Helfer – die packte man in Karlsruhe gar nicht erst aus. Dass die Bundesanwaltschaft das Verfahren übersichtlich halten will und so bald wie möglich einen schweren Deckel über den NSU-Komplex schieben möchte, ist offensichtlich. 

Niemand kann ausschließen, dass noch mehr V-Männer dem NSU halfen. Der Staat nimmt für sich das Recht in Anspruch, Geheimnisse zu haben. Doch das Recht wird in dieser Staatsaffäre dazu missbraucht, Fehler zu vertuschen. 

Wie sagte noch der Koordinator der Nachrichtendienste im Kanzleramt, Staatssekretär Klaus-Dieter Fritsche, bei seiner Vernehmung im NSU-Untersuchungsausschuss des Bundestags in beispielloser Offenheit: „Es dürfen keine Staatsgeheimnisse bekannt werden, die ein Regierungshandeln unterminieren.“

Dieser Text erschien in der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

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