Listenplatz trotz heftiger Kritik - Warum tut sich Sahra Wagenknecht das noch an?

Trotz heftiger innerparteilicher Kritik hat sich Sahra Wagenknecht bei der Nominierung für den Bundestag in NRW durchgesetzt. In ihrem neuen Buch schreibt sie gegen jene Parteigenossen an, die das Eintreten für soziale Gerechtigkeit durch Diversität und Lifestyle-Politik ersetzen wollen.

Sahra Wagenknecht bei ihrer Bewerbungsrede für die NRW-Landesliste zur Bundestagswahl / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Rainer Balcerowiak ist Journalist und Autor und wohnt in Berlin. Im Februar 2017 erschien von ihm „Die Heuchelei von der Reform: Wie die Politik Meinungen macht, desinformiert und falsche Hoffnungen weckt (edition berolina). Er betreibt den Blog „Genuss ist Notwehr“.

So erreichen Sie Rainer Balcerowiak:

Anzeige

Es hat dann doch noch gereicht. Mit 61 Prozent der Stimmen setzten die Landesdelegierten in Nordrhein-Westfalen Sahra Wagenknecht auf Platz eins der Landesliste für die kommende Bundestagswahl. Der Wahl vorangegangen war eine auch für linke Verhältnisse bemerkenswerte Schmutzkampagne gegen die mit Abstand populärste Vertreterin der Partei. 

Stein des Anstoßes war für die Wagenknecht-Gegner ihr offiziell noch gar nicht veröffentlichtes neues Buch „Die Selbstgerechten – Mein Gegenprogramm für Gemeinsinn und Zusammenhalt“. Schnell kursierten in sozialen Medien und diversen Foren einige aus dem Zusammenhang gerissene Zitate, die belegen sollten, dass Wagenknecht eine „völkische Rassistin“ sei, die „Minderheiten verunglimpft“ und eigentlich einen AfD-Kurs vertrete.

Dabei wurde auch kräftig unter der Gürtellinie ausgeteilt. „Also von mir aus kann eine gewisse Person weiterhin feucht fröhliche Partys mit Rassisten feiern, aus ihrem King-Size-Bett ihrer Villa über skurrile Minderheiten schwadronieren oder sonst irgendwelche kleinbürgerlichen sozialdemokratischen Verwirrungen in die Welt hinausposaunen. Nur das Parteibuch der LINKEN sollte dabei keine Rolle mehr spielen“, schrieb auf Facebook Yaak Pabst, leitender Redakteur für das „Marx 21“-Magazin und enger Vertrauter der linken Bundestagsabgeordneten Christine Buchholz, die vor allem für den Schulterschluss mit Islamisten eintritt.

Verweis auf traditionelle linke Werte

Dabei enthält das Buch wenig wirklich Neues, sondern fasst in komprimierter und gut lesbarer Form die seit langem bekannten Positionen der Politikerin zusammen. Vor wenigen Tagen setzte sich Wagenknecht öffentlich zur Wehr: Das Buch sei „ein Plädoyer für eine starke Linke und eine Analyse der Ursachen, weshalb die meisten linken und sozialdemokratischen Parteien in Europa in den zurückliegenden Jahren den Rückhalt bei ihrer einstigen Wählerschaft verloren haben“.

In dem Buch seziert Wagenknecht präzise und genüsslich diejenigen in ihrer Partei, die als in der Regel materiell gut abgesicherte „urbane Weltbürger“ alle gewachsenen gesellschaftlichen Strukturen und Werte rigoros ablehnen und durch ein immer weiter ausuferndes Geflecht der „Diversität“ von Minderheiten ersetzen wollen.

„Ist die Sehnsucht nach einer vertrauten und beherrschbaren Lebenswelt, nach sicheren Arbeitsplätzen, sicheren Wohnvierteln und stabilen Familienverhältnissen ein rückschrittliches Ressentiment? Oder sind nicht diese Werte ein sehr viel überzeugenderer Gegenentwurf zum entfesselten Kapitalismus als der bindungslose Selbstverwirklichungs-Individualismus und die linksliberale Weltbürgerlichkeit?“, fragt Wagenknecht die Genossen.

Rigorismus der moralischen Überlegenheit

Und sie stellt klar, dass man sich natürlich gegen „reaktionäre Traditionen“ wie Verachtung von Homosexuellen oder Rassismus wenden müsse. Das sei aber „etwas ganz anderes, als die Auflösung aller Gemeinsamkeiten und den Zerfall der Gesellschaft in ein gleichgültiges Nebeneinander vereinzelter Individuen und egoistischer Kleingruppen als progressive Modernisierung zu bejubeln“.

Entsprechend kritisch und differenziert betrachtet Wagenknecht auch Bewegungen wie „Fridays for Future“ und „Unteilbar“, die vor allem einen Rigorismus der moralischen Überlegenheit vertreten, der die realen Sorgen und Nöte einfacher Menschen weitgehend ausblendet. „Nazi“ und „Rassist“ seien bei vielen Linken zu beliebigen Zuschreibungen für all diejenigen geworden, die nicht für die unbeschränkte Zuwanderung und die Zerschlagung gewohnter Lebensmodelle eintreten oder gegen das teilweise nicht mehr nachvollziehbare Corona-Krisenmanagement protestieren.  

Keine öffentliche Abstrafung

In ihrer Bewerbungsrede am Samstag beschwor Wagenknecht dann die Hinwendung der Partei zu den ökonomischen und gesellschaftlichen Verlierern der vielfältigen Krisen, besonders im Zeichen der Corona-Pandemie. Es könne nicht sein, dass zwar die Mehrheit der Bevölkerung für mehr soziale Gerechtigkeit eintrete und die Bundesregierung „kaputt und ausgelaugt“ sei, aber ausgerechnet die Linke als einzige Oppositionspartei nicht davon profitieren könne, weil sie diese Menschen kaum noch erreiche.

Dass Wagenknecht trotzdem auf die Landesliste gewählt wurde, geschah nach Einschätzung eines Insiders der NRW-Linken aber weniger aus Überzeugung, sondern war einem „Rest von Rationalität“ geschuldet. Vielen Delegierten sei klar gewesen, dass eine öffentliche Abstrafung der populärsten Vertreterin der Linken die in Umfragen zwischen 7 und 8 Prozent dümpelnden Partei noch weiter in den Abgrund reißen würde. 

Ein sehr spezieller Landesverband

Die Linke NRW war schon immer ein sehr spezieller Landesverband. Dort bestimmen teilweise diverse Fraktionen und trotzkistische Sekten das Geschehen, von der „Antikapitaltischen Linken“ über die „Sozialistische Alternative“ bis zum proislamistischen Netzwerk „Marx 21“ und der „Bewegungslinken“. Normalerweise sind sich diese Gruppen auch untereinander spinnefeind, aber der gemeinsame Hass auf die populäre Ex-Fraktionsvorsitzende der Partei reicht derzeit für eine Art Zweckbündnis.

Landespolitisch hat sich dieser wirre Haufen längst ins Nirwana geschossen. 2010 zog die NRW-Linke erstmals in den Landtag ein. Nach gescheiterten Versuchen der Tolerierung einer rot-grünen Minderheitsregierung kam es 2012 zu vorgezogenen Neuwahlen, bei denen die Partei mit 2,5 Prozent aus dem Landtag flog. Auch 2017 verpasste sie den Wiedereinzug in das NRW-Parlament. Lediglich in einigen Kommunen spielt sie noch eine mehr oder weniger wichtige Rolle.

Erosion der Linken geht weiter

Die Erosion der Linken wird Wagenknechts Nominierung wohl kaum aufhalten können. Der weit über die Parteigrenzen anerkannte linke Finanzexperte Fabio de Masi, der vor einigen Wochen entnervt seinen Rückzug aus dem Bundestag angekündigt hatte, kommentierte auf Facebook die Schlammschlacht gegen Wagenknecht mit bitteren Worten: „Wenn Energie, Leidenschaft und Leistung beim Themen setzen und Probleme lösen nur halb so groß wäre wie vor Listenaufstellungen, hätten wir die absolute Mehrheit. Ich bin so glücklich, mir das nicht mehr anzutun.“ 

Auch Dana Moriße, die als Finanzexpertin in seine Fußstapfen hätte treten können und ursprünglich auf einem aussichtsreichen Listenplatz in NRW kandidieren wollte, warf kurz vor der Delegiertenkonferenz zur Nominierung das Handtuch: „Vielleicht war es naiv von mir, daran zu glauben, dass wir als Linke aus den gemeinsamen politischen Zielen heraus auch ein bestimmtes gemeinsames ethisches Fundament für die innerparteiliche Zusammenarbeit haben“, so Moriße in einer Erklärung. 

Natürlich muss Sahra Wagenknecht damit rechnen, dass die innerparteiliche Schmutzkampagne gegen sie auch nach der Nominierung unvermindert weitergehen wird. Bleibt die Frage, warum sie sich das antut.

Anzeige