Martin Schulz und die Medien - Vor lauter Hype die Realität nicht gesehen

Kolumne: Grauzone. Nach nicht einmal vier Monaten ist der „Schulzzug“ zum Stehen gekommen. Doch die eigentlichen Verlierer der letzten Wochen sind nicht Martin Schulz und seine orientierungslose SPD – es sind die Medien, wieder einmal

Medienrealität unterscheidet sich von der wirklichen Realität – die Medien sollten das wissen / picture alliance
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Alexander Grau ist promovierter Philosoph und arbeitet als freier Kultur- und Wissenschaftsjournalist. Er veröffentlichte u.a. „Hypermoral. Die neue Lust an der Empörung“. Zuletzt erschien „Vom Wald. Eine Philosophie der Freiheit“ bei Claudius.

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Kann sich noch jemand erinnern? Es war der 24. Januar dieses Jahres. Da präsentierte die SPD ihren Kanzlerkandidaten und Parteivorsitzenden in spe. Ein gut eingefädelter Schachzug des damaligen Vorsitzenden Sigmar Gabriel, keine Frage. Tatsächlich wurde die CDU kalt erwischt. Doch was dann folgte, sprengte alle Dimensionen. Vom „Gottkanzler“ war bald die Rede, der „Schulz-Zug“ rollte, und bei Twitter entwickelte sich, lanciert von dem Reddit-Forum „The_Schulz“, ein Hype, wie ihn Deutschland bisher noch nicht erlebt hatte. Der Ex-Buchhändler aus Würselen wurde zum „Robin Hood“ oder auch gleich zur „geilen Sau“ hochgejazzt. Es war zum Fremdschämen. Wem er diese inszenierte spontane Anfangseuphorie verdankte, wusste Martin Schulz genau, und so bedankte er sich auch brav und umgehend bei den Reddit-Usern.

Etablierte Medien fallen auf Hype hinein

Doch damit nicht genug. Dass Parteianhänger im Netz eine Kampagne lostreten, ist die eine Sache. Dass die etablierten und traditionellen Medien darauf anspringen, die Inszenierung nicht als solche durchschauen und so aus dem hysterischen Internet-Gezwitscher erst einen Hype machen, den sie als reale Stimmung missdeuten – das ist etwas ganz anderes. Es war ein Armutszeugnis. Und die Strafe folgte auf dem Fuß.

Nun ist der Katzenjammer groß und derjenige, der gestern noch über Wasser wandeln konnte, steht als begossener Pudel dar. Dumm gelaufen. Doch die eigentlichen Verlierer der letzten Wochen sind nicht einmal Martin Schulz und seine orientierungslose SPD – es sind, wieder einmal, die Medien.

Zum „Sankt Martin“ erklärte der Spiegel Schulz Ende Januar. Nur zwei Wochen später legte er nach und zeigte auf seinem Titel einen neckischen Kandidaten, der eine zur grauen Statue erstarrte Angela Merkel vom Sockel stupst. Titel: „Merkeldämmerung. Kippt sie?“ Noch auftrumpfender gab sich der Stern, der Schulz gleich zum „Eroberer“ erklärte, in stürmischer Hurra-Pose mit roter Fahne in der Hand. Wäre das alles nicht so lächerlich und so leicht zu durchschauen gewesen, man hätte verzweifeln müssen.

Welch geradezu groteske Züge die Schulz-Mania unter deutschen Presseschaffenden auslöste, bewies exemplarisch ein bekannter Stern-Kolumnist, der sich ernsthaft fragte, woher der plötzliche Wählerzustrom komme – Monate bevor auch nur ein Wähler seine Stimme abgegeben hatte. Doch dann kamen die Wahlen im Saarland, in Schleswig-Holstein und in Nordrhein-Westfalen, und die Schulz-Fans in den Medienhäusern wurden brutalstmöglich auf den Boden der Tatsachen zurückgeholt. Vorbei „Eroberer“, passé „Merkeldämmerung“, adieu „Wählerzustrom“. So kann’s gehen.

Medien geben Themen vor – keine Meinung

Denn Medienrealität und Realität sind zwei sehr verschiedene Dinge. Wer sie verwechselt, verliert schnell die Orientierung. Dies gilt erst recht im Zeitalter von Twitter und Co. Doch allzu viele Medienschaffende unterliegen der Faszination der scheinbaren Authentizität der 140 Zeichen.

Zunehmend ersetzt der Blick auf Twitter die nüchterne Analyse und die Wahrnehmung der Wirklichkeit. Man nimmt Medieninszenierungen für bare Münze und das sich kumulierende Gezwitscher für den Ausdruck tatsächlicher Stimmungen. Ein verhängnisvoller Irrtum. Das Ergebnis ist eine Stimmungsblase, hervorgerufen durch die neuen und angeheizt durch die traditionellen Medien. Der Rest sind wechselseitige Verstärkungseffekte und ein damit einhergehender Realitätsverlust.

Dass ausgerechnet Medienschaffende diese einfachen Mechanismen nicht durchschauen und Opfer der Logik ihrer eigenen Branche werden, ist dabei die eigentliche Pointe. Schon 1963 hatte der Politikwissenschaftler Bernhard C. Cohen darauf hingewiesen, dass Medien im Grunde nicht in der Lage sind, Meinungen zu manipulieren. Auf eine einfache Formel gebracht: Medien geben Themen vor. Was die Menschen aber über diese Themen denken, entzieht sich – zum Glück – ihrem Einfluss. Empirisch überprüft wurde diese These durch den Kommunikationswissenschaftler Maxwell McCombs in seiner berühmten Chapel-Hill-Studie von 1968

Wahlkämpfe werden unberechenbarer

An den Grundeinsichten dieser unter dem Namen Agenda-Setting bekannt gewordenen Theorie hat sich auch im Zeitalter des Internets nichts geändert. Im Gegenteil: Vieles spricht dafür, dass sich entsprechende Effekte noch verstärkt haben. Das macht Wahlkämpfe anspruchsvoller, weil unberechenbarer. Denn ein Thema – etwa den Gottkanzler – zu setzen, ist leicht. Doch was die Menschen daraus machen, ist schwer zu steuern. Und ist der Geist einmal aus der Flasche, ist er nicht mehr einzuholen.

Medienschaffende sollten das wissen. Es ist ihr kleines Einmalseins. Doch geblendet durch die neuen technischen Möglichkeiten und berauscht von dem Willen, auf der Höhe der Zeit zu sein, vergisst man die Regeln und Grenzen medialer Kommunikation. In einer Zeit, in der nicht wenige Menschen ohnehin mit Skepsis auf „die Medien“ schauen, eine unglückliche Entwicklung.

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