Matthias Herdegen - „2015 haben wir eine vorübergehende Kapitulation des Rechtsstaates erlebt“

Der Völkerrechtler Matthias Herdegen will Angela Merkel herausfordern. Ist seine Kandidatur für den CDU-Vorsitz unerhört mutig oder nur kühn und aussichtslos? Ein Gespräch über Anmaßung und den unbedingten Wunsch nach Veränderung

Matthias Herdegen (CDU): „Ein Rennen bergauf gegen die Amtsinhaberin“ / Jean Raclet
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Bastian Brauns leitete das Wirtschaftsressort „Kapital“ bei Cicero von 2017 bis 2021. Zuvor war er Wirtschaftsredakteur bei Zeit Online und bei der Stiftung Warentest. Seine journalistische Ausbildung absolvierte er an der Henri-Nannen-Schule.

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Herr Herdegen, was hat Sie zu dem einigermaßen extravaganten Schritt bewogen, gegen die seit 16 Jahren amtierende CDU-Vorsitzende Angela Merkel anzutreten?
Ich bin seit mehr als 30 Jahren Mitglied der Union und stehe als Staats-und Völkerrechtler immer nahe an der praktischen Politikgestaltung. Beim Entstehen von Gesetzen, ganz gelegentlich auch beim Verhindern von Gesetzen. Wie viele andere auch sehe ich eine inhaltliche Entkernung der CDU, den Verlust der programmatischen Mitte. Für viele potenzielle Wähler bedeutet das den Verlust der politischen Heimat.

Können Sie sich noch an den Moment erinnern, in dem Sie diesen Entschluss gefasst haben?
Das sind lange Prozesse. Wesentlich war die Überzeugung, dass endlich wieder ein innerer Kompass für die Partei sichtbar werden muss. Bestärkt hat mich, dass viele in der Partei und auch mein persönliches Umfeld die Sehnsucht nach einer Erneuerung teilen.

Hat es nicht etwas von Anmaßung von außen zu kommen und einer Partei, die seit Jahren um den Kurs und um Personen ringt, zu sagen: Ich verkörpere den inhaltlichen Aufbruch und weiß, wie der Kompass der Partei neu auszurichten ist?
Ich hätte mir gewünscht, dass es Persönlichkeiten aus der Mitte des Establishments der Partei gibt, die diesen Schritt machen. Aber das ist nicht geschehen. Also bin ich aufgestanden.

Wie haben denn das Kanzleramt oder das Adenauerhaus auf Ihre Bewerbung reagiert?
Es ist das Merkmal von Großorganisationen, dass sie auf Veränderungen und Störungen zunächst abwartend reagieren. Von daher ist es ganz natürlich, dass sie von der Kommandobrücke eines solchen Tankers zunächst keine Reaktion hören. Man tut das, was man bisher auch getan hat: Man fährt auf Sicht.

Mit Ihrem Vorhaben greifen Sie auch die Grundstrukturen der CDU an. Es gibt ja noch nicht mal ein statutarisches Verfahren, wie man Kandidat für den Parteivorsitz wird.
Die Tatsache, dass jemand gegen einen amtierenden Vorsitzenden antritt, ist für viele Funktionsträger im Parteiapparat etwas Unerhörtes. Darum bestehen auch keine ganz klaren Vorstellungen über dieses Szenario. Auch das zeigt, es gibt dringend Anlass, über eine Erneuerung der CDU nachzudenken.

Glauben Sie, dass Sie im Dezember beim CDU-Parteitag in Hamburg überhaupt noch gegen Angela Merkel antreten müssen?
Das ist eine interessante Frage. Die Beharrungskraft, die natürliche Sehnsucht nach Bewahrung vorhandener Positionen, auch die Prämie auf den Machtbesitz sprechen dafür, dass sich an der Spitze hier in kurzer Zeit nichts ändern wird. Aber es kann sehr gut sein, dass in den nächsten Wochen tektonische Verschiebungen eintreten, die niemand ganz genau vorhersehen kann.

Sie würden dann trotzdem antreten?
Meine Kandidatur ist nicht durch die Entscheidung anderer konditioniert, weder positiv noch negativ.

Das heißt, selbst wenn dieser, sagen wir mal, Zwölfender aus dem Establishment auftauchte, würden Sie sagen, ich bleibe dabei, ich trete auch an?
Diese Kandidatur steht für sich, in der Programmatik, die ich gerne mit meinem Namen verbinde. Im Übrigen stehen „Zwölfender“ nicht gerade für einen frischen Aufbruch.

Sie machen nicht den Eindruck, zu Klamauk zu neigen. Aber es gibt noch weitere Mitglieder, die gegen Merkel antreten wollen, auch einen Studenten, der erst vor kurzem in die Partei eingetreten ist. Haben Sie keine Angst, sich selbst und Ihrer Mission, die CDU von Angela Merkel zu befreien, zu schaden, weil niemand Sie und die anderen Gegenkandidaten ernst nimmt?
Ich spreche ja mit vielen Menschen, von der Basis der Partei bis in die höheren Ränge. Nicht nur dort, auch in den Medien wird meine Kandidatur geradezu mit Aufatmen wahrgenommen.

Wie viele Stimmen wollen Sie erreichen? Zehn Prozent? Zwanzig Prozent? Oder wollen Sie wirklich Frau Merkel ablösen?
Es ist offensichtlich, dass das ein Rennen bergauf gegen die Amtsinhaberin ist. Aber ich trete mit Zuversicht an und ich hätte den Schritt nicht getan, wenn ich nicht den Eindruck gehabt hätte, dass es eine breite Aufbruchsstimmung in der Partei gibt. Von tiefer Verunsicherung bis hin zu gezähmten Zorn ist alles zu spüren.

Können Sie an zwei, drei Beispielen zeigen, wo Ihre CDU, also eine Herdegen-CDU programmatisch stehen würde?
Ein innerer Kompass ist dringend erforderlich in der Asyl-, Flüchtlings- und Einwanderungspolitik. Wir müssen hier fragen: Wie wollen wir diese Zuwanderungen jeweils steuern? Machen wir es wie Kanada oder anders? All das ist nicht der Entscheidung im Jahre 2015 und deren Folgen vorausgegangen. Wir haben ausgerechnet jene Menschen angezogen, die in ihren eigenen Ländern unbedingt gebraucht werden. Darum halte ich eine viel energischere Entwicklungspolitik für notwendig, die den Menschen „good governance“ und eine wirtschaftliche Perspektive in der Heimat bringt.

Hätten Sie denn 2015 die Grenzen geschlossen?
Was 2015 nicht hätte geschehen dürfen, ist der Eindruck eines weitgehenden Kontrollverlustes des Staates und den damit verbundenen Anreizen. Diese haben dazu geführt, dass sich Hunderttausende nach Deutschland aufgemacht haben.

Sie sind doch Völkerrechtler. Es gibt Politiker, die sagen, was Angela Merkel gemacht hat, war ein Rechtsbruch – teilen Sie diese Einschätzung?
Man muss mehrere Ebenen unterscheiden: Wir haben ein europäisches Asylregime, das durchaus erlaubt, dass ein an sich gar nicht zuständiger Staat Asylanträge bescheidet. Das ist aber nicht als Typik gedacht. Es war nicht so gemeint, dass Deutschland eine unüberschaubare Zahl von Menschen unter seine Zuständigkeit und dauernde Verantwortlichkeit bringt, die über einen anderen EU-Staat eingereist sind. Aber genau das ist geschehen. Wir haben ein Sonderregime zur allgemeinen Zuständigkeitsregel erklärt und andere europäische Länder so entlastet. Damit haben wir das System von Dublin faktisch wirkungslos werden lassen und bemühen uns seitdem ohne Erfolg darum, ein neues System zu zimmern.

Dann hatte Horst Seehofer mit seiner Kritik an Angela Merkels Politik als „Herrschaft des Unrechts“ etwa recht?
Ein Staat muss die Kontrolle über seine Grenzen und sein Territorium gewährleisten und auch darüber, wer in die Gesellschaft einwandert. 2015 haben wir eine vorübergehende Kapitulation des Rechtsstaates erlebt. Man muss bei der Kritik aber nicht gleich verbale Überhöhungen bemühen, wie „Herrschaft des Unrechts“. Solche Begriffe würde ich eigentlich gerne den Diktaturen des „Dritten Reiches“ oder dem Regime der DDR vorbehalten.

Das Migrationsthema allein dürfte die CDU aber nicht entkernt haben.
Auch bei der Wirtschafts-und Sozialpolitik hat die Mitte der Gesellschaft den Eindruck gewonnen, dass ihr die Politik den Rücken gekehrt hat. Aus dem Bundesgesetzblatt der letzten fünf Jahre geht hervor, dass in der Großen Koalition im Wesentlichen sozialdemokratische Vorstellungen verwirklicht wurden. Möglicherweise wäre es um die Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland besser bestellt, wenn in weiten Bereichen der Wirtschafts-und Sozialpolitik das Bundesgesetzblatt aus leeren Seiten bestünde.

Was hätten Sie reingeschrieben?
Wir müssen der Mittelschicht mehr – auch finanzielle – Luft zum Atmen geben. Die letzten Steuersenkungen hatten wir unter der Regierung Schröder. Eine ständige Mehrbelastung kann kein Programm einer CDU/CSU-geführten Regierung sein. Auch das Thema alleinerziehender Mütter und Väter ist kein Randthema mehr. Statt mit der Gießkanne herum zu gehen, und hier mal zehn Euro und da fünfzehn Euro mehr zu geben, muss man ein markantes Zeichen setzen. Etwa durch die Verdopplung des Kindergeldes für Alleinerziehende.

Und wie steht eine Herdegen-CDU zu Europa?
Es genügt nicht, von Europa und von der Vertiefung der europäischen Integration zu sprechen, ohne Vorstellungen davon zu entwickeln, wohin dieses Europa sich entwickeln soll. Wo sind etwa die Grenzen der Solidarität in der Währungsunion? Man könnte durch finanziellen Beistand ein gewisses Zeitfenster für Reformschritte vor allem für die mediterranen Länder öffnen, aber wir müssen auch deutlich machen, dass sich dieses Zeitfenster irgendwann schließt. Die Politik des billigen Geldes gefährdet die Altersversorgung von Millionen Deutschen.

Ihre Vision von Europa ist also die nationale Eigenverantwortung?
Wir brauchen eine Balance von Solidarität und Eigenverantwortung. Aber die Bundesregierung muss endlich ein eigenes Konzept entwickeln. Wie sieht es denn aus mit der deutschen Antwort auf die Vorschläge von Präsident Macron?

Sind die Zeiten nicht zu komplex für schnelle und einfache Antworten?
Eine Politik des situativen Moderierens kann dazu führen, dass vorübergehend Konflikte befriedet werden. Sie ändert aber nichts daran, dass Sie am Ende die Kosten Ihrer Entscheidungen tragen müssen, auch wenn diese erst sehr viel später sichtbar werden. Hier muss zumindest der Versuch einer Folgenabschätzung gemacht werden. Grade bei der Politik des billigen Geldes sehen wir erst mit einer beachtlichen Zeitverschiebung, was das für die Lebensplanung von Millionen von Menschen bedeutet. Solidarität hat Folgewirkungen, die nicht sofort sichtbar werden: die drohende Spaltung der europäischen Union, das Auseinanderdriften Ost-Mitteleuropas, des mediterranen Europas, ist ein großes Thema. Es ist wichtig, dass die Europäische Gemeinschaft und die Europäische Union uns Jahrzehnte des Friedens beschert haben. Aber als Antwort auf die drängenden Zukunftsfragen ist das einfach nicht mehr genug.

Am Sonntag wird in Hessen gewählt. Welchen Ausgang wünschen Sie sich denn mit Blick auf ihre Kandidatur?
Ich wünsche mir ganz unabhängig von meiner Kandidatur, dass die CDU die bestimmende Regierungskraft in Hessen bleibt.

Man könnte sagen, der Verdruss an Frau Merkel würde zunehmen, wenn die CDU mit Ministerpräsident Bouffier an der Spitze in Hessen auf 25 Prozent fällt. Dann könnten Sie sagen, ich, Herdegen, bin ja gegen den Kurs der Bundeskanzlerin, also sehe ich mich in diesem hessischen Wahlergebnis bestätigt.
Meine Motivation ist ja wesentlich davon getragen, dass ich wie viele in der CDU das verbliebene Fundament der christlich-demokratischen Union als Volkspartei bewahren und fortentwickeln möchte. Daher kann auch ich nur das Interesse haben, dass die CDU in Hessen weiter den – im Lande sehr angesehenen – Ministerpräsidenten stellt. Alles andere wäre zudem reichlich zynisch.

Wie lange geben Sie der Großen Koalition noch?
Wir sind jetzt in der letzten Phase einer Großen Koalition, von der wir trotzdem nicht wissen, wie lange sie dauern wird. Seit der Bundestagswahl 2017 gehörte ich zu den Verfechtern einer nur von der CDU und CSU getragenen Minderheitsregierung. Dies würde auch das Parlament wieder ins Zentrum des politischen Geschehens rücken.

Warum profitiert die CDU nicht von der akuten Schwindsucht der SPD?
Ja, das Schwinden der SPD lässt der Union viel Raum in der Mitte. Aber um diesen Raum muss sie kämpfen. Sie muss einerseits die AfD austrocknen und verloren gegangene Wähler zurückgewinnen. Sie muss sich aber auch Gedanken machen über den Stil ihrer Politik gegenüber kraftstrotzenden Grünen, die mit sich völlig im Reinen sind und zusätzlich ein Bedürfnis nach moralischer Überlegenheit in der Gesellschaft erfolgreich bedienen. Dieser Wohlfühlpartei wird die Union nur dann erfolgreich entgegentreten können, wenn sie selbstbewusst mit einem eigenen klaren Gesellschaftsmodell in den Wettbewerb eintritt. Die CDU muss jene Zielkonflikte deutlich machen, die sich nicht in allgemeinem Wohlgefühl auflösen lassen.

Mitarbeit: Alexandra von Michel

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