Meistgelesene Artikel 2016 - Die Bankrotterklärung eines ganzen Milieus

In einigen Tagen zieht Donald Trump als US-Präsident ins Weiße Haus ein. Alexander Grau kritisierte zu Trumps Wahlsieg im November 2016 den deutschen Medienbetrieb heftig. Offenbar habe sich ein Milieu gebildet, das keinen Kontakt mehr zu großen Teilen der Bevölkerung hat

Weltfremde Überraschung und zur Schau getragene Empörung auf deutschen Zeitungstiteln / picture alliance
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Autoreninfo

Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Selten, wirklich selten hat sich der in dieser Hinsicht ohnehin schon anfällige deutsche Medienbetrieb dermaßen blamiert wie in seinen Reaktionen auf die Wahl von Donald Trump zum US-Präsidenten – einige löbliche Ausnahmen ausgenommen.

Gleichgültig in welcher Richtung man den Senderknopf am Radio drehte, welchen Fernsehsender man wählte oder welche Homepage man aufrief: allenthalben Entsetzen, Unglaube, Fassungslosigkeit.

Und während man so hörte und schaute und las, stellte sich immer stärker und immer banger die Frage: Himmel, in welcher Welt leben all diese Menschen eigentlich? Wo muss man sich intellektuell in den vergangenen Jahren aufgehalten, in welchem Kokon muss man sich eingesponnen haben, um von dem Wahlergebnis allen Ernstes überrascht worden zu sein?

Trump-Wähler alle auf die Couch

Doch nicht nur die politische Ingoranz einer ganzen medialen und politischen Kaste irritierte nachhaltig. Noch ungleich verwirrender war die moralische und menschliche Arroganz, die sich in einer Unzahl von Kommentaren Bahn brach. Denn die Ursache für das Wahlergebnis waren sofort zur Hand: der Aufstand der Verlierer, der alten weißen Männer, der Arbeitslosen, Ungebildeten und sozial Prekären.

Abgesehen davon, dass Trumps Wähler unmöglich ausschließlich weiße, ungebildete und arbeitslose Männer sein können, verblüfft die Empathielosigkeit, ja die kaum verhohlene Verachtung, die aus so vielen Kommentaren trieft.

Gegenüber den Wählern Trumps, sofern diesen nicht gleich jede intellektuelle Fähigkeit abgesprochen wird, begibt sich der deutsche Wahlkommentator gerne in die Rolle des Therapeuten: Im Grunde, so wird suggeriert, seien die Anhänger Trumps so etwas wie Patienten, Verirrte, die mit sozialarbeiterischen und psychotherapeutischen Maßnahmen von ihrem Wahn befreit werden müssten. Das ist nicht nur unverschämt, sondern vor allem von einer analytischen Schwäche, die in ihrer Einfallslosigkeit verblüffend ist – abgesehen davon, dass sich die Frage stellt, wer hier wirklich von welchem Wahn befreit werden muss.

Heuchelei hoch zehn

Ebenso entlarvend wie charakteristisch war am Mittwoch eine kleine Randbemerkung im Deutschlandfunk. Da fand es der Sprecher mit deutlich verfinsterter Stimme schockierend, wie radikal die Wähler ihre Stimme aus ihrer persönlichen Situation heraus abgegeben hätten. Ja, aus was denn bitte sonst, war man spontan geneigt zurückzufragen.

Zudem: TTIP abwürgen, die Nato infrage stellen, ebenso die Globalisierung und protektionistisch flankierte Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen in Gang setzen – eigentlich müsste Trump der Held von Grünen, Linkspartei und Occupy sein. Die einschlägige Kritik von dieser Seite ist Heuchelei hoch zehn.

Ein Sieg der Demokratie

Beschämend an der wütenden Kommentarorgie der vergangenen drei Tage war jedoch nicht nur die Überheblichkeit, die viele Beiträge so schwer erträglich machte, sondern vor allem ihre politische Blindheit. Allen Ernstes sahen nicht wenige politische Tiefenanalytiker die amerikanische Demokratie in Gefahr. Das mag prinzipiell der Fall sein, doch die Wahl Trumps ist dafür ein denkbar schlechter Beleg.

Denn: Wenn ein Außenseiter gegen jede Wahrscheinlichkeit und gegen den geballten Widerstand zunächst seiner eigenen Partei, deren mächtigen Repräsentanten und einflussreichen Familienclans, gegen einen Großteil der Medien, gegen den politischen Apparat und die Umfrageinstitute, getragen nur von Volkes Wille die Macht erkämpft, dann ist das – egal was man im konkreten Fall von dem Kandidaten halten mag – ein Sieg der Demokratie. Nicht mehr und nicht weniger.

Das Milieu unter der Käseglocke

Aber was demokratisch ist und was nicht, das hat hierzulande anscheinend nicht das Volk festzulegen, sondern die Profidemokaten in den Medienhäusern, Politinstituten und Parteien.

Es drängt sich ein giftiger Verdacht auf: Vielleicht hat der Hobbysoziologe Donald Trump so ganz unrecht nicht. Vielleicht es wirklich so, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten in den Medienhäusern, Parteien und akademischen Einrichtungen ein Milieu gebildet hat, das in einer weltanschaulichen Käseglocke lebt und den intellektuellen und emotionalen Kontakt zu großen Teilen der Bevölkerung verloren hat. Anders ist die weltfremde Überraschung und die zur Schau getragene Empörung kaum zu verstehen.

Man könnte das als Nebensächlichkeit abtun. Doch die Selbstgefälligkeit und die mangelnde Bereitschaft zur schonungslosen Selbstkritik, die hier all zu häufig durchscheinen, muss Unbehagen bereiten. Der Begriff „Klassenkampf“ droht eine ganz neue Bedeutung zu bekommen.

Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version dieses Textes war von „politischen Autismus" die Rede. Dies ist eine Formulierung, die das Krankheitsbild des Autismus verfälscht und Vorurteile verstärken kann. Das war nicht unsere Absicht und tut uns leid. Wir haben die Formulierung geändert

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