Verlängerung der epidemischen Lage - Die Herrschaft des Konjunktivs

Die Bundesregierung will die epidemische Lage von nationaler Tragweite erneut verlängern. Der Gegenwind indes wird stärker. Auch die Grünen scheinen mehr und mehr zu erkennen, dass nicht wirklich souverän ist, wer unentwegt den Ausnahmezustand fordert.

Angela Merkel während der heutigen Sondersitzung des Bundestags/ dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Die Koalition wettet noch einmal, ein hoffentlich letztes Mal, auf die Zukunft: In dem Antrag von CDU, CSU und SPD zur Verlängerung der epidemischen Lage von nationaler Tragweite, über den der Deutsche Bundestag am heutigen Mittwoch in namentlicher Abstimmung entscheidet,  soll erneut die Herrschaft des Konjunktivs implementiert werden. Es könne nämlich sein, so steht es in dem Koalitionspapier, dass die pandemische Lage durch das Auftreten von Varianten des Sars-CoV-2-Virus zukünftig noch verschärft werde. 

Auch sei in der Zukunft mit sogenannten Escape-Mutationen zu rechnen, also mit Virusvarianten, die eine verringerte Sensitivität gegenüber den jetzt verfügbaren Impfstoffen hätten. Und weil all das möglich ist, und weil zudem das weisungsgebundene Robert-Koch-Institut (RKI) die Gefährdung für die Gesundheit der nicht oder nicht vollständig Geimpften weiterhin als hoch einschätzt, während sie für die Geimpften als moderat gelte, solle das vom Volk gewählte Parlament die Feststellung der epidemischen Lage beschließen und im Bundesgesetzblatt bekannt machen – ganz so, wie bereits am 25. März 2020 und in allen darauffolgenden Verlängerungen des Notstandes.

Sicher ist sicher

Die Denke hat sich Stück für Stück eingenistet und über 18 Monate hinweg bewährt: Nicht mehr die konkreten Gegebenheiten sind es, die hierzulande die Einschränkung fundamentaler und eigentlich angestammter Rechte legitimieren, sondern Modelle, Hochrechnungen – ja letztlich Kaffeesatzlesereien. Dabei wussten schon die Chronisten der Antike, zu welchen Verwirrungen und letztlich fundamentalen Schiffbrüchen es führen wird, wenn man den politischen Handlungsspielraum nicht mehr auf Realitäten, sondern auf Propheten und Orakelsprüche aufbockt. 

So wird vom griechischen König Pyrrhos berichtet, er sei vor seiner Schlacht gegen die Truppen Roms im Jahr 280 v. Chr. zuvor noch mal schnell nach Delphi gereist, um das dort ansässige Orakel um Rat und Unterstützung zu fragen. Sicher, so dachte sich der spätere Patentanwärter auf das Wort Pyrrhossieg schon damals, sei eben sicher. Die Weisung indes, die Pyrrhos damals aus dem Apollon-Tempel erhielt, ist aus heutiger Sicht allenfalls halsbrecherisch zu nennen: „Aio te, Æacida, Romanos vincere posse. Ibis redibis nunquam per bella peribis.“ Wer des Lateinischen mächtig ist, erkennt den doppelten Boden sofort: Entweder nämlich lautet der Satz, dass Pyrrhos unbesiegbar bleibe – oder er werde in der Schlacht umkommen. Eine Wahrheitschance von 50:50.

Antiker Heldenepos

Mit derlei Ungenauigkeiten kann man vielleicht einen antiken Heldenepos stricken, für einen modernen Rechtsstaat aber braucht es schon etwas mehr Präzision. Denn weder droht aktuell das Gesundheitssystem zu kollabieren, noch sind die Hospitalisierungszahlen auch nur annähernd alarmierend. Laut dem RKI-Bericht vom 24. August liegt die Hospitalisierungsquote derzeit bei 1,4 – das heißt, in den vergangen sieben Tagen wurden auf 100.000 Einwohner gerade einmal 1,4 Menschen wegen Covid-19 im Krankenhaus behandelt. Pandemische Kalamitäten wären mindestens zweistellig vor dem Komma.

Angesichts dieser Daten ist dem stellvertretende Bundestagspräsident Wolfgang Kubicki (FDP) nur zuzustimmen, wenn er im Vorfeld der heutigen Debatte auf den längst überstrapazierten Rahmen des Grundgesetzes hinweist: „Dass breitflächige Grundrechtseinschränkungen und Verordnungsermächtigungen mit einer Ausnahmesituation begründet werden, die gar nicht mehr vorhanden ist, ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit verfassungsrechtlich nicht haltbar“, sagte der stellvertretende FDP-Vorsitzende heute gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland.

Grünes Herumschlawinern

Nun hatte man von den Liberalen ohnehin nichts anderes erwartet. Als lobende Ausnahme pochen sie seit langem schon auf Verhältnismäßigkeit und Freiheitsrechte. Weit interessanter ist da schon, dass wenige Wochen vor den Bundestagswahlen nun auch Bündnis 90/Die Grünen angesichts anhaltender Grundrechtseinschränkungen kalte Füße bekommen. So sagte etwa auch Katrin Göring-Eckardt gegenüber dem Redaktionsnetzwerk Deutschland, dass sie eine unveränderte Verlängerung der epidemischen Lage für falsch halte. Zwar schlawinerte die Co-Vorsitzende der grünen Bundestagsfraktion hernach um eine konkrete Forderung herum, meinte dann aber, dass man von nun an eine Regelung bräuchte, die zu der neuen Situation und der Zahl der Geimpften passe.

Es scheint, als hätten die Grünen so kurz vor dem Urnengang noch einmal ihr ehemals bürgerrechtsbewegtes Kernklientel wiederentdeckt – all diejenigen, die noch wissen, warum sich die Partei im Jahr 1993 den Namenszusatz „Bündnis 90“ gab. Souverän ist eben nicht – wie es Carl Schmitt einmal gesagt hat –, wer über den Ausnahmezustand verfügt. Souverän ist, wer am 26. September sein Kreuzchen macht. Dann wird sich nicht nur für die Grünen erweisen, wie sie es wirklich mit der Summe aller Grundrechte halten.
 

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