Maaßen will in den Bundestag - Das Experiment

Hans-Georg Maaßen hat sich für die Bundestagswahl von der CDU in Suhl als Direktkandidat aufstellen lassen. Kann der ehemalige Verfassungsschutzpräsident in Thüringen Boden für die Christdemokraten zurückgewinnen?

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Hans-Georg Maaßen auf den Stufen des Kulturhauses im Zentrum von Suhl / Roger Hagmann
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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Söder – den hätt ich gewählt! Aber der Karnevalsprinz? Wär er mal lieber in Nordrhein-­Westfalen geblieben.“ Der Inhaber der Würstchenbude in der Suhler Fußgängerzone nimmt an diesem sonnigen Morgen im Mai kein Blatt vor den Mund, wenn er nach Armin Laschet gefragt wird. Seit der Wende hat er CDU gewählt, sich aber 2017 „anders“ entschieden. „Die AfD ist doch keine normale Partei. Aber man hat den Leuten ja keine Alternative gelassen“, sagt er, während er mit einem Lappen penibel den Holzaufsteller mit der Aufschrift „Beste Bratwurst“ sauber reibt. Was hält er von Hans-Georg Maaßen, den die hiesige CDU keine 200 Meter entfernt am Abend zuvor zum Bundestagskandidaten nominiert hat? „Maaßen? Nee, fällt mir nüscht zu ein.“

Hans-Georg Maaßen, 58 Jahre alt, steht an diesem Morgen nach seiner Nominierung auf einer breiten Betontreppe am Platz der Deutschen Einheit in Suhl. Er ist umgeben von Relikten der DDR: Hinter ihm der Kulturpalast aus der Stalin-­Ära, der gerade renoviert wird, vor ihm das Kongresszentrum, rundherum Plattenbautürme. Man fühlt sich in eine mittelgroße russische oder ukrainische Stadt versetzt. Nur der prächtige Fachwerkbau aus dem 17. Jahrhundert, der das Waffenmuseum beherbergt, passt nicht ins Bild.

Ein West-Beamter für Thüringen?

Passt der Beamte aus Mönchengladbach im Dreiteiler und mit der goldumrandeten Brille, der sein Leben zwischen Aktenordnern verbracht hat, in diese Landschaft? 
„Für mich zählen die Menschen, die hier wählen. Die muss ich erreichen. Nicht die, die in der Parteizentrale arbeiten“, sagt er. Und wie erreicht man Suhler und Sonneberger? „Bei den Menschen hier kommt es nicht an, wenn man Merkel-Politik macht“, antwortet Maaßen. 

Er hat wenig Zeit, muss zu einem Treffen mit den Leuten, die ihn am Abend zuvor zum Kandidaten für den Wahlkreis 196 gemacht haben: die CDU-Kreisvorsitzenden von Schmalkalden-Meiningen, Suhl, Sonneberg und Hildburghausen. Der politische Beamte Maaßen, dessen letzte Wahl die zum Klassensprecher war, muss sich nun mit sehr banalen Dingen beschäftigen: Es gilt, Spenden einzuwerben, Plakate drucken zu lassen, eine Wahlkampfstrategie zu erdenken. „Ich möchte keine Volksfront-Regierung. Wir müssen dafür sorgen, dass die Union den Kanzler stellt“, sagt Maaßen zu der Frage, was ihn antreibt. Der Hauptgegner aber, das betont er, sei hier die Alternative für Deutschland.

Gegenwind selbst aus der CDU

Aus der Vogelperspektive des Berliner Politik- und Medienbetriebs ist die Nominierung des 2018 von Innenminister Seehofer geschassten obersten Verfassungsschützers eine Art Dammbruch: Maaßen, prominentestes Mitglied der Werte-­Union, erscheint da als ein Kandidat der CDU, der mit seinen Positionen auch gut in die AfD passen würde. Jan Korte, Geschäftsführer der Linken-Fraktion im Bundestag, ätzt nach der Nominierung: „Die CDU in Südthüringen ist ein Fall für den Verfassungsschutz.“
Aber auch aus der Partei selbst wird Maaßen bekämpft. Vor seiner Nominierung macht die Bundesspitze im Hintergrund mächtig Druck, damit bei der Nominierung zumindest ein Gegenkandidat aufgestellt wird. Serap Güler, Laschet-Vertraute und Mitglied des CDU-Bundesvorstands, schreibt nach der Nominierung an die 37 Parteikollegen in Südthüringen: „Wie kann man so irre sein und die christdemokratischen Werte mal eben über Bord schmeißen?“

Maaßen ist mit seiner Nominierung die Zielscheibe geworden, auf die das linke Lager schießt, um die CDU insgesamt zu treffen. Bei Anne Will muss sich Laschet im Mai gegen Vorwürfe der Fridays-for-Future-Aktivistin Luisa Neubauer wehren, Maaßen verbreite „antisemitische Inhalte“.
Aber warum haben die Südthüringer Maaßen mit einer deutlichen Mehrheit von 37 von 43 Stimmen zu ihrem Kandidaten gewählt?

Verbrannte Erde 

Die Wahrheit ist: Nach „der Sache mit Mark“ wollte niemand diesen Job machen. Marcus Kalkhake, Kriminalober­kommissar aus Suhl, Fraktionsvorsitzender im Suhler Stadtrat und 2019 als Landtagskandidat knapp gescheitert, hatte deswegen schon „Schwert und Schild in den Schrank gestellt“, wie er sagt. „Mark“, wie er hier nur genannt wird, ist der ehemalige CDU-Bundestagsabgeordnete Mark Hauptmann, der im März nicht nur durch seine womöglich bezahlte Lobbyarbeit für das diktatorisch regierte Aserbaidschan, sondern auch wegen möglicher Provisionen für Masken-Deals seinen Rücktritt erklären musste. Kalkhake, seit 2006 Ortsteil-Bürgermeister im Suhler Ortsteil Heinrichs, bekam die Wut der Bürger über den Abgeordneten direkt ab. „Die kennen mich doch alle hier“, sagt er in der Garage seines Einfamilienhauses am Rande von Suhl. Es müssen schlimme Worte gefallen sein, er will sie lieber nicht zitieren. 

Danach regnet es Parteiaustritte, wegen Hauptmann, aber auch wegen der Personalie Laschet. Ein halbes Jahr vor der Wahl glich die CDU in Südthüringen einem gerupften Huhn: kein Kandidat, keine Kriegskasse, die Leute angefressen wegen Corona und der CDU-Personalien auf Bundesebene. Dann kamen zwei Kreisverbände mit der Idee Maaßen, und Kalkhake, der ihn schon 2019 zum Wahlkampf eingeladen hatte, dachte sich: Warum nicht? Der Polizist ist zwar selbst wieder aus der Werte-Union ausgetreten, aber auf Maaßen hält er große Stücke. „Mit HGM“, ist Kalkhake überzeugt, „sind die Karten neu gemischt.“ Die politisch-mediale „Kampagne“ gegen Maaßen, sagt er, „hat die Holzköppe hier noch enger zusammenrücken lassen.“

Südthüringen passt in keine Schablone

Südthüringen ist ehemalige DDR, aber alles andere als abgehängt, bergig-idyllisch, nicht reich, aber auch nicht arm – bis in die kleinsten Dörfer sind die meisten Häuser hübsch hergerichtet. Es gibt erfolgreichen Mittelstand hier, Maschinenbauer, Autozulieferer und den Nougathersteller Viba. Suhl hat zwar seit der Wende die Hälfte seiner fast  60 000 Einwohner verloren, aber in gewisser Weise wurde die zu DDR-Zeiten künstlich aufgepumpte Stadt damit wieder auf ihre wahre Größe zurückgestutzt.
Politisch ist die eher konservative Gegend schwer zu deuten: Da sind Nester wie Themar, in denen sich seit Jahren Neonazis zu Festivals verabreden. In Schmalkalden holte zur Landtagswahl 2019 der unbekannte AfDler René Aust das Direktmandat, in Suhl setzte sich aber ein Linker durch. Thüringenweit liegt die CDU im Mai bei 19 Prozent, die AfD bei 23. Und das, obwohl der AfD-Landesverband vom ehemaligen Flügel-Chef Björn Höcke geführt wird. Aber womöglich gilt auch hier Kalkhakes „Holzköppe“-Diktum.

Der Imageverlust der CDU und die uneindeutige Stimmungslage bedeuten für den Neuling Maaßen: Ein Selbstläufer wird das nicht. Seine Mitbewerber übertrumpft er mit seinem bundespolitischen Status, sein großes Manko ist aber die mangelnde Verwurzelung: Er ist derzeit auf Wohnungssuche in Suhl.
Auf der linken Seite steht Maaßen ein Mann gegenüber, der hier Heldenstatus genießt: Frank Ullrich, geboren und aufgewachsen im Dörfchen Trusetal, neunmal Gold bei Biathlon-Weltmeisterschaften, einmal bei Olympia, ab 1998 zwölf Jahre lang überaus erfolgreicher Bundestrainer der deutschen Biathleten.
Ullrich, 63 Jahre alt, trägt ein weißes Shirt mit dem Bundesadler, darüber eine knallbunte Jacke, das Gesicht ist gegerbt vom Schnee und Wind, durch den er in all den Jahrzehnten gefahren ist. Ullrich spricht im für diese Gegend typischen fränkischen Singsang. Er sagt Sätze wie: „Ich will den Menschen helfen. Eine kleine Schwäche von mir ist vielleicht, dass ich nicht Nein sagen kann.“ 

Jurist gegen Ex-Biathleten

Er kommt in Fahrt, wenn er von der für 2023 in Oberhof geplanten Biathlon- und Schlitten-WM und von seinem Traum von Olympischen Winterspielen in Deutschland erzählt.
Der Sportler hat eine steile politische Karriere hingelegt, die vor allem etwas über den personellen Notstand der SPD aussagt: Lokale Vertreter der in Thüringen fast bedeutungslos gewordenen Partei beknieten ihn, bis er sich 2019 für sie in den Stadtrat wählen ließ. Im gleichen Jahr trat er für den Landtag an – und scheiterte nur knapp gegen den AfD-Kandidaten. In diesem Februar wurde er überhaupt erst SPD-Mitglied. 

Nun kandidiert Ullrich für den Bundestag, und die Rechnung der SPD ist eine ähnliche wie bei der CDU: Den Ullrich wählen die Leute, auch wenn sie von der SPD wenig halten. Wie populär der Biathlet ist, versteht man, wenn man mit ihm die Fußgängerzone von Suhl entlangläuft: Es ist ein Spießrutenlauf aus freundlichen Zurufen.
Ullrich hat ein Ziel: Er will in den Sportausschuss des Bundestags, um etwas für den Spitzen- und Breitensport zu bewegen. Sollte er es schaffen, hätte die SPD einen echten Volkshelden im Parlament. Dagegen spricht Ullrichs politische Unerfahrenheit. Mit Spannung darf man dem ersten Zusammentreffen mit Maaßen auf einem Podium entgegensehen: hier der versierte Jurist Maaßen, dort der nette Ex-Biathlet Ullrich. 

Top-Thema Flüchtlinge

Es wird in den Debatten um Corona gehen, um das Ankurbeln der Wirtschaft, aber auch um das Thema, das in diesem Wahlkreis seit Jahren die Emotionen hochkochen lässt wie kein anderes: die Erstaufnahmeeinrichtung für Flüchtlinge. 
Hoch oben über der Stadt Suhl leben hunderte Flüchtlinge in ehemaligen Wohnblöcken der Nationalen Volksarmee. 2015 kam es zu wilden Krawallen, nachdem ein Flüchtling Teile des Korans in der Toilette heruntergespült hatte. Andere Flüchtlinge zogen mit Eisenstangen durch die Stadt, verletzten Polizisten. 

Derartige Szenen haben sich nicht wiederholt, auch weil es nicht mehr 1500 Menschen, sondern nur noch 450 sind, die dort leben. Allerdings muss die Polizei immer wieder Schlägereien zwischen den Flüchtlingen schlichten. Aber auch so bestimmen sie die Schlagzeilen: Im Februar bricht ein Flüchtling der Leiterin eines Supermarkts das Schienbein, nachdem er versucht hatte, den Markt mit einem vollen Einkaufswagen zu verlassen, ohne zu bezahlen.
Anfang Mai müssen in Suhl die Schulen wieder schließen, weil die Inzidenz­werte nach oben schnellen. Das liegt aber in erster Linie an einem massiven Ausbruch unter den Flüchtlingen: An einem Tag im Mai erkranken im Heim 30 Menschen, in der restlichen Stadt nur einer.

Einbruchsserie ums Flüchtlingsheim

Und seit mehreren Monaten werden die Bewohner der Ortsteile, die auf dem Weg vom Flüchtlingsheim auf dem Friedberg in Richtung Innenstadt liegen, von Einbrüchen und Überfällen heimgesucht. Eine Frau in der an die Flüchtlingseinrichtung grenzenden Friedbergsiedlung berichtet, wie ein Flüchtling ihre 72-jährige Mutter an der Haustür sexuell belästigt hat. Die Polizei zählt bis Ende April fünf Wohnungseinbrüche, sieben Einbrüche in Autos, elf Einbrüche in Gartenlauben und eine Sachbeschädigung. Zehn Straftaten konnten aufgeklärt werden, die sechs Beschuldigten waren alle Heimbewohner aus Nordafrika und Georgien.
Ende April waren die Bürger in den betroffenen Stadtteilen so weit, eine Bürgerwehr zu bilden: Mit Not konnte der Suhler CDU-Bürgermeister sie davon abhalten. 

Die Entgeisterung über die kriminellen Flüchtlinge geht über Parteigrenzen hinweg. Da ist etwa der junge Familienvater, traditioneller SPD-Wähler, der in einem idyllischen, mit Schiefer gedeckten Haus unweit der „Flüchtlingsroute“ wohnt.
Er erzählt, wie er vor Jahren gegen rechts demonstriert hat, als die AfD Stimmung gegen die Flüchtlinge machte. Niemals würde er die wählen. Aber sind die, die eine Bürgerwehr gründen wollten, rechts? „Quatsch. Das sind unsere Nachbarn, die sich Sorgen um ihre Sicherheit machen“, sagt er. Er gehört nicht zu denen, die Panik verbreiten, sagt aber: „Es muss sich etwas ändern.“ Zum Beispiel sollten straffällige Asylbewerber schnell abgeschoben werden.

SPD will Flüchtlinge nicht thematisieren

Wenn es dämmert, ziehen nun Polizisten mit Hunden an seinem Haus vorbei, laufen die vielen, bei Regen schlammigen Schleichwege ab, über die Flüchtlinge vom Friedberg in die Stadt kommen. „Einer sitzt jetzt in U-Haft, nachdem er zweimal geschnappt worden ist. Seitdem ist es etwas ruhiger“, sagt ein Polizist. 
Das gehört zu den Forderungen, die praktisch alle Bürger teilen: Der Rechtsstaat muss gegenüber den Flüchtlingen, die kriminell werden, Härte zeigen, um sich Respekt zu verschaffen.

Der Neu-Sozialdemokrat Ullrich sagt, das Thema dürfe man nicht wegwischen: „Einzelne Leute, die in Gärten reinmarschieren und andere bedrohen oder berauben, das ist ein No Go!“ Aber weil AfD und CDU das Thema hochkochen, höre er teilweise aus seiner SPD: Das dürfen wir nicht bespielen. Er will es trotzdem tun, „mit Augenmaß.“ Ullrich nervt das Kompetenzgeschiebe der Politik, wenn Bürger mit berechtigten Sorgen kommen. „Wer Straftaten begeht, muss so schnell wie möglich zur Rechenschaft gezogen werden“, sagt er. Eine Schließung der Einrichtung lehnt er ab.

Maaßen spielt es in die Hände

Der Jurist Maaßen beschäftigt sich seit drei Jahrzehnten mit dem Asylrecht, seit 1991 arbeitet er im Innenministerium, in seiner Promotion „Die Rechtsstellung des Asylbewerbers im Völkerrecht“ von 2000 warb er für eine restriktivere Flüchtlingspolitik. Im Innenministerium wirkte er an den Asylgesetzen mit, die heute gültig sind.

Er sagt: „Man muss die bestehenden Gesetze anwenden. Es hilft nicht, mit den Leuten zu reden. Die Politik muss etwas tun.“ Einbrüche müssten spürbare Konsequenzen haben: „Sofort wegschließen, soziale Arbeit, Abschiebung. Aber die rot-rot-grüne Regierung in Thüringen sperrt sich dagegen.“ Genau das, sagt er, sei Wahlkampfhilfe für Radikale, also die AfD.

Er erinnert an seine Zeit unter Innenminister Otto Schily, zunächst ab 2001 als Leiter der Arbeitsgruppe Zuwanderung, dann als Leiter des Referats Ausländerrecht. „Es gab damals Verhandlungen über Ausweisungen in aufnahmebereite Drittstaaten.“ Das würde es ermöglichen, straffällig gewordene Migranten, in deren Herkunftsland aufgrund der Menschenrechtslage nicht ausgewiesen werden kann, in andere, sichere Staaten auszuweisen. Allerdings sei das nie in die Praxis umgesetzt worden.
„Die Flüchtlingskrise ist überall aktuell, wo etwas passiert. Es ist erschreckend, wie hoch in der Kriminalitätsstatistik der Anteil der Straftaten durch Migranten ist“, sagt Maaßen.
In der Flüchtlingsfrage ist das, was Maaßen sagt, in erster Linie auf der Ebene der Kompetenz davon zu unterscheiden, was Jürgen Treutler dazu zu sagen hat.

Der Menschenfreund der AfD

Der 70-jährige „fitte Rentner“ aus Sonneberg, wie er sich selber nennt, will für die AfD in den Bundestag. Wie Maaßen und Ullrich ist er Polit-Neuling. Auch Treutler betont, er habe nichts gegen „echte Flüchtlinge“, Islamisten hätte er aber nicht gerne hier. Den Flüchtlingen müsse vor Ort geholfen werden. Wie das Beispiel Suhl zeige, „leide die Umgebung darunter“, wenn sie in Deutschland auf die Kommunen verteilt werden. Treutler hat deshalb eine Petition zur Auflösung der Erstaufnahmeeinrichtung unterzeichnet. 

Treutler zeigt sich als Menschenfreund, sagt: „Es darf nicht sein, dass Menschen im Mittelmeer ertrinken.“ Und dass eine Lösung sein könnte, Asylverfahren an der EU-Außengrenze abzuwickeln – bevor die Flüchtlinge europäischen Boden betreten würden.
Jürgen Treutler, dessen Landesverband von Björn Höcke geführt und vom dortigen Verfassungsschutz als „gesichert rechtsextremistisch“ beobachtet wird, weist jeglichen Verdacht der Rechtsradikalität, des Rassismus oder Antisemitismus von sich. Mit 14 sei er in Buchenwald gewesen, das habe ihn tief beeindruckt. Treutler distanziert sich von der Wortwahl des AfD-Gründers Alexander Gauland, der die NS-Zeit im Bundestag einen „Vogelschiss“ genannt hatte. „So würde ich das nie bezeichnen“, sagt Treutler. Selbst beim Klimaschutz gibt sich der Ingenieur, der mehrere Jahrzehnte als technischer Leiter für E.ON in Bayern gearbeitet hat, gemäßigt. Er kritisiert die Konzentration auf Elektroantriebe im Automobilbereich, erzählt stattdessen begeistert vom Institut für Angewandte Wasserstoffforschung in Sonneberg und von einer nötigen Optimierung des Dieselantriebs. 

Maaßen lernt das taktische Schweigen

Das könnte man so auch aus Maaßens Werte-Union hören, einschließlich des Plädoyers für Atomkraftwerke. Allein Treutlers Gegnerschaft gegenüber dem „Südlink“, der zehn Milliarden Euro teuren Stromtrasse, die die Elektroenergie aus dem windreichen Norden Deutschlands in den industriereichen Süden transportieren soll, ist ein Alleinstellungsmerkmal der AfD. Auch wenn sich Bürgerinitiativen dagegen wehrten – von ganz links bis zur CDU gilt das Projekt als beschlossene Sache.
Auf einem Podium mit Treutler wird Maaßen vor dem Problem stehen, dass es zwar leicht ist, sich von einem Björn Höcke und seinen Aussagen zu distanzieren – aber was tun mit diesem rüstigen Rentner aus Sonneberg, der seine wichtigste Aufgabe darin sieht, „die Wirtschaft wieder flottzumachen“?

Hans-Georg Maaßen tendiert dazu, sich zu vergaloppieren. Die Unfähigkeit, aus taktischen Gründen zu schweigen, hat ihn nicht nur sein Amt als Verfassungsschutzchef gekostet, sondern auch seine Ernennung zum Leiter eines Referats im Innenministerium verhindert, in dem er für das Aushandeln von Abkommen für Rückführungen von Asylbewerbern zuständig gewesen wäre. 
Seine ersten Gehversuche auf politischem Terrain in Südthüringen deuten womöglich auf eine Wandlung hin: Als ihn seine Parteifreunde im Kongresszentrum Suhl vor den Augen der vollzählig angereisten Hauptstadtjournalisten zum Kandidaten küren, hält er eine nüchterne Dankesrede, in der er Laschet seine Loyalität zusichert. Und nicht die Rede, die in seiner Mappe bereitlag. 

Kurz nach seiner Nominierung hätte er wüst ausgeteilt gegen den SPD-Generalsekretär Lars Klingbeil, der „offenbar in seiner Antifa-Ausbildung eine Überdosis Lenin zu sich genommen“ habe. Klingbeil hatte die CDU-Führung dazu aufgefordert, Maaßens Nominierung zu verhindern. Maaßen hätte in seiner Rede versprochen, dass er sein Bestes geben werde, damit „Sie und die Klingbeil-Sozialisten von der Antifa-Schlägertruppe“ nicht an die Macht kommen, um Deutschland in einen „ökosozialistischen Staat umzuwandeln“. Aber er hat diese Rede nicht gehalten. Man kann das als Richtungsentscheidung sehen.

 

Dieser Text stammt aus der Juni-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

 

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