Andrea Nahles - Auch keine linke Lichtgestalt

Andrea Nahles heißt die nächste Hoffnungsträgerin der SPD, aber weit wird auch sie die Partei nicht bringen. Dabei gibt es eine Sehnsucht nach mehr Sozialdemokratie. Doch dafür ist auch die machtpolitisch talentierte neue Parteivorsitzende zu sehr im Establishment verankert

Andrea Nahles gibt sich kämpferisch, aber schon ihr Start wurde vermasselt / picture alliance
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Autoreninfo

Markus Karp ist an der Technischen Hochschule Wildau Professor für Public Management und Staatssekretär a.D.

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Wären die jüngere Geschichte der Sozialdemokratie ein griechisches Drama, müsste auf der jetzigen Talsohle eigentlich die Peripetie, der plötzliche Umschwung zum Besseren, zu erwarten sein. Stattdessen aber, und das ist die wahre Tragödie, werden auf die Tiefen keine Höhen folgen, sondern Siechtum und Selbstzerfleischung. Mit 66 Prozent hat sich Andrea Nahles zum SPD-Vorsitz gezittert. Von Euphorie war nichts zu spüren. Die SPD-Wiedergeburt startet schon mit Komplikationen. Dabei dürfte man von Nahles eigentlich mehr erwarten. Ihr Griff nach dem Fraktionsvorsitz, die Ouvertüre zum 22. April, war ein machtpolitisches Meisterstück.

Fähig aus Fehlern zu lernen

Gebraucht wurde Nahles damals auch als Populismusfigur, denn der AfD-Erfolg bei der Bundestagswahl ging nicht nur zu Lasten der Union. Konsequenterweise startete sie ihre Regentschaft mit der Ankündigung, dass es für die CDU ab dem nächsten Tag auf die Fresse gebe. Nur: Dieser Schuss ging nach hinten los. Das Echo auf die vulgäre Ankündigung war verheerend. Nahlesversteher in der SPD bemühten sich alsbald, den Satz als unglücklichen Scherz abzutun. Das Ganze erinnerte doch sehr an das beliebte AfD-Spiel, irgendeine zweifelhafte Sottise in die Öffentlichkeit zu trompeten, die dann in den folgenden Wochen durch allerlei Deutung und Relativierung wieder zurechtgerückt werden soll. 

Auch die andere seinerzeitige Einstiegsansage von Nahles, jetzt dem „digitalen Kapitalismus“ den Kampf anzusagen, war ein Flop. Erstaunlich schlicht, eindimensional und retro war dieser Satz. Mit dem auch schon nicht mehr taufrischen Godesberger Programm im Handgepäck hätte man von der Partei eher erwartet, dass sie den digitalen Kapitalismus zähmen, ordnen und gestalten wolle. Aber nein! Die digitale Ökonomie aber als eine der wichtigsten wirtschaftlichen Zukunftsperspektiven der Bundesrepublik zum Gegner zu erklären, ließ an der Zukunftsfähigkeit der SPD zweifeln. Bei der Bewerbungsrede für den Parteivorsitz hat sich erwiesen, dass  Andrea Nahles durchaus willens und fähig ist, aus Fehlern zu lernen: Nunmehr soll der „digitale Kapitalismus“ lediglich gebändigt und nicht mehr abgeschafft werden. 

Flügel geraten unter Druck

Die Sozialdemokratie gerät aus allen anderen Lagern unter Druck: Sei es, weil man ihre Themen kopiert. Sei es, weil andere kaltlächelnd einfach den sozialdemokratischen Zielsetzungskatalog überbieten, wohlwissend, für die Erfüllung haltloser Versprechen kaum einmal in Haftung genommen zu werden. So erging es der SPD mit der Linkspartei. Der große Triumph der Einführung eines Mindestlohns wurde eingetrübt durch die Tatsache, dass die Linke schlicht noch einmal 2 Euro mehr pro Stunde forderte. Führende Sozialdemokraten wollen Lockerungen bei rigiden Hartz-IV-Regeln? Hilft nichts, mit der Linkspartei wird angeblich die ganze Reform rückabgewickelt. 

Durch die Einkeilung zwischen Linkspartei und AfD werden die Flügel der SPD zerzaust. Der Würgegriff der sozialdemokratisierten CDU geht ihr direkt ans Leben. Und die grüne Strahlkraft im Milieu linksliberaler bürgerlicher Besserverdiener hat der Partei den intellektuellen Rahmen genommen, auf den sie sich noch bis in die Nuller Jahre berufen konnte. 

Die CDU hingegen handelt unter Merkel seit 2005 nach dem Grundsatz, prinzipiell das Gleiche wie die SPD zu bieten. Renteneintrittsalter, Mindestrente, Kinderbetreuung, Kindergeld: Wo immer die Genossen bereitstehen, eine soziale Wohltat zu ermöglichen, ist die linksgewendete Union zur Stelle und ruft: „Wir doch auch!“. Ein wenig anders verhält es sich mit den Grünen. Hier hechelt die SPD seit den achtziger Jahren deren Forderungen hinterher, immer emsig darauf bedacht, Schritt zu halten: Energiepolitik, Umweltpolitik, Zuwanderungspolitik. Nur das die Grünen lediglich auf einstellige Prozentzahlen im Milieu der sozial Abgesicherten und Arrivierten kommen müssen, um erfolgreich zu sein, für die SPD hingegen ist eigentlich alles unter 30 Prozent eine Katastrophe – die aber mittlerweile perpetuiert ist. 

Die AfD-Falle

Und dann sind da noch die ungeliebten Neuankömmlinge von der AfD. Was die versprechen, möchte die SPD auf keinen Fall in Aussicht stellen. Nur: Die traditionelle Kernwählerschaft der SPD, die in den Merkeljahren in Teilen schon bei der Union heimisch geworden ist, hat nach Jahren der grüngefärbten Entfremdung von der SPD ein sehr offenes Ohr für die Themen der Blauen. Nun sitzt die Sozialdemokratie in der Falle. Jeder Versuch, einen Befreiungsschlag auf der einen Flanke zu wagen, öffnet die andere. Verwandelte sich Andrea Nahles beim nächsten Wahlkampf in eine Mischung aus dem britischen Labourchef Jeremy Corbyn und der Linksparteivorsitzenden Katja Kipping, würde die Union zur Fluchtburg der ökonomischen Vernunft. 

Führe die SPD einen härteren Kurs im Bereich der Migration oder des Säkularismus, könnten Grüne und Linke einen Teil der SPD-Wählerschaft übernehmen. Und in der Mitte präsidiert schon die ebenso profillose wie wendige Union. Jeder sozialdemokratische Vorstoß hier würde vor allem Häme nach sich ziehen, dass die beiden Volksparteien doch einander glichen wie Zwillinge. In dieser Disziplin haben im vergangenen Wahlkampf vor allem die Parteichefs Christian Lindner und Jörg Meuthen reüssiert, die die angebliche Rivalität der notgedrungenen Koalitionäre als „Szenen einer alten Ehe“ oder die politische Ähnlichkeit der Spitzenkandidaten als das Auftreten von „Margela Schurkel“ verspotteten. 

Keine Kampagne für die „kleinen Leute“

Es wäre aber zu kurz gesprungen, die Misere der SPD nur den Gemeinheiten ihrer Konkurrenten zuzuschreiben. Die Kaste hauptberuflicher Funktionäre, die die Geschicke der Partei lenkt, hat sich längst in ihrer eigenen Welt eingerichtet. Mit dem dogmatischen Anspruch von Akademikern, die jenseits von Jugendorganisation und dem Hörsaal linker Geisteswissenschaften oft nicht viel außerhalb des grün-sozialdemokratischen Universums erlebt haben, lässt sich eben kaum eine zündende Kampagne für die „kleinen Leute“ gestalten. Und schien die undurchlässige und durch Proporz und informelle Absprachen zementierte Parteistruktur und -kultur früher einmal Garant dafür zu sein, dass nicht das Chaos ausbricht, ist sie heute eher lähmender Klotz am Bein.

Denn die linken Feuerköpfe, wie deren letzter Schröder einer war, haben gar keine große Lust mehr darauf, die Sozialdemokratie zu unterwandern, zu übernehmen und dann Deutschland umzukrempeln. Stattdessen stehen heute selbstoptimierte Jungfunktionäre Schlange, die statt für „konkrete Utopien“ im Sinne Blochs zu streiten nurmehr die Glaubenssätze jener Schicht von globalisierungsprofitierenden Burgeois Bohemians herunterbeten können, die im Prenzlauer Berg ebenso gut ankommen wie im Silicon Valley, aber in einer aus den Fugen geratenen Welt zunehmend weniger massenwirksam sind. 

Sehnsucht nach mehr Sozialdemokratie eigentlich da

Dabei ist die Sehnsucht nach richtigen Sozis durchaus spürbar. Das sieht man nicht nur an Figuren wie Jeremy Corbyn in England oder Bernie Sanders, dem linken Idol der US-Demokraten, die den Eindruck erwecken, es wäre plötzlich wieder 1973. Auch Martin Schulz hat im kurzen Frühling des Schulzhypes genau diese Welle geritten. Offenkundig hat in der westlichen Welt also eine Linke die Chance auf Mehrheitsfähigkeit, die sich nicht vorrangig kulturrevolutionär und identitätspolitisch betätigt, sondern klassisch sozialistisch orientiert ist. Abhängig ist dieser Trend aber immer von einer charismatischen Führungsfigur, die zumindest nach Anti-Establishment riecht, wenn sie auch Establishment ist.

In der deutschen Sozialdemokratie aber sind solche Gestalten nicht durchsetzungsfähig. Kevin Kühnert und Simone Lange haben viel medialen Wind erzeugt und beachtliche Ergebnisse erzielt, aber von einer Mehrheit sind sie weit entfernt. Sie verkörpern das unruhige Drittel, dass stark genug ist, jedem SPD-Zentristen die Amtszeit zur Hölle zu machen, ohne ihn aber stürzen zu können. Solange dies so bleibt, ist jeder sozialdemokratische Vorturner zur Rolle des Sisyphos verdammt, der immer wieder vergeblich den Gipfel der Bundesrepublik zu erreichen versucht. 

Andrea Nahles ist jedenfalls ganz gewiss nicht die notwendige massenwirksame linke Lichtgestalt. Die kommende Kanzlerkandidatin hat seit Eintritt der Volljährigkeit nichts anderes gemacht als Parteipolitik. Und die Zurechnung zum linken Flügel der SPD hat ihr geschmeidiges Mitwirken in allerlei großen Koalitionen nicht im Geringsten beeinträchtigt. Mehr ermüdendes Establishment geht eigentlich nicht, da helfen auch keine kalkulierten Provokationen. So wird die SPD nicht vom retrolinken Trend profitieren können, sondern auch bei der nächsten Wahl auf die Fresse kriegen. 
 

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