Neuer Lockdown - Der Staat verspielt das Vertrauen der Bürger

Von diesem Mittwoch an tritt wieder ein Lockdown in Kraft – obwohl Gesundheitsminister Jens Spahn genau diesen Fall ausgeschlossen hatte. Der Corona-Politik fehlt es an Logik und Stringenz, stattdessen verbreitet sie Perspektivlosigkeit. Das ist Gift für den gesellschaftlichen Zusammenhalt.

Leere Plätze wie hier in Leipzig werden in den kommenden Wochen wieder zur Normalität / dpa
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Das eigentlich Fatale am abermaligen Lockdown sind neben den immensen wirtschaftlichen Schäden und einem Ausbluten des deutschen Einzelhandels vor allem drei Dinge: Perspektivlosigkeit, mangelnde Logik und ein massiver Vertrauensverlust in die Politik.

Was sich hier vor unser aller Augen vollzieht, verdient keinen anderen Namen als ein leider besonders hässliches Wort: Staatsversagen. Und das in einer Situation, in der die Institutionen dieses Landes eine Legitimitätsgrundlage bräuchten, die weit über den formaljuristischen Bereich hinausgeht. Denn was den Bürgern im Rahmen der zweifelsfrei erforderlichen Pandemiebekämpfung abverlangt wird, erfordert den Gemeinsinn, nicht nur das Richtige zu wollen, sondern auch in nachvollziehbarer Weise das Richtige zu tun. Und genau darin liegt das Scheitern begründet.

Spahns Versprechen

Es ist gerade mal drei Monate her, da verkündete Bundesgesundheitsminister Jens Spahn bei einer öffentlichen Veranstaltung, mit dem „Wissen von heute“ würde man keinen Einzelhandel und keine Friseure mehr schließen, um dann apodiktisch hinzuzufügen: „Das wird nicht noch mal passieren.“ Doch nun passiert genau das: Läden, Friseure – von Mittwoch an alles wieder dicht. Das Versprechen wurde gebrochen, und zwar von einem Politiker, dem viele Menschen bisher in der Coronakrise ihr Vertrauen geschenkt haben, auch weil er qua Amt auf die besten Fachleute zurückgreifen konnte und es also besser wissen musste und muss.

Besonders erschreckend daran ist die Tatsache, dass es für die Rückkehr zum status quo ante keine neuen Erkenntnisse, keine wissenschaftliche Evidenz gibt. Die Geschäfte werden aus einem ganz einfachen Grund zugesperrt: Weil irgendetwas geschehen musste, das den Bürgern die aktuelle Dramatik drastisch vor Augen führt. Und weil Schulen und Industrie weitgehend verschont bleiben sollen, trifft es eben den Einzelhandel.

Kaufhäuser und Läden sind aber keine Verbreitungsorte für das Virus, zumindest nicht ansatzweise in dem Ausmaß wie es etwa Schulhöfe sind. Jeder weiß das, auch Politiker geben das im privaten Gespräch unumwunden zu. In der Psychologie würde man den neuen Maßnahmenkatalog deshalb als typische „Ersatzhandlung“ bezeichnen. Aber Ersatzhandlungen sind irrationale Verhaltensweisen, die keinesfalls das politische Geschehen bestimmen dürfen. Erst recht nicht, wenn Politik sich den Anschein gibt, wissensbasiert zu agieren. Anderenfalls handelt es sich um Voodoo.

Es geht um die Zukunft

Aus dem eklatanten Vertrauensverlust, den die am Sonntag beschlossenen Maßnahmen nach sich ziehen, erwächst unmittelbar die zweite gesellschaftliche Bruchlinie: die Perspektivlosigkeit. Wer soll denn ernsthaft noch glauben, dass unter diesen Umständen tatsächlich im Januar wieder Lockerungen in Kraft treten werden? Schon jetzt pfeifen es die Spatzen (und nicht nur die) von den Dächern, dass der Lockdown bis weit in den Februar, wenn nicht gar bis Ende März oder schlimmstenfalls noch länger dauern könnte.

Planungen für das Jahr 2021 sind auf dieser Grundlage unmöglich, und gerade für die Hotellerie (um nur ein Beispiel zu nennen) ist ein typischerweise ruhiger Monat wie der Januar ein „Planungsmonat“, in dem die Vorkehrungen für Frühjahr, Sommer und Herbst getroffen werden. Es geht also um weit mehr als lediglich um Umsatzverluste während der erzwungenen Schließung. Nämlich um die Zukunft danach.

Aber auch die Bürgerinnen und Bürger dieses Landes, die nicht unmittelbar von den wirtschaftlichen Lockdown-Folgen betroffen sind, erwarten eine Perspektive, wie es mit ihrem Leben weitergehen soll. Dass die Politik keine valide Voraussage über den weiteren Verlauf der Infektionszahlen treffen kann, ist völlig klar, das verlangt auch niemand. Trotzdem braucht es so etwas wie Orientierung, auch anhand erreichbarer und messbarer Ziele.

Immer andere Kriterien

Aber welche Währung gilt da eigentlich? Ist es der Inzidenzwert, der nach Meinung praktisch sämtlicher Fachleute auch mit den jetzt beschlossenen Maßnahmen nicht unter die Zahl 50 wird gedrückt werden können (wie das Beispiel Garmisch-Partenkirchen zeigt)? Vor ein paar Monaten galt dagegen noch die Reproduktionszahl als das Maß aller Dinge, dann immer wieder die Intensivbettenbelegung oder die Leistungsfähigkeit des öffentlichen Gesundheitsdienstes im Allgemeinen.

Solange sich ständig – auch in vertieften politischen Diskussionen – die Kriterien ändern, herrscht gewissermaßen amtlich verordnete Hoffnungslosigkeit. Ohne eine nachvollziehbare Kongruenz zwischen Maßnahmen und erwünschten Zielen kann aber der ohnehin erodierende soziale Frieden unmöglich noch monatelang aufrecht erhalten werden.

Das Weihnachts-Märchen

Erst recht nicht, solange es den Eindämmungsmaßnahmen an der inneren Logik mangelt: Stichwort Weihnachten. Wenn selbst der nordrhein-westfälische Ministerpräsident (wie gestern Abend bei „Anne Will“) nicht in der Lage ist zu erklären, wer sich nach dem Willen der Politik zu wievielt und mit wem unter dem Christbaum wird treffen dürfen, braucht sich nicht zu wundern, wenn am Ende alle machen, was ihnen angesichts von Infektionsrisiken dennoch irgendwie vertretbar erscheint.

Ohnehin stellt sich die dringende Frage, warum ausgerechnet zwei Wochen nach verschärften Kontaktbeschränkungen sowie einem harten und teuer erkauften Lockdown zwischenzeitlich ganz andere Regeln gelten sollen. Da hilft auch der sentimental-populistische Verweis auf Weihnachten als Familienfest nicht weiter. Denn entweder ist die Lage ernst, oder sie ist es nicht. Auch hier geht es um Glaubwürdigkeit – und nicht darum, von Staatswegen mit freundlichen Appellen und paternalistischem Mahnen an die Bevölkerung heranzutreten, während gleichzeitig ganze Branchen geschleift werden.

Niemand erwartet von der Politik mehr, als sie in einer Pandemie nach menschlichem Ermessen leisten kann. Aber mit dem, was wir derzeit an politischem Irrlichtern erleben, wird alles nur noch schlimmer.
 

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