Zum Tod von Hans-Jochen Vogel - „Weiterarbeiten und nicht verzweifeln“

Mit Hans-Jochen Vogel starb der eigentliche politische Erbe des alten Zuchtmeisters Herbert Wehner. Vogel war ein großer Kümmerer, der mit Fleiß, Hingabe und Umsicht arbeitete. Er wird der SPD fehlen, auch wenn die Partei es vielleicht noch gar nicht ahnt. Ein Nachruf.

Hans-Jochen Vogel ist am Sonntag im Alter von 94 Jahren nach langer Krankheit gestorben
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Hartmut Palmer ist politischer Autor und Journalist. Er lebt und arbeitet in Bonn und in Berlin.

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Unter den Eigenschaften, die nach seinem Tod in allen Nachrufen parteiübergreifend gepriesen werden, wird eine oft vergessen, über die er selbst nie sprach, die ihn aber besonders auszeichnete: seine selbstlose Hilfsbereitschaft und sein stiller Einsatz für Schwache, Bedrängte und Zukurzgekommene.

Hans-Jochen Vogel, der in jungen Jahren als Münchner Oberbürgermeister Triumphe gefeiert und auch als Bonner Minister geglänzt hatte, fand seine wichtigste Rolle erst, als die SPD 1983 nach 13 Regierungsjahren ausgelaugt am Boden lag und einen neuen Anführer brauchte. Willy Brandt war schon eine Legende, Helmut Schmidt fing an, eine zu werden. Und Herbert Wehner war zu alt und zu krank geworden, um weitermachen zu können. Vogel musste die Arbeit des legendären Triumvirats allein übernehmen. Als Oppositionsführer wurde der einstige Star die letzte politisch-moralische Instanz der SPD. 

Ein großer Kümmerer

Politisch hat er sich immer Willy Brandt verbunden gefühlt, der ihn Anfang der Siebzigerjahre aus München nach Bonn geholt hatte. Aber Brandts Lebensart war nicht seine, und auch Helmut Schmidts Neigung, die SPD als eher lästiges Beiwerk zu betrachten, teilte er nicht. Je älter er wurde, desto größer wurde sein Verständnis für die jungen Leute, die ihn einst als Münchener Oberbürgermeister zur Weißglut gebracht hatten. Er beobachtete mit Neugier und Sympathie, wie die Grünen, anfangs mit Misstrauen empfangen, die Politik und auch ihn veränderten. 

Er wurde als Oppositionsführer milde gegen seine früheren Gegner und ein großer Kümmerer, der vielen Menschen half, die Schwierigkeiten hatten, die in die Mühlen der Bürokratie geraten, zu Unrecht benachteiligt oder in Not geraten waren. Wer sich an ihn wandte, ihm schrieb und um Hilfe bat, bekam eine Antwort. Und wenn Vogel auch nur den Hauch einer Chance sah, dem oder der Bittenden zu helfen, verfolgte er die Sache solange, bis sie zum bestmöglichen Erfolg führte.

Umsicht, Fleiß und Hingabe

Darin vor allem glich er Herbert Wehner, dem „Zuchtmeister“, dessen Amt als Vorsitzender der Bundestagsfraktion er 1983 wie selbstverständlich übernommen hatte, weil keiner mehr da war, dem man es zu- und anvertrauen konnte. Die Fraktion führte er acht Jahre mit Umsicht, Fleiß und Hingabe, länger als jedes der beiden Bonner Ressorts – das für Wohnungsbau und Raumordnung und das der Justiz –, die er vorher, nicht minder erfolgreich, als Bundesminister geleitet hatte.

Als Kanzlerkandidat der SPD hatte er 1983 vergeblich versucht, Helmut Kohl von der Macht zu verdrängen. Und auch als Parteivorsitzender gelang es ihm nicht, die SPD zurück ins Kanzleramt zu führen. Aber Vogels wahre Größe zeigte sich gerade jetzt, in der Zeit der politischen Niederlagen. Er wurde ein würdiger Nachfolger des großen Kärrners Herbert Wehner: spartanisch wie dieser, bescheiden und fleißig. 

Im VW Golf zu Honecker

Kaum ins Fraktionsamt gewählt, setzte er die Bemühungen seines Vorgängers fort, sich im diskreten, direkten Gespräch mit SED-Chef Erich Honecker um die Freilassung von verfolgten DDR-Bürgern zu bemühen. Er fuhr zu ihm an den Wehrbellinsee, aber nicht etwa im Bonner Dienstwagen, sondern in seinem privaten Auto (Marke VW Golf) – genau wie Wehner es auch immer gehalten hatte, nur dass eben jetzt nicht mehr dessen Ehefrau Greta Wehner das Auto chauffierte, sondern Vogels Gattin Lieselotte.  

Da sie zuerst den Wagen zu einem Abstellplatz bringen musste, wurde der ihr zugedachte Blumenstrauß dem Ehemann übergeben, was damals – da ein Foto von der Blumenübergabe in den Medien veröffentlicht worden war – zu dem Missverständnis führte, Vogel habe Honecker Blumen mitgebracht, und einige kritische Briefe zur Folge hatte.

Er hasste Unpünktlichkeit

Wer zu Wehner ging, musste dessen Vulkanausbrüche fürchten oder das beharrliche Schweigen, mit dem er seine Besucher nerven und kirre machen konnte. Das kam bei Vogel nicht vor. Er war ein aufmerksamer Zuhörer und ein hilfreicher Berater. Er erwarb sich Respekt und Hochachtung, weil er über die Dinge, die es zu besprechen galt, nicht nur einfach Bescheid wusste, sondern auch über das, was zu diesen Dingen geführt hatte und was aus ihnen folgte.

Wer zu Vogel kam, war allerdings gut beraten, wenn er sich vorher über alle Details informiert hatte, die für sein Anliegen relevant waren. Denn Vogel hatte ein nicht nur Ahnung über das Mögliche, sondern auch ein unglaubliches Gedächtnis. Er hasste Unpünktlichkeit. Und er bestand seinerseits darauf, dass Briefe, die er schrieb, auch ordnungsgemäß beantwortet wurden. Erst danach kamen sie in die Ablage. 

Wehner mochte ihn erst nicht

Über seinen humanitären Einsatz in der Zeit der deutschen Teilung ist nie groß geschrieben und berichtet worden. Er selbst widmete dem Antrittsbesuch bei Honecker in der Schorfheide in seinem Buch „Nachsichten“ nur wenige Zeilen. Er wollte, auch darin Wehner ähnlich, kein Aufhebens davon machen.

Wehner mochte ihn anfangs gar nicht. Der knorrige Fraktionschef behandelte den Neuling aus München wie einen bayerischen Schnösel. Er wusste, dass Vogel ein Gefolgsmann Brandts war – allein das machte ihn verdächtig. In kleinem Kreis nannte er ihn abfällig das „weiß-blaue Arschloch“, wie Heribert Prantl von der Süddeutschen Zeitung schrieb, der Vogel besser als jeder andere Journalist kannte.

Zwölf Jahre Oberbürgermeister

Wehner habe wohl „eher Sympathien für die linken Dogmatiker in München (gehabt), die Vogel das Bürgermeister-Leben sauer gemacht hatten“. So sauer übrigens, dass Vogel, der „Karajan der Kommunalpolitik“ (Weltwoche), der ewigen Querelen mit den Parteilinken überdrüssig, schon daran gedacht hatte, den Bettel hinzuwerfen und die Politik ganz sein zu lassen. Bis Brandt ihn für sein Kabinett gewann.  

Zwölf Jahre hatte der erfolgreichste Münchner Oberbürgermeister der Nachkriegsgeschichte die Stadt regiert. Als er, entnervt von den ständigen Angriffen von links, das Amt aufgab, hinterließ er der Stadt nicht nur eine der am besten geführten und organisierten Verwaltungen, sondern auch ein dichtes S- und U-Bahnnetz und vor allem die Olympischen Spiele 1972, die er schon nicht mehr als Oberbürgermeister, sondern nur noch als Zuschauer und Vizepräsident des olympischen Organisationskomitees erleben durfte.

Die Bundespolitik war weitaus beschwerlicher

Bundesweit bekannt war er schon als OB. Nach Brandts Berufung begann seine bundespolitische Karriere – und die war weitaus beschwerlicher und weniger glanzvoll als die zwölf Münchner Jahre.

Vogel, der schon als Kommunalpolitiker erkannt hatte, dass ohne eine Eindämmung der grassierenden Spekulation mit Grund und Boden eine vernünftige Stadtplanung und bezahlbares Wohnen nahezu unmöglich sind, scheiterte mit dem Versuch, ein Gesetz durchzubringen, das Bodenspekulanten das Handwerk gelegt hätte. Die von ihm betriebene Bodenrechtsreform wurde von den Freien Demokraten erbittert bekämpft und blockiert. 

Als Justizminister erfolgreicher

Der Justizminister, als den ihn Helmut Schmidt 1974 nach dem Rücktritt Willy Brandts berief, war erfolgreicher. Die Reform des Abtreibungsparagraphen 218, die sein Vorgänger Gerhard Jahn angeschoben, aber nicht vollendet hatte, und das neue Scheidungsrechts waren die heißesten Eisen, die er schmieden musste. Der von Vogel durchgesetzte Anspruch auf Versorgungsausgleich für geschiedene Frauen empörte viele Männer – darunter auch solche, Genossen, die sonst auf dem progressiven Flügel der SPD anzutreffen waren, und zwar besonders dann, wenn sie, wie Vogel in seinen „Nachsichten“ ironisch anmerkt, selbst von einer Scheidung betroffen waren.  

Vor der mit Abstand schwierigsten Aufgabe stand Vogel im Herbst 1977, als Sympathisanten der sogenannten „Rote Armee Fraktion“ (RAF) den Arbeitgeberpräsidenten Hanns Martin Schleyer entführt und die Freilassung ihrer in Stuttgart Stammheim einsitzenden Gesinnungsgenossen verlangt hatten.

Prinzipienfest

Vogel gehörte dem Krisenstab an, der unter dem Vorsitz des Kanzlers Schmidt tagte und in dem auch Helmut Kohl und Franz Josef Strauß als Vertreter der Opposition saßen. Er lehnte die Forderungen der Erpresser ab. Die Lage spitzte sich von Tag zu Tag mehr zu. Die RAF-Leute stellten immer neue Forderungen. Auch Schleyer flehte auf Videos, die sie von ihm gedreht und ins Kanzleramt geschickt hatten, die Politiker an, nachzugeben und dem Austausch zuzustimmen. 

In dieser fürchterlichen Lage wurde im Krisenstab die Frage erörtert, ob es nicht vielleicht erlaubt sei, auch das Undenkbare zu denken, das archaische Auge-um-Auge, Zahn-um-Zahn-Prinzip etwa. Der Journalist Prantl hat die Szene so beschrieben: „Als Strauß also vorschlug, mit denselben Mitteln wie die Terroristen zu arbeiten und inhaftierte RAF-Terroristen an die Wand zu stellen, und als selbst Brandt begann, über die Einführung der Todesstrafe nachzudenken – da fanden Vogel und Wehner prinzipienfest in der strikten Ablehnung zusammen. Die Grundwerte der Verfassung: Sie waren für Wehner so unantastbar wie für Hans-Jochen Vogel.“ 

Immer Economy

Fortan habe Wehner sein Verhalten gegen Vogel geändert und ihn als verlässlichen Genossen geschätzt. Als es wieder einmal in der Koalition drunter und drüber ging und ein Projekt des Justizministers am Widerstand der FDP zu scheitern drohte, steckte Wehner dem 19 Jahre Jüngeren einen Zettel zu, den Vogel bis ins hohe Alter aufbewahrte. Auf dem Zettel stand: „Trotz alledem: Weiterarbeiten und nicht verzweifeln.“ 

Das passt ins Bild. Hans-Jochen Vogel war ein unermüdlicher Arbeiter im Weinberg der SPD. Und er hat nie Bodenhaftung verloren. Seine Bescheidenheit war sprichwörtlich, allerdings auch die Art, wie er gelegentlich damit kokettierte. Obwohl jeder Bundestagsabgeordnete Anspruch darauf hatte, im Flieger in der Business-Klasse, also vorne am Eingang zu sitzen, flog Vogel immer Economy. Wenn er das Flugzeug betrat und die Bundestagskolleginnen und Kollegen vorne sitzen sah, wünschte er laut „Guten Flug“ und begab sich nach hinten. 

„Das steht mir noch nicht zu“

Als die Berliner Genossen ihn 1981 in großer Not zum Regierenden Bürgermeister machen und den Ankömmling im Dienstwagen vom Flughafen Tegel abholen wollten, ließ er sie mit der Bemerkung stehen: „Entschuldigung! Das steht mir noch nicht zu“, und nahm sich ein Taxi. Der 1986 bekanntgewordene Skandal um die gewerkschaftseigene Wohnungsbaugesellschaft „Neue Heimat“, bei dem sich SPD-Mitglieder und Gewerkschafter auf Kosten der Mieter bereichert hatten, erschütterte ihn. Vogel sah voraus, wie sehr dieser Skandal dem Ansehen von Sozialdemokratern und Gewerkschaftern schaden, welche verheerenden Folgen er für die Debatte um die Mitbestimmung und damit für die Glaubwürdigkeit der SPD haben würde. 

Als 1983 die neu gewählte SPD-Bundestagsfraktion zur konstituierenden Sitzung zusammen kam, hielt Vogel, gerade nahezu einstimmig zum neuen Vorsitzenden gewählt, eine kurze Rede auf Wehner, der neben ihm saß und verabschiedet werden musste. Es ist die einzige Ansprache, die er vollständig in seinen Memoiren abgedruckt hat – sehr kurz und sehr eindringlich:  

„Es ist wie der Abschied von einem Vater, dessen ständige Sorge und Anwesenheit selbstverständlich erschien und dessen Weggang das Gefühl der Einsamkeit, ja der Verlassenheit aufkommen lässt. Denn wenn wir dich auch alle unter uns in einer freundschaftlichen Mischung von Vertrautheit und Respekt den Onkel nannten – in Wahrheit warst du doch für die meisten von uns eine Art Vater. Zu all dem gehört, dass du wie wenige Autorität besitzt. Übrigens auch gegenüber deinen Gegnern und gegenüber denen, die sich an deinen Ecken und Kanten reiben. Es ist nicht die Autorität des Amtes, das du innehattest. Es ist die Autorität des Lebens, das du gelebt, der Irrtümer, die du überwunden, der Gefahren und Herausforderungen, die du bestanden hast.“

Dies alles trifft auch auf den zu, der diese Sätze einst formulierte. Hans-Jochen Vogel war nicht nur im Amt, sondern durch seine Art zu leben und Politik zu machen, als moralische Instanz und als unermüdlicher Kümmerer der eigentliche Erbe Herbert Wehners. Es steht allerdings zu befürchten, dass die heutige SPD noch nicht begriffen hat, wen sie da verloren hat. Hans-Jochen Vogel ist am Sonntag, im Alter von 94 Jahren, nach langer Krankheit gestorben.

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