Migrationskrise - Wir schaffen das - nicht!

Die Massenmigration überfordert den Sozialstaat dreifach. Die Kommunen haben kein Geld mehr, den Schulen fehlt Personal - und zugewanderter Extremismus und Antisemitismus werden zur Gefahr. Ein radikales Umdenken sollte daher das Gebot der Stunde sein.

Ein Holzboot mit etwa 100 Migranten versucht die gefährliche Überfahrt nach Italien / picture alliance
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Autoreninfo

Thomas Mayer ist Gründungsdirektor des Flossbach von Storch Research Institute mit Sitz in Köln. Zuvor war er Chefvolkswirt der Deutsche Bank Gruppe und Leiter von Deutsche Bank Research. Davor bekleidete er verschiedene Funktionen bei Goldman Sachs, Salomon Brothers und – bevor er in die Privatwirtschaft wechselte – beim Internationalen Währungsfonds in Washington und Institut für Weltwirtschaft in Kiel. Thomas Mayer promovierte an der Christian-Albrechts-Universität zu Kiel und hält (seit 2003) die CFA Charter des CFA Institute. Seit 2015 ist er Honorarprofessor an der Universität Witten-Herdecke. Seine jüngsten Buchveröffentlichungen sind „Die Vermessung des Unbekannten“ (2021) und „Das Inflationsgespenst“ (2022).

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„Man kann nicht gleichzeitig freie Einwanderung und einen Wohlfahrtsstaat haben“, lautet das berühmte Verdikt des großen Ökonomen Milton Friedman aus dem Jahr 1999. Im Sozialstaat muss Einwanderung staatlich geregelt und kontrolliert werden, weil sie diesen sonst finanziell ruiniert. 

Eigentlich müsste das auch Nichtökonomen klar sein. Dennoch hat die gelernte Physikerin und ehemalige Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2015 freie Einwanderung zugelassen. „Wir schaffen das“, sagte sie und meinte damit, wir könnten das von Friedman formulierte ökonomische Gesetz aufheben. Man kann ihr daraus keinen Vorwurf machen. Ihr politisches Geschäftsmodell bestand darin, dem „Volk, dem großen Lümmel“ (Heinrich Heine), immer das zu geben, was ihm gerade gefiel. Der deutsche Lümmel gefällt sich gerne als moralischer Weltmeister. Und 2015 schwelgte er eben in der Willkommenskultur. 

Doch weder moralische Weltmeisterschaft noch politische Macht brechen das ökonomische Gesetz. Nach acht Jahren faktisch freier Einwanderung in den Sozialstaat hat der „große Lümmel“ genug. Er schafft es eben nicht, kann es gar nicht schaffen. Friedrich Merz, Merkels jüngster Nachfolger im Amt des CDU-Vorsitzenden, brachte es in der Sprache des „Lümmels“ auf den Punkt: „Die werden doch wahnsinnig, die Leute, wenn die sehen, dass 300.000 Asylbewerber abgelehnt sind, nicht ausreisen, die vollen Leistungen bekommen, die volle Heilfürsorge bekommen. Die sitzen beim Arzt und lassen sich die Zähne neu machen, und die deutschen Bürger nebendran kriegen keine Termine.“

Recht hat der Mann, dachte wohl mancher – „klammheimlich“. Aber die Moralrepublik Deutschland erlitt einen hysterischen Anfall und zerredete erneut das ökonomische Gesetz. Statt um Unvereinbarkeit von Sozialstaat und offenen Grenzen ging es en détail um den Umfang zahnärztlicher Leistungen für Asylbewerber und den Andrang in den Wartezimmern.

Einwanderung in den Sozialstaat

Keine Frage, Deutschland ist ein Einwanderungsland. In den zehn Jahren bis Ende 2022 wanderten unterm Strich 6,1 Millionen Menschen zu. Das waren mehr als fünfmal so viele wie die zehn Jahre davor. Viele kamen aus den Staaten der Europäischen Union, um in Deutschland zu arbeiten. Damit kann man zufrieden sein. Aber ein erheblicher Teil nahm den Sozialstaat in Anspruch. Knapp ein Fünftel der Zuwanderer (rund zwei Millionen) kamen im Zeitraum 2014 bis 2021 als Anwärter auf Asyl ins Land. Ende 2022 lebten rund 3,1 Millionen sogenannter Schutzsuchender in Deutschland. Darunter befand sich eine Million Ukrainer, die als Kriegsflüchtlinge ins Land gekommen waren. Unter den übrigen „Schutzsuchenden“ dominierten syrische (674.000), afghanische (286.000) und türkische (101.000) Staatsangehörige. 

Von Beginn des Jahres 2014 bis August 2023 wurden insgesamt 2,8 Millionen Asylanträge gestellt. Nach dem bisherigen Allzeithoch im Jahr 2016 ging die Zahl der Anträge zunächst bis zum Pandemiejahr 2020 zurück, stieg danach aber wieder kräftig an. Rechnet man die Zahl der Anträge von Januar bis August auf Jahresbasis hoch, dürfte das Jahr 2023 mit der dritthöchsten Zahl seit Beginn des Jahrhunderts abschließen. 

Nicht alle erhalten Asyl, aber so gut wie alle bleiben. Sie bekommen staatliche Unterstützung, auch wenn nur rund die Hälfte der Asylanträge bewilligt wird. So war von den 401.570 registrierten Empfängern von Asylbewerberleistungen Ende 2021 nur 246.480 Personen der Aufenthalt gestattet. 109.925 Personen waren „geduldete“ oder „vollziehbare“ Ausreisepflichtige. Der Rest war in laufenden Verfahren nach dem ersten oder mehreren Anträgen oder gehörte zur Familie der Antragsteller. Nimmt man den Familienanhang dazu, kommt man Ende 2022 auf rund 219.000 geduldete und 36.000 ausreisepflichtige Personen. Letztes Jahr wurden gerade mal 12.945 erfolglose Antragsteller abgeschoben. 

Der deutsche Magnet

Der Sozialstaat gerät an seine Grenzen. /
​​​​Illustration: Jindrich Nowotny

Deutschland ist ein begehrtes Zielland für Asylbewerber. Nach Angaben der OECD kamen in den Jahren von 2008 bis 2021 2,4 Millionen Bewerber nach Deutschland. Das waren mehr als doppelt so viele wie nach Frankreich einwanderten, und beinahe viermal so viele wie Italien aufnahm. Ein wesentlicher Grund dafür dürfte sein, dass die Hilfen für Asylzuwanderer in Deutschland zu den großzügigsten in der Welt gehören. 

Alleinstehende erwachsene Antragssteller erhalten monatlich 410 Euro, davon mindestens 182 Euro als „Taschengeld“. Für eine vierköpfige Familie mit minderjährigen Kindern gibt es bis zu 1466 Euro im Monat als Regelleistung (und mehr bei „Mehrbedarf“). Die Leistungen gehen weiter, auch wenn der Asylantrag abgelehnt wurde und der Bewerber ausreisepflichtig oder „geduldet“ ist. Hinzu kommen nach 18 Monaten Aufenthalt die vollen Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung. Wer Asyl erhalten hat, kann wie deutsche Staatsangehörige das höhere Bürgergeld bekommen. Gegenwärtig sind das 502 Euro für Alleinstehende. Die oben genannte Familie kann bis zu 1742 Euro sowie die Kosten für Unterkunft und Heizung bekommen. In den ärmeren Entwicklungsländern beträgt das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf monatlich rund 100 Euro. 

Besonders krass ist der Unterschied der Asylleistungen zwischen Deutschland und Dänemark. Dort erhalten Asylbewerber 220 Euro im Monat zusätzlich zur Unterbringung im Flüchtlingsheim, jedoch nur, solange der Antrag läuft. Werden sie abgelehnt, gibt es kein Geld mehr, sondern nur noch drei Mahlzeiten am Tag im Asylbewerberheim. Wahrscheinlich schreckt das viele Asylbewerber ab. In den Jahren von 2008 bis 2021 lag die Zahl der Asylzuwanderer nach Dänemark insgesamt um 96,5 Prozent unter der Zahl der Zuwanderer nach Deutschland. 

Einwanderung in den Sozialstaat kostet in dreifacher Hinsicht. Erstens wird die Infrastruktur stärker belastet, ohne dass die Nutzer zu ihrem Erhalt oder Ausbau beitragen. Die Überlastung der Schulen führt zu einem erschreckenden Verfall der Bildung. Sport fällt aus, wenn Turnhallen zu Aufnahmelagern umfunktioniert werden. Und wer mit übervollen Bahnen und Bussen unterwegs ist, muss von den sich dort robust behauptenden Migranten schon mal einstecken (wie der Autor erfahren durfte). 

Einwanderung in den Sozialstaat

Zweitens belastet der Anstieg der Sozialausgaben die öffentlichen Finanzen. So bezogen im Juni 2023 5,5 Millionen Menschen staatliche Grundsicherung für Arbeitssuchende, salopp Bürgergeld genannt. Davon waren 2,6 Millionen, also 47 Prozent, Ausländer. Gut ein Viertel der Empfänger kam aus den primären Asylherkunftsländern sowie der Türkei, dem Westbalkan und sonstigen Drittstaaten. Das ist nicht billig. In diesem Jahr hat die Bundesregierung rund 44 Milliarden Euro für das Bürgergeld in den Haushalt eingestellt. Das sind mehr als 9 Prozent der Gesamtausgaben und über zwei Drittel der Investitionsausgaben, die dringend aufgestockt werden müssten. 

Und drittens kommen mit Asyleinwanderern illiberale Bestrebungen, Sicherheitsrisiken und politische Zwistigkeiten ins Land. Antisemitismus, Homophobie und Frauenfeindlichkeit sind unter den Zuwanderern der Asylherkunftsländer deutlich weiter verbreitet als in der Gesamtgesellschaft. Die Beispiele für politisch motivierte Straftaten und gegen westliche Werte gerichtete Aktionen reichen von islamistischen Anschlägen in den vergangenen Jahren über Straßenkämpfe zwischen verfeindeten Eritreern in Gießen und Stuttgart in diesem Jahr bis jüngst zu Freudenkundgebungen über den Terror der Hamas gegen Israel in Berlin

Beim letzten Ansturm von Asylbewerbern in den Jahren 2015 bis 2016 sahen manche die Sozialhilfen für Immigranten als Anschubfinanzierung zur Gewinnung produktiver Arbeitskräfte. Die Einwanderer würden die Hilfe später durch ihren Beitrag zur deutschen Wirtschafskraft mit Dividende zurückzahlen. Die Grünen-Politikerin Katrin Göring-Eckardt frohlockte: „Wir kriegen jetzt plötzlich Menschen geschenkt.“ Inzwischen ist Ernüchterung eingekehrt. 

Geringere Produktivität der Zuwanderer

Denn zum einen ist es schwieriger als gedacht, die Zuwanderer in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Zwar ist der Anteil der Beschäftigten an der Gesamtzahl der Zuwanderer aus den Krisenländern von rund 15 Prozent im Jahr 2016 auf 42 Prozent im Sommer 2023 gestiegen. Doch liegt die Erwerbsquote dieser Gruppe immer noch deutlich unter der aller Ausländer (54 Prozent) und weit unter der für die gesamte Bevölkerung (70 Prozent). Untersuchungen des Instituts für Arbeitsmarkt und Berufsforschung haben gezeigt, dass die Erwerbsquote der Flüchtlinge auch sechs Jahre nach ihrer Ankunft nur wenig mehr als 50 Prozent beträgt. 

Zum anderen üben die beschäftigten Flüchtlinge zu einem erheblichen Teil Helfertätigkeiten aus. Im Dezember 2022 entfielen auf diesen Bereich 43 Prozent der Beschäftigten. Nur 11 Prozent arbeiteten als Spezialisten oder Experten. Folglich liegt das Einkommen der berufstätigen Flüchtlinge deutlich unter dem aller Berufstätigen. Auch sechs Jahre nach Zuzug beläuft sich der mittlere Bruttomonatsverdienst von vollzeiterwerbstätigen Flüchtlingen auf 60 Prozent des mittleren Vollzeitverdiensts in der Gesamtbevölkerung. 

 

Ernüchterung ist in den Diskurs über Migration eingekehrt. / Illustration: Jindrich Nowotny

 

Die geringeren Einkommen der Zuwanderer spiegeln deren geringere Produktivität wider. Das schlägt sich inzwischen auch auf die Gesamtwirtschaft durch. Seit Ende 2017 bis Mitte 2023 sind unterm Strich rund drei Millionen Menschen aus dem Ausland zugewandert (wobei deutlich mehr Ausländer zu- als deutsche Staatsangehörige abgewandert sind). In diesen sechseinhalb Jahren ist die Produktivität je Beschäftigten um 1,9 Prozent und das reale Bruttoinlandsprodukt pro Kopf um 0,8 Prozent gefallen. Die Zuzügler leisteten also pro Kopf weniger als die Einheimischen, sodass der Zuwachs an Menschen den Anstieg der Wirtschaftsleistung übersteigt. 

Damit ging ein Teil des Anstiegs der Produktivität (um 14 Prozent) und des realen Bruttoinlandsprodukts pro Kopf (um 26 Prozent) in den Jahren 2000 bis 2017 wieder verloren. Setzt sich die Zuwanderung weniger produktiver Arbeitskräfte fort, sinkt die durchschnittliche Produktivität weiter. Auf jeden Einzelnen entfällt ein immer kleinerer Anteil am Wohlstand. Dem mit Fleiß und Können erzielten wirtschaftlichen Aufstieg der Nachkriegszeit folgt der durch Kompetenzverlust bedingte wirtschaftliche Abstieg. 

Der nächste Holzweg

Eigentlich müsste inzwischen klar geworden sein, dass „wir es nicht schaffen“. Die Konsequenz nach Friedman wäre, die Zuwanderung in den Sozialstaat strikt zu begrenzen oder den Sozialstaat abzubauen. Für Moralisten gleicht das jedoch einer Wahl zwischen Pest und Cholera. Lieber wollen sie die „Fluchtursachen“ bekämpfen. Doch statt auf dem Königsweg aus der Bredouille zu wandeln, landen sie damit auf dem nächsten Holzweg. 

Die ökonomische Migrationsforschung unterscheidet zwischen Anstößen zur Emigration (Push) und Anziehungskräften zur Immigration (Pull). Zu den Push-Faktoren gehören eine schlechte Regierungsführung (besonders in autokratischen Regimen), Korruption, kriegerische Konflikte, ökologische Auszehrung und Überbevölkerung. Pull-Faktoren sind höhere Einkommen in den Zielländern, bessere Verdienstmöglichkeiten für Fachkräfte, politische Stabilität und eine bessere soziale Versorgung. 

Ursachen der Migration

Rudolph Matete hat die Ursachen der Migration aus Afrika in die Länder der Europäischen Union anhand von Daten für 53 afrikanische und 28 europäische Länder für die Zeit von 1996 bis 2017 am Flossbach von Storch Institut untersucht. Seine Analyse identifiziert eine Reihe von Treibern im Herkunfts- und Zielland, die Menschen zur Wanderung bewegen. Der Push zur Auswanderung ist umso größer, je geringer das Rechtsstaatsprinzip im Heimatland verankert und je schlechter der Finanzsektor entwickelt ist. Staatliche Willkür und schlechte finanzielle Aussichten sind gute Gründe, das Land zu verlassen. 

Hohe Inflation und Jugendarbeitslosigkeit sind zwar auch Gründe, das Heimatland zu verlassen, verringern aber die Möglichkeiten, den Wegzug zu finanzieren. Die Menschen wollen weg, können es aber nicht. Dagegen fördert in ärmeren Ländern ein Anstieg des Bruttoinlandsprodukts pro Kopf die Emigration, da die Reise dadurch erschwinglicher wird. Und da Menschen gerne dorthin gehen, wo schon ihresgleichen ist, ziehen Einwanderer andere nach. 

 

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Ein überragendes Motiv (und Pull-Faktor) für die Wanderung ist der Wunsch nach der Verbesserung der wirtschaftlichen Lebensumstände. Dafür nehmen Migranten erhebliche Gefahren und Kosten in Kauf, um die Entfernung zu reicheren Ländern zu überwinden. Matete zeigt, dass Finanzhilfen der Europäischen Union an arme Länder paradoxerweise die Emigration in die EU fördern. Sie tragen indirekt zur Finanzierung der Reisekosten bei. Den meisten Migranten geht es aber nicht nur um sich allein, sondern auch um ihre Angehörigen. Deshalb leisten Überweisungen der Flüchtlinge in den Zielländern an ihre zurückgebliebenen Familien ebenfalls Beihilfe zur Emigration. Sie verstärken den Pull-Effekt der Agglomeration von Zuwanderern. 

Nach Zahlen der Weltbank überwiesen Zuwanderer in Deutschland im Zeitraum von 2010 bis 2022 rund 221 Milliarden US-Dollar in ihre Herkunftsländer. Dieser Betrag macht mehr als drei Viertel der Entwicklungshilfe des deutschen Staates in dieser Zeit aus. Angesichts dieses Geldzugangs haben die Herkunftsländer kein Interesse daran, ihre Staatsbürger an der Emigration zu hindern oder abgelehnte Asylbewerber zurückzunehmen. 

Die Folgen der Überforderung

Was folgt, wenn eine Gesellschaft mit ungezügelter Immigration überfordert ist, hat der frühere Grünen-Politiker Boris Palmer auf den Punkt gebracht: „Falls es nicht gelingt, die Zugangszahlen sehr deutlich zu verringern, muss man entweder den Flüchtlingen zumuten, künftig mit weniger günstigen Lebensbedingungen in Deutschland klarzukommen… oder aber man muss der Bevölkerung zumuten, dass sie selbst mit deutlichen Leistungseinschränkungen in zentralen Bereichen klarkommen muss.“ Am Ende dürfte es für beide Gruppen schlechter werden, was aber die Verbesserung der Lebensbedingungen für Flüchtlinge im Vergleich zu ihren Herkunftsländern kaum schmälern wird. 

Nach Hannah Arendt entstand aus entfesselter Migration nach dem Ersten Weltkrieg der Nährboden für totalitäre Regime. Um die Flüchtlingsströme auszutrocknen, scheuten sich in der Zwischenkriegszeit auch Demokratien nicht, mit solchen Regimen zu kooperieren. Schon Edward Gibbon hat in seinem historischen Monumentalwerk zum Verfall und Untergang des Römischen Imperiums auf die zersetzende Kraft der Zuwanderung verwiesen. In seinem Fazit zum Untergang Westroms notiert er, dass die germanischen Stämme auf der Flucht vor den Hunnen in das Römische Reich eindrangen und das innerlich zerstrittene Imperium schließlich eroberten. 

Gibbon fragte sich Ende des 18. Jahrhunderts, ob dem Europa seiner Zeit ein dem Römischen Reich ähnliches Schicksal drohen könnte. Dagegen führte er an, dass Europa den „Barbaren“ technisch weit überlegen wäre. „Bevor sie erobern können, müssen sie aufhören, barbarisch zu sein.“ Der Fortschritt in der Kriegstechnik ginge aber immer auch mit einem Fortschritt in der Zivilisation einher. Die „Barbaren“ würden sich letztlich in zivilisierte Völker wandeln, beruhigte Gibbon. Zweifellos ist Europa auch heute den Völkern in Afrika und Vorderasien, wo die meisten Asylbewerber herkommen, technisch überlegen. Doch darum geht es nicht mehr. 

Ende des moralischen Overkills

Nach den schlimmen Erfahrungen in der Zeit des Kolonialismus und den Kriegen in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hat sich Europa moralische Verpflichtungen auferlegt, die eine gewaltsame Zurückweisung von unerwünschten Immigranten ausschließen. War „spätrömische Dekadenz“ ein wichtiger Grund für die Unterlegenheit Roms gegenüber den „barbarischen Völkern“, sind es heute diese Verpflichtungen, die Europa wie Gulliver fesseln und Unterlegenheit gegenüber den Zuwanderern schaffen. Seeuntaugliche Flüchtlingsboote und spektakuläre Elendsmärsche sind jetzt die Waffen zur Überwindung der Grenzen, die Menschen in den wirtschaftlich und technisch weniger entwickelten Nachbarvölkern gegen Europa einsetzen. 

Um die eigenen Rechtsfesseln abzustreifen, bezahlen EU-Länder skrupellose Machthaber in Anrainerstaaten, damit diese Migranten gewaltsam von der Reise nach Europa abhalten. Das ist nicht nur heuchlerisch, sondern auch zum Scheitern verurteilt. Langfristig führt kein Weg daran vorbei, dass Europa die in der Nachkriegszeit selbst auferlegten moralischen Verpflichtungen an die veränderten Bedingungen anpasst. 

Asylrecht und Einwanderungspolitik müssten so gestaltet werden, dass die Einwanderung in den Sozialstaat drastisch fällt und die Einwanderung in die Beschäftigung den Ansprüchen der Wirtschaft genügt. Dazu müssen die Asylbewerberleistungen verringert, Leistungen für abgelehnte Bewerber beendet und diese abgeschoben werden. Für zugelassene Asylbewerber und Fachkräfte müssen die Arbeitsanreize verbessert werden, indem sowohl Lohnersatzleistungen als auch Lohnsteuern gesenkt werden. 

Wie zu Arendts Zeiten gilt leider auch heute, dass die Menschenrechte ein Privileg für wenige und ein unerfüllbarer Anspruch für die meisten sind. Einigen Menschen in großer Not zu helfen, ist besser, als niemandem zu helfen, weil jedem geholfen werden soll.

 

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