Lockdown als „erweiterte Ruhezeit“ - Die sedierte Republik

Merkels Methode der „asymmetrischen Demobilisierung“ hat offenbar ein ganzes Land sediert. Die Unfähigkeit, die Pandemie zu bekämpfen, gipfelt nun in der „erweiterten Ruhezeit“.

Die Kanzlerin bei ihrer Pressekonferenz am frühen Dienstagmorgen / picture alliance
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Alexander Marguier ist Chefredakteur von Cicero.

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Manche Formulierungen muss man sich auf der Zunge zergehen lassen, weil sie so bezeichnend sind. Zum Beispiel diese: Eine „erweiterte Ruhezeit zu Ostern“ hat die Bundeskanzlerin in ihrer Pressekonferenz nach dem Bund-Länder-Gipfel in der Nacht auf Dienstag angekündigt. „Erweiterte Ruhezeit“, das klingt irgendwie sympathisch nach Ausschlafen – als ob der Staat seinem Volk einen zusätzlichen Ferientag genehmigt hätte. So nach dem Motto: „Gönnt euch doch ein bisschen Entspannung!“ Einfach mal nett abchillen.

Das Problem ist nur: Die Merkelsche „Ruhezeit“, ob mit oder ohne „Erweiterungen“ in Form von verschärften Kontaktverboten, währt jetzt schon ein ganzes Jahr. Und die Ergebnisse dieser Übung in gesellschaftlicher Kontemplation sind alles andere als beruhigend: Ganze Branchen werden vernichtet, abertausende Existenzen dazu. Eine ganze Generation von Kindern und Jugendlichen wird wegen des Wegfalls von Schulunterricht, Sportmöglichkeiten und Sozialkontakten um ihre Zukunft gebracht. Familien brechen auseinander; psychische Schäden nehmen epidemische Ausmaße an. Deutschland ruht nicht etwa nur im Unfrieden, sondern erlebt einen Albtraum.

Ein regelrechter Albtraum

Ein regelrechter Albtraum war auch der Auftritt der Bundeskanzlerin in den frühen Morgenstunden nach schier endlosen Beratungen mit den Ministerpräsidenten. Dass Merkel bei dieser Veranstaltung entkräftet, ermattet, niedergeschlagen wirkte und dabei seltsam entrückt in ihren Unterlagen blätterte, sollte man ihr nach diesem Sitzungsmarathon nicht vorwerfen. Was sie zu verkünden hatte, ist hingegen ein Skandal: Irgendwann nach Ostern werde man also mit einer „Phase der umfangreichen Testungen“ beginnen; es werde „neu gedacht, wie wir das Bestmögliche in den nächsten Tagen und Wochen erreichen können“.

Neues Denken, das sollte ein Jahr nach Beginn der Pandemie in der Tat einen Versuch wert sein. Leider ist nichts, aber auch gar nichts davon zu erkennen. Im Gegenteil: Was da von der Kanzlerin abgeliefert wurde, das war die verdruckste, beinahe schon widerwillige Ankündigung von Maßnahmen, die anderswo entgegen der Leitlinien des Regierungskurses längst erprobt werden. Zum Beispiel in Städten wie Tübingen oder Rostock, deren evidenzbasierte Öffnungsstrategien jetzt mit Merkels Segen künftig „in ausgewählten Regionen“ ausprobiert werden sollen – „um zu lernen“ (Originalzitat).

Geradezu grotesk klang das Eingangsstatement der deutschen Bundeskanzlerin nach dem inzwischen ritualisierten Corona-Gipfel: Seit einem Jahr befinde man sich auf einem „Weg mit Erfolgen, aber auch mit Rückschlägen“. Wobei – Nachsatz Merkel – aus Rückschlägen auch „zusätzliche Kraft erwachsen“ könne. 

Zusätzliche Kraft? Ernsthaft? Während in San Diego bereits Menschenaffen gegen Corona geimpft werden, können sich die Bewohner des Landes, „in dem wir gut und gerne leben“ (CDU-Wahlslogan anno 2017) darüber freuen, wenn demnächst auch deutsche Hausärzte ihren Patienten die nicht vorhandenen Vakzine verabreichen dürfen. Man befinde sich in „einem Wettlauf mit dem Impfen“, so die Kanzlerin. Dass die Bundesrepublik an diesem Rennen als fußkranke Nation teilnimmt, blieb wohlweislich unerwähnt.

Die wirklich bittere Erfahrung nach diesen zwölf Pandemie-Monaten ist nicht einmal das Versagen staatlicher Strukturen und Institutionen – vom dysfunktionalen Föderalismus bis hin zu Infektionsnachverfolgung per Faxgerät. Sondern die Unfähigkeit der zur mächtigsten Frau der Welt verklärten deutschen Regierungschefin, auch nur ansatzweise eine Zukunftsperspektive zu formulieren. „Vorsicht und Flexibilität“ sind Merkel zufolge die Leitlinien ihres Handelns.

Es packt einen die Verzweiflung

Fragt sich nur: Fallen die gegen zunehmenden Widerstand durchexerzierten Lockdowns inklusive wiederkehrender Lockerungen und Verschärfungen angesichts unfassbarer Kollateralschäden wirklich in die Kategorie „Vorsicht“? Und wo bleibt beim stumpfsinnigen Beharren auf den vor zwölf Monaten eingeschlagenen Weg eigentlich die „Flexibilität“? Wenn Friseurbesuche jetzt schon als Ausdruck eines innovativen Staats- und Verwaltungsapparats gelten sollen, dann ist das mehr als ein Grund zum Haare raufen: Es packt einen die schiere Verzweiflung.

Brutalstmöglich zeigt sich in der Pandemie, wo unsere Gesellschaft nach 15 Jahren mit Angela Merkel an der Spitze steht: Deutschland hat sich damit begnügt, von einer Frau regiert zu werden, deren politische Kernkompetenz das „Auf-Sicht-Fahren“ ist. Aber wer sich mit permanentem Herumstochern im Nebel begnügt, von dem sind eben auch keine Perspektiven zu erwarten. Merkels Politikstil, es möglichst allen Recht zu machen und dabei stets den Weg des geringsten Widerstands zu gehen, hat die Bundesrepublik tatsächlich an den Abgrund geführt.

In erschreckender Deutlichkeit offenbart sich nun der Zustand eines Landes, das anderthalb Dekaden lang nach der Methode Durchwursteln verwest wurde: blockiert, sklerotisch, rückständig. Vorsicht immer, Voraussicht Fehlanzeige: Das ist kein Programm für die Zukunft, sondern für den sicheren Abstieg. Aber in der zweiten Liga spielt man ja angeblich auch ganz netten Fußball.

Asymmetrische Demobilisierung

Jetzt also die „erweiterte Ruhezeit zu Ostern“. Welch ein Hohn ist diese Wortwahl eigentlich in Anbetracht einer sogenannten Industrienation, deren politisches Führungspersonal das Schließen, Herunterfahren und Downlocken mit paternalistischer Inbrunst durchsetzt und gleichzeitig die Unterversorgung mit Impfstoffen als alternativlosen Beitrag zur Völkerverständigung zelebriert? Dass „im Großen und Ganzen nichts schiefgelaufen“ sei, wie die deutsche Bundeskanzlerin vor einigen Wochen zum Thema Vakzin-Beschaffung bemerkte, macht nur allzu deutlich, wie sehr die Maßstäbe inzwischen verrutscht sind: Die Bürgerinnen und Bürger können offenbar froh sein, dass beizeiten überhaupt etwas bei ihnen ankommt. Mehr Wurstigkeit, weniger Ehrgeiz waren selten.

Angela Merkels Methode zum Machterhalt bestand bekanntlich in der „asymmetrischen Demobilisierung“: den politischen Gegner zu demotivieren, indem man ihm keine Angriffspunkte bietet und jeder möglichen Kontroverse aus dem Weg geht. Dass das jahrelange Verabreichen diskursiver Schlafmittel irgendwann auch ein ganzes Land sediert, war absehbar. Die Bundesrepublik hat ihre Zukunft verpennt. Freuen wir uns also auf weitere „erweiterte Ruhezeiten“. Bonne nuit!

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