Nach Machtübernahme durch Taliban - Streit um Evakuierungspläne afghanischer Ortskräfte

Überrumpelt von der Machtübernahme der Taliban werden aktuell Deutsche aus Kabul ausgeflogen. Doch afghanische Ortskräfte müssten um ihr Leben fürchten, kritisiert die Opposition die Bundesregierung. Dabei habe diese vier Monate Zeit gehabt für Evakuierungspläne.

Die Bundesverteidigungsministerin verteidigt die Evakuierungspläne für afghanische Ortskräfte / dpa
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Kanzlerin Angela Merkel (CDU) hat angesichts der faktischen Machtübernahme der militant-islamistischen Taliban in Afghanistan von „bitteren Stunden“ gesprochen. Nach Informationen der Deutschen Presse-Agentur (dpa) machte die scheidende Regierungschefin am Montag in einer Sitzung des CDU-Präsidiums deutlich, wie wichtig die gerade angelaufene Aktion der Bundeswehr zur Rettung von deutschen Staatsangehörigen, Angehörigen der Botschaft und Ortskräften sei.

In einer anschließenden Sitzung des größeren CDU-Vorstands sagte Merkel laut Teilnehmerkreisen, die Bundesregierung habe vor Monaten bereits 2.500 Ortskräfte in Afghanistan identifiziert. Bei 600 davon wisse man derzeit nicht, ob sie in Drittstaaten seien. Weitere 2.000 Menschen habe die Bundesregierung identifiziert, die ebenfalls ausreisen sollten, wie etwa Menschenrechtler und Anwälte. Insgesamt gehe es bei dieser Gruppe um 10.000 Menschen, da die Familienmitglieder mitgerechnet würden. Man habe auch die Hilfsorganisationen vor Ort weiterhin unterstützen wollen, betonte Merkel. Dies sei nun schwierig.

Vor allem für Frauen „bittere Ereignisse“

Die Kanzlerin wurde aus den Teilnehmerkreisen weiter mit den Worten zitiert: „Wir evakuieren nun in Zusammenarbeit mit den USA die Menschen. Ohne die Hilfe der Amerikaner könnten wir so einen Einsatz nicht machen.“ Für die vielen, die auf Fortschritt und Freiheit gebaut hätten – vor allem die Frauen – , seien es „bittere Ereignisse“. Man müsse mit den Nachbarländern zusammenarbeiten, um humanitäre Bedingungen zu schaffen. Man solle „alles tun, um den Ländern dabei zu helfen, die Geflüchteten zu unterstützen“. Das Thema werde „uns noch sehr lange beschäftigen“.

Nach weiteren Informationen aus Teilnehmerkreisen lobte Merkel in der Vorstandssitzung den 20-jährigen Bundeswehreinsatz in dem Krisenland. „Unsere Soldaten haben einen tollen Job gemacht“, sagte sie demnach. Das Mandat für den Einsatz sei bis Januar 2022 gegangen – aber man sei abhängig von den USA gewesen. Die US-Regierung hatte sich zu einem schnellen Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan entschieden und damit auch den schnelleren Rückzug etwa der Bundeswehr aus dem Land ausgelöst.

AKK: „Konzentrieren uns auf Evakuierungsoperation“

Die Bundeswehr wird ihren Evakuierungseinsatz in Afghanistan nach Angaben von Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer (CDU) so lange wie möglich fortsetzen. Am Ende gehe es darum, dass die Bundeswehr die Luftbrücke gemeinsam mit den internationalen Partnern so lange wie möglich aufrechterhalten könne, „um so viele Menschen wie möglich herauszuholen“, sagte Kramp-Karrenbauer am Montag nach Sitzungen der CDU-Spitzengremien in Berlin. Auf genaue Zahlen bei den zu rettenden Menschen wollte sie sich nicht festlegen. „Die Zahl ist im Moment schwer zu beziffern. Sie schwankt.“

Es gebe jene Gruppe der Ortskräfte der Bundeswehr, die identifiziert seien, die zum Teil am Flughafen seien und das Land noch nicht verlassen hätten, sagte Kramp-Karrenbauer. Darüber hinaus gebe es auch Listen der anderen Ressorts der Bundesregierung über Ortskräfte sowie das Botschaftspersonal. Zudem gebe es weitere Menschen, die als Unterstützer besonders herausgehoben gewesen seien. Diese Listen würden vor Ort geführt.

Seit dem Morgen würden drei Flugzeuge vom Typ A400M nach beziehungsweise in die Nähe von Kabul verlegt, unterstrich die Ministerin. An diesem Nachmittag sollten weitere Truppentransporte folgen. Die Bundeswehr werde mit einem robusten Mandat „solange es die Möglichkeiten vor Ort zulassen, so viele Menschen wie möglich aus Kabul, aus Afghanistan rausholen. Das ist der Auftrag der Bundeswehr“, sagte die Verteidigungsministerin. Dies hänge extrem von der Unterstützung durch die US-Seite ab.

Zugleich warnte Kramp-Karrenbauer indirekt vor einer parteipolitischen Instrumentalisierung der Lage in Afghanistan: „Es wird vieles zu diskutieren sein, auch über diesen Einsatz. Aber das hat aus meiner Sicht zuerst einmal noch etwas zu warten, bis wir die große militärische Evakuierungsaktion abgeschlossen haben.“

Opposition kritisiert Umgang der Bundesregierung mit Ortskräften

Die Linke im Bundestag fordert, dass sich Kanzlerin Angela (CDU) in einer Regierungserklärung zu der Entwicklung äußern soll, wie die Abgeordnete Sevim Dagdelen der dpa sagte. Zudem hat die Partei die Bundesregierung aufgefordert, Ortskräfte und Frauenrechtlerinnen aus Afghanistan auszufliegen. „An die Bundesregierung: Holt jetzt die Leute raus!“, schrieb Parteichefin Susanne Hennig-Wellsow am Montag bei Twitter.

 

Der Spitzenkandidat der Linken, Dietmar Bartsch, forderte eine Kraftanstrengung, um eine „weitere humanitäre Katastrophe abzuwenden“.

 

Dazu habe Deutschland „als bisherige Kriegspartei“ dort „die verdammte Pflicht und Schuldigkeit“, schrieb er bei Twitter. Auf Nachfrage sagte er, Deutschland müsse afghanische Ortskräfte und Frauenrechtlerinnen „schnell und sicher“ aus dem Land holen. Auch Bartsch forderte, wie zuvor bereits Unionspolitiker, einen EU-Sondergipfel zur Lage in Afghanistan.

„Wenn Einsätze wie in Afghanistan in so einem Desaster enden, ist die Frage überfällig, was dieser Interventionismus soll“, schrieb Hennig-Wellsow.

Der verteidigungspolitische Sprecher von Bündnis 90/Die Grünen, Tobias Lindner, schrieb am vergangenen Sonntag auf Twitter, die Bilder aus Kabul würden wütend und traurig zugleich machen. „Seit mehr als 4 Monaten wissen wir vom Ende des Afghanistan-Einsatz. So viel Zeit, um sicher und geordnet Ortskräfte zu evakuieren.“ Stattdessen könne „bürokratisches Kleinklein der Bundesregierung“ Menschenleben kosten.

 


Klöckner: Maas habe Lage falsch eingeschätzt

Die stellvertretende CDU-Vorsitzende Julia Klöckner hat Außenminister Heiko Maas (SPD) wegen der aktuellen Entwicklung in Afghanistan kritisiert. „Der Außenminister hat die Lage wirklich falsch eingeschätzt“, sagte Klöckner am Montag beim Eintreffen zu Beratungen der CDU-Spitzengremien in Berlin. Deshalb müsse nun sehr schnell gehandelt werden. „Es wird auf die nächsten Stunden ankommen“, sagte Klöckner und ergänzte, es werde „darauf ankommen, jetzt unsere Leute rauszuholen“, und auch jene, die Deutschland vor Ort unterstützt hätten.

Sie erwarte, dass sich Maas mit den EU-Außenministern noch heute abstimme, sagte Klöckner. Ihre Parteikollegin und Verteidigungsministerin Annegret Kramp-Karrenbauer nimmt sie dagegen in Schutz, diese habe gehandelt und sei mit der Bundeswehr in Afghanistan, um vor Ort zu helfen. Klöckner fügte hinzu, sie sei enttäuscht über das Vorgehen etwa der USA oder Kanadas in Afghanistan. Auch deswegen müsse man sich dringend europäisch abstimmen. Die militant-islamistischen Taliban hatten im Eiltempo die Kontrolle in Afghanistan erlangt, nachdem internationale Truppen abgezogen waren.

Strobl: Pakistan und Iran unterstützen, um Flüchtlingswelle zu verhindern

Flüchtlingsbewegungen wie im Jahr 2015 dürften sich nicht wiederholen, warnte Klöckner. Deshalb sei die Absprache in der Staatengemeinschaft wichtig. 2015 und danach hatte eine große Flüchtlingsbewegung nach Deutschland zu einer schweren innenpolitischen Krise geführt. Alle wüssten, was es vor allem für Frauen und Mädchen bedeute, dass die militant-islamistischen Taliban das Land ohne großen Widerstand der dortigen Regierungstruppen „ins Mittelalter zurückbomben. Das heißt Vergewaltigung, das heißt Erniedrigung, das heißt am Ende: keine Schule, kein Studienabschluss gerade für Frauen und Mädchen“, sagte Klöckner.

Der baden-württembergische Innenminister und stellvertretende CDU-Bundeschef, Thomas Strobl, sagte, jene Frauen und Männer, die die deutschen Soldaten in den vergangenen Jahren unterstützt hätten, müssten aus Afghanistan geholt werden. „Da zählt wirklich jede Stunde. Wir dürfen diese Menschen, die in Todesgefahr sind, jetzt nicht alleine lassen.“

Davon zu trennen sei, dass in Deutschland nicht alle Probleme gelöst werden könnten, die in Afghanistan nun entstünden, sagte Strobl. Deswegen müssten jetzt sehr rasch jene Nachbarländer Afghanistans wie Pakistan oder Iran europäisch und international unterstützt werden, in die viele Afghanen vor dem Terror der Taliban flüchten würden. Notwendig sei, dass die Geflüchteten in diesen Ländern eine Perspektive sehen könnten. „2015 darf sich nicht wiederholen. Wir haben unsere Lektion gelernt“, sagte auch Strobl.

Widmann-Mauz: Aufnahme in Nachbarländern nötig

Die Integrationsbeauftragte der Bundesregierung, Annette Widmann-Mauz (CDU), hat eine Versorgung afghanischer Flüchtlinge in der Region gefordert. „Die Lage in Afghanistan ist verheerend“, erklärte sie am Montag. „Jetzt muss es darum gehen, die Botschaftsangehörigen und die Ortskräfte mit ihren Kernfamilien schnell in Sicherheit zu bringen“ dabei dürften die Frauen und Mädchen nicht vergessen werden. Sie fügte hinzu: „Die Staatengemeinschaft muss jetzt alles dafür tun, die Nachbarländer in die Lage zu versetzen, Schutzbedürftige aufzunehmen und eine humanitäre Versorgung aufzubauen.“

Die militant-islamistischen Taliban sind mittlerweile in die afghanische Hauptstadt Kabul eingerückt. Viele Menschen, die etwa für ausländische Truppen oder internationale Organisationen gearbeitet haben, fürchten um ihr Leben.


Verteidigungsausschuss plant Sondersitzung am Mittwoch

Nach der faktischen Machtübernahme der islamistischen Taliban in Afghanistan soll sich der Verteidigungsausschuss des Bundestags noch diese Woche zu einer Sondersitzung treffen. Die Obleute des Gremiums seien sich einig, dass dies vor dem Hintergrund der aktuellen Entwicklungen und des Evakuierungseinsatzes der Bundeswehr zeitnah notwendig sei, heißt es in einem Schreiben des Vorsitzenden Wolfgang Hellmich (SPD) an Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble (CDU).

EU-Außenminister beraten bei Sonderkonferenz über Afghanistan

Auch die Außenminister der EU-Länder kommen angesichts der faktischen Machtübernahme der Taliban in Afghanistan am Dienstagnachmittag zu einer außerordentlichen Videokonferenz zusammen. Das kündigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell am Montag auf Twitter an.

 

Die Ministerinnen und Ministerinnen sollen demnach eine erste Bewertung der Lage vornehmen. „Afghanistan steht an einem Scheideweg“, schrieb Borrell zudem. Die Sicherheit und das Wohlergehen der Afghaninnen und Afghanen sowie die internationale Sicherheit stünden auf dem Spiel. dpa/Cicero

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