Michael Kretschmer - Kronprinz aus Görlitz

Michael Kretschmer ist nach dem Rücktritt von Stanislaw Tillich zum neuen Ministerpräsidenten Sachsens gewählt worden. Bei der Bundestagswahl noch einer der Verlierer, soll er die Landes-CDU nun in eine neue Ära führen. Aber die Zeit der Alleinherrscher im Freistaat ist vorbei

Kretschmer übernimmt einen Landesverband, der in einer tiefen Sinnkrise steckt / picture alliance
Anzeige

Autoreninfo

Christine Keilholz hat bei der Neuen Zürcher Zeitung volontiert und ist Korrespondentin in Sachsen.

So erreichen Sie Christine Keilholz:

Anzeige

Der Magenschwinger war Michael Kretschmer am Montag nach der Bundestagswahl deutlich anzusehen. Wenn die herbe Niederlage der sächsischen CDU ein Gesicht hat, dann das von Kretschmer, der als Generalsekretär des Landesverbands die Niederlage noch öffentlich erklären musste. Für den 42-Jährigen endeten mit dieser Wahl 15 Jahre im Bundestag. Seinen Wahlkreis Görlitz, den er seit 2002 immer direkt gewonnen hatte, verlor der Unionsfraktionsvize an einen bis dahin unbekannten Malermeister von der AfD. Für Kretschmer war das eine Zäsur in seiner bis dahin makellosen Karriere. Zum Wiedereinzug in den Bundestag hatte er „keinen Plan B“ gehabt. Zweieinhalb Wochen später dann aber doch: Da präsentierte ihn der scheidende Ministerpräsident Stanislaw Tillich als seinen Nachfolger. 

Kretschmer übernimmt einen Landesverband, der in einer tiefen Sinnkrise steckt. Die CDU, die seit 27 Jahren Sachsen regiert, gewann auch 27 Jahre lang so gut wie alle Bundestagsmandate. Das galt für die junge Metropole Leipzig wie für die waldigen Ecken des Vogtlands. Das änderte der 24. September 2017, als sie mit 27 Prozent hinter der AfD landete und vier Direktmandate verlor – drei an die AfD und eines an die Linken. Die nächste Landtagswahl 2019 wird nicht mehr der übliche Durchmarsch werden. 

Kretschmer soll es richten

Dabei gehörte die konkurrenzlose Macht zum Identitätskern der Sachsen-CDU. Mit knapp 11.000 Mitgliedern ist der Landesverband klein im Bundesvergleich – im Osten aber eine prägende Kraft, nachdem Thüringen 2014 an ein rot-rot-grünes Bündnis fiel. Die Ära der CDU-Landesväter Kurt Biedenkopf und Bernhard Vogel ist lange vorbei, ihr Erbe zu verteidigen wird immer schwieriger. Umbrüche in der Arbeitswelt schlagen im Osten viel stärker zu. Große Unternehmen stellen immer öfter ihre ostdeutschen Niederlassungen zur Disposition – ein ortsverbundener Mittelstand wächst dagegen nur langsam. Sachsens Ruf hat nach den Ausschreitungen von Freital und Heidenau gelitten. Eine neue Politik muss her. Ihm fehlten dafür „Kraft und Fortune“, erklärte ein niedergeschlagener Stanislaw Tillich nach der Wahl seinen Landräten und Bürgermeistern. Nun soll es Kretschmer richten. 

Dass die Nachfolge so oder so an den Görlitzer fallen würde, bezweifelte kaum einer. Der gelernte Wirtschaftsingenieur war als Bundestagsabgeordneter quasi Sachsens Botschafter in Berlin, als Generalsekretär strammer Parteisoldat und gewiefter Strippenzieher. Als Generalsekretär diente er unter drei Ministerpräsidenten. Selbst Parteifreunde, die ihn nicht mögen, nennen ihn fleißig und politisch talentiert. Ob er als Wahlverlierer und als unverheirateter Familienvater für das Amt geeignet ist, wurde zwar diskutiert, aber eher oberflächlich. Ernst zu nehmende andere Kandidaten hat die Partei auch nicht. Bundesinnenminister Thomas de Maizière, den Übervater Biedenkopf jüngst ins Spiel brachte, lehnte dankend ab. De Maizière hat seinen Wahlkreis in Meißen. Ansonsten fehlt es der Partei an Figuren mit Aura, diplomatischer Routine und Parketterfahrung.

Sachsen zwischen Ost und West

Aber eine gewisse Wurzelknurpsigkeit gilt parteiintern nicht zwingend als Malus. Der Landesverband übernahm von der bayerischen CSU das brummige „Mir san mir“, aber nicht den bayerischen Witz. So wirkt die sächsische „Union“, wie sie sich gern nennt, in ihren lokalen Verästelungen oft bemitleidenswert provinziell. Ob sie wirklich so rechts ist, wie gern behauptet wird, auf diese Diskussion will sich Kretschmer nicht einlassen. Die Sachsen, sagt er, sind eben erdverwachsen und heimatliebend, sie halten Familie hoch und schätzen das selbst Erarbeitete. Darauf immerhin können sich konservative und liberale Teile der Partei noch einigen. 

Selbst junge Landtagsabgeordnete fahren zu Hause im Wahlkreis ein Programm aus Folklore und Fördergeld. Wobei Fördergeld das ist, was man sich am ehesten noch von außen gefallen lässt. Das reichte lange, um wiedergewählt zu werden. Gegen Pegida und die Flüchtlingskrise 2015 half es jedoch nicht mehr. CDU-Verantwortungsträger sind Strukturpolitiker. Debattieren und Überzeugen haben viele nie gelernt. Was also tun, wenn der Aufbau so weit erledigt ist? Kretschmer spricht von einem „neuen Ziel“, einem „notwendigen neuen Aufschwung“ und der Bereitschaft „nachzusteuern“. Es sind die Signalwörter, die die Partei jetzt hören will. Familiennachzug für Flüchtlinge lehnt er ab, fordert dagegen konsequente Abschiebung. 

Kretschmers Idee eines neuen Sachsens ist die eines gastfreundlichen Landes, das zwischen West und Ost in Europa souverän moderiert. Dem Empfang, den die CDU kürzlich dem umstrittenen ungarischen Ministerpräsidenten ­Viktor Orbán in Dresden bereitete, blieb er trotzdem lieber fern. Es wurde der letzte große Auftritt Tillichs.

Dieser Text stammt aus der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie auch am Kiosk oder in unserem Onlineshop kaufen können.

 

 

 

 

 

Anzeige