Martin Schulz und die SPD - Angriff als einzige Chance

Martin Schulz will Bundeskanzler werden. Doch die Bundestagswahl kann er nur gewinnen, wenn er Merkel dazu zwingen kann, im Wahlkampf nach neuen Regeln zu spielen

Als Merkel-Versteher kann Martin Schulz nur verlieren / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Sonntag war Martin-Schulz-Tag. Erst kam die Rede in der Parteizentrale, anschließend folgten zwei Fernsehauftritte zur besten Sendezeit. Die gute Nachricht: Der frisch gekürte Kanzlerkandidat der SPD machte keinen entscheidenden Fehler. Seine Rede bot von Steuern über Bildung bis Rente das bekannte Repertoire, programmatische Überraschungen gab es keine. Schulz redete wie der scheidende Parteichef Gabriel an besseren Tagen, von einer Ausnahme abgesehen und davon wird noch zu reden sein.

Über Nacht zum Liebling der SPD

Schulz präsentierte sich also als guter Sozialdemokrat, dazu kämpferisch, menschelnd, selbstbewusst. Die Demut vor der Herausforderung ließ ihn dabei ein wenig unsicher und dadurch sympathisch wirken. Quasi über Nacht ist Martin Schulz so zum Liebling der Partei geworden. Und wie sehr Sigmar Gabriel die SPD gelähmt hat, zeigt sich jetzt, wo er abgetreten ist. Die Genossen sind begeistert, die Umfragewerte für die SPD zeigen leicht steigende Tendenz, im Kandidatenduell liegt Schulz gleichauf mit Merkel. „Ich trete mit dem Anspruch an, Bundeskanzler zu werden“, sagt Martin Schulz, was soll er auch sonst sagen. Viel gewonnen hat er allerdings noch nicht.

Immerhin: Unfallfrei in eine Wahlkampagne zu starten, ist für die SPD schon eine ganze Menge. 2009 Jahren stand am Anfang die Schlacht am Schwielowsee, bei der Parteichef Kurt Beck gestürzt wurde. Kanzlerkandidat Frank-Walter Steinmeier litt fortan vor allem innerhalb der eigenen Reihen unter dem Image des Königsmörders. Vier Jahre später hatte Peer Steinbrück in den ersten Tagen seiner Kanzlerkandidatur schon so viele Fehler gemacht, dass die Wahl für ihn verloren war, bevor der Wahlkampf richtig begonnen hatte. Steinbrück musste sich für seine Nebeneinkünfte in Millionenhöhe rechtfertigen. Er brachte die Parteilinke mit seiner Forderung nach programmatischer Beinfreiheit gegen sich auf und war nach ein paar Wochen schon so angeschlagen, dass seine Genossen ihrem Kandidaten ein Programm ohne Beinfreiheit verpassten. In dessen Mittelpunkt stand die wenig populäre Forderung nach Steuererhöhungen, die nicht zu Steinbrück passte. Der Rest war Quälerei.

Noch ist für Schulz nicht viel gewonnen

Doch gewonnen ist mit dem unfallfreien Auftakt für Martin Schulz und die SPD noch nicht viel. Auch drei Punkte mehr bei der Sonntagsfrage sind nichts, angesichts der Herausforderung, vor der die SPD in den kommenden acht Monaten steht. Die entscheidenden Fragen, die die SPD und Martin Schulz beantworten müssen, lauten: Wo sollen die Wähler herkommen, mit denen die SPD zur stärksten Partei wird und ein Sozialdemokrat Bundeskanzler? Und: Wie will Schulz gegen Merkel punkten? Eine Antwort auf diese Fragen hat Schulz bislang nicht gegeben.

Die Zahlen sprechen eine eindeutige Sprache. Bei der Bundestagswahl 2013 wählten 25,7 Prozent beziehungsweise 11,3 Millionen Deutsche die SPD, die Union gewann 18,2 Millionen Wähler, also 6,9 Millionen beziehungsweise 15,7 Prozentpunkte mehr. Die Wahlbeteiligung lag bei 71,5 Prozent. Möglich ist es tatsächlich, den Rückstand aufzuholen. Das Wählerpotenzial der SPD liegt bei mehr als 40 Prozent. Das heißt, es gibt fast doppelt so viele Wähler, die sich vorstellen können, SPD zu wählen, als es aktuell tun würden. Als die SPD unter Gerhard Schröder 1998 zum bislang letzten Mal einen triumphalen Wahlsieg feierte, mobilisierte sie 20 Millionen-Wähler. Aus diesem Potenzial speisen sich auch die Erfolge der SPD bei den Landtagswahlen, immerhin stellt die Partei neun von 16 Ministerpräsidenten. Auf der anderen Seite hat die Union ihr Wählerpotenzial mit ihren 41,5 Prozent bei der Bundestagswahl 2013 ziemlich ausgeschöpft.

Es ist nach dem Martin-Schulz-Tag noch nicht erkennbar, wie die SPD das ändern will. Auch nach der Kür von Martin Schulz zum Kanzlerkandidaten und trotz der Euphorie, die er in seiner Partei entfacht hat, bleibt die SPD strategisch in der Defensive.

Strategische Nachteile des Kandidaten Schulz

Das hat drei Gründe:

Erstens gibt es in der Bevölkerung keine Anti-Merkel-Stimmung. Die Popularitätswerte der Kanzlerin sind weiterhin hoch, vor allem in Sachen Kompetenz hat sie einen deutlichen Vorsprung gegenüber dem Herausforderer. Schröder konnte 1998 vor allem deshalb gewinnen, weil sich im Wahlvolk eine massive Kohl-muss-weg-Stimmung verbreitet hatte. „Merkel muss weg“ skandieren derzeit nur die Anhänger der AfD. Die SPD hingegen ist ein braver Juniorpartner in der Großen Koalition und steht von der Flüchtlingspolitik über Europa bis zum Islam gerade bei den Themen, die der AfD die Wähler zutreibt, treu an der Seite der Kanzlerin.

Zweitens hat die SPD keine Machtperspektive jenseits der Großen Koalition. Rot-Grün ist Vergangenheit, die Linkspartei ist regierungsunfähig und Rot-Rot-Grün ohne gesellschaftliche Akzeptanz. Die Union wird also, wie schon seit 1994 in jedem Wahlkampf, mit den roten Socken wedeln und so das Dilemma der Sozialdemokraten auf ein leicht zu verstehendes Symbol reduzieren. Die CDU hingegen hat weiterhin verschiedene Machtoptionen, sie kann auf die Fortführung der Großen Koalition setzen, auf die Rückkehr der FDP und auf eine Neuauflage von Schwarz-Gelb, auch ein Bündnis mit den Grünen wäre möglich. Die SPD hingegen kann die Ampel-Karte im Wahlkampf selbst nicht spielen, weil ihr Gerechtigkeitswahlkampf dann ein Glaubwürdigkeitsproblem bekäme.

Drittens hat die SPD ihre Politik in der Großen Koalition und auch ihre Rhetorik in den vergangenen drei Jahren völlig darauf ausgerichtet, die weitere Erosion ihrer Wählerbasis zu stoppen. Das ist ihr mehr recht als schlecht gelungen, aber es ist keine Strategie in Sicht, wie die SPD enttäuschte Wähler zurückgewinnen will. Zumal die SPD ja in alle Richtungen verloren hat, an die Union und an die Grünen, an die Linkspartei und an die AfD. Am ehesten wird die SPD die enttäuschten Sozialdemokraten unter den Nichtwählern zurückgewinnen können. Auch viele Rot-Grün-Wähler lassen sich in einem zugespitzten Wahlkampf gewinnen, das hat zuletzt die Landtagswahl in Rheinland-Pfalz gezeigt. Danach wird es schwierig. Denn die Gründe, warum ehemalige SPD-Wähler zu den Linken, zur AfD oder zur Union abgewandert sind, sind durchaus unterschiedlich. Es sind nicht nur traditionelle sozialdemokratische Wähler, denen die SPD zuletzt wirtschaftlich zu liberal und kulturell zu modern war. Genauso viele Wähler gibt es in der Mitte, die der SPD nicht die Hartz-IV-Reformen übel nehmen, sondern die Abkehr davon, nicht die Rente mit 67, sondern die Rente mit 63.

Bisher findet SPD kein Rezept

Bei den Wahlkämpfen 2009 und 2013 hat die SPD kein Rezept gefunden, aus dieser dreifachen Defensive auszubrechen. Steinmeier war zu brav und Steinbrück von Anfang an angeschlagen. Die Spielregeln im Wahlkampf hat die Union bestimmt und die SPD vorgeführt. Das Ergebnis ist bekannt, am Ende standen 23 Prozent und 25,7 Prozent sowie eine demoralisierte Partei.

Bislang hat Martin Schulz auf die drei Herausforderungen eher zurückhaltend und ausweichend reagiert. Er hat Merkel nicht direkt angegriffen, sondern auf die Zerstrittenheit der Union verwiesen, er hat das Thema soziale Gerechtigkeit klassisch sozialdemokratisch dekliniert: gerechte Löhne, kostenlose Bildung, bezahlbare Mieten, sichere Renten, dazu Kampf gegen Steuerflucht. Und er hat erklärt, er wolle mit den Parteien regieren, die bereit seien, mit ihm als Bundeskanzler mehr sozialdemokratische Politik zu machen als die Große Koalition. Eine so vage Ankündigung wird nicht reichen, um stärkste Partei zu werden und Merkel aus dem Kanzleramt zu verdrängen.

Schulz muss CDU seine Spielregeln aufzwingen

Will Martin Schulz tatsächlich die Bundestagswahl gewinnen, muss er aus den ritualisierten Auseinandersetzungen im Wahlkampf ausbrechen und der Union im Spiel um die Macht seine Spielregeln aufzwingen. Wenn es stimmt, was Sozialdemokraten verkünden, dass Merkel anders als 2009 und 2013 im Jahr 2017 angreifbar ist und wenn es stimmt, dass die Union schlagbar ist, dann muss Schulz die Union da angreifen, wo Merkel und die Union verwundbar sind.

Dazu braucht Schulz im Wahlkampf ein dickes Fell. Rote Socken-Kampagnen darf er nicht fürchten, auch Rot-Rot-Grün muss für ihn eine Option sein, trotz der fundamentalistischen Ausfälle von Sahra Wagenknecht und Katja Kipping. Populismusvorwürfe müssen ihm egal sein und im Zweifelsfall muss er sich von der Regierung, in der die SPD seit drei Jahren Juniorpartner ist, distanzieren. Hinzu kommt: Er muss AfD-Wählern ein politisches Angebot machen, auch wenn die Jusos jaulen werden. Dazu muss Schulz den Rechtspopulisten zwar nicht nach dem Mund reden, aber er muss Verständnis für die Motive der Wähler haben, die von der SPD genauso enttäuscht sind wie von allen etablierten Parteien.

Als Merkel-Versteher kann Schulz nicht gewinnen

Merkel ist schlagbar. Ihr haftet das Image einer emotionslosen Technokratin an, die Politik nicht erklären kann. Sie hat in der Flüchtlingspolitik einen fundamentalen Fehler begangen, der das Land spaltet und die AfD stark macht. Die Basis der CDU ist extrem verunsichert. Mehr Sozialdemokratisierung kann sie dieser nicht zumuten. Die CSU kann den Bruch mit der Schwesterpartei nur mühsam kitten.

Gabriel hatte zuletzt sehr gut verstanden, wo Merkels Wunde liegt. In dem Rücktrittsinterview im Stern hat er vergangene Woche zwar die humanitäre Leistung Deutschlands bei der Aufnahme von knapp einer Million Flüchtlinge gewürdigt. Aber er hat auch er von Merkels „Naivität“ gesprochen, vom „Kontrollverlust“ mit Blick auf die „massenhafte unkontrollierte Zuwanderung“. Er hat eingeräumt, die wachsende Verunsicherung durch die Flüchtlingszuwanderung habe auch die SPD getroffen, ein Teil der SPD-Wähler sei zur AfD gewechselt. Schulz hingegen stellte sich in der Flüchtlingspolitik hinter Merkel, verteidigte ihren Türkei-Deal, sah die Schuld eher bei den europäischen Nachbarn und betonte die Rolle der SPD als Bollwerk gegen den Rechtspopulismus.

Als Merkel-Versteher wird Schulz die Bundestagswahl nicht gewinnen. Vermutlich weiß Schulz am besten selbst, dass der Sonntag erst der Anfang war. Dass da noch viel mehr kommen muss und der Beifall in der Parteizentrale nicht viel wert ist. Die Euphorie der Genossen wird alleine nicht reichen, um in einem harten Wahlkampf zu bestehen. Der letzte Parteivorsitzende, der die SPD so in Verzücken versetzte wie jetzt Schulz, hieß übrigens Matthias Platzeck. Mit 99,4 Prozent wurde er im November 2005 zum Parteivorsitzenden gewählt. Doch schon nach fünf Monaten trat Platzeck zurück. Offiziell aus gesundheitlichen Gründen, tatsächlich jedoch war der nette Vorsitzende mit dem Schwiegersohnimage den Herausforderungen des Amtes in einer zerstrittenen Partei nicht gewachsen. 

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