Linksextremismus - Die unterschätzte Gefahr

Der ehemalige Verfassungsschutz-Chef Hans-Georg Maaßen musste unter anderem deshalb gehen, weil er der SPD linksradikale Tendenzen unterstellt hat. Doch wie weit verbreitet ist Linksextremismus tatsächlich? Ein Report über die autonome Szene, zwischen G20-Gipfel und Hambacher Forst

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Beim G-20-Gipfel in Hamburg gehörte das Schanzenviertel kurzzeitig den Linksextremisten / Danilo Balducci
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Christoph Wöhrle ist freier Journalist und lebt in Hamburg.

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Auf dem Tisch liegen Tofubratlinge. Das Klischee ist immer dabei, wenn man sich mit radikalen Linken trifft. Draußen ist Freiburg im Breisgau heiß und heiß und heiß – im Inneren des autonomen Zentrums Kulturtreff in Selbstverwaltung, kurz KTS, haben sie die Fenster geöffnet in der Hoffnung, dass ein bisschen Durchzug Linderung bringt.

So chaotisch die Räume im KTS sein mögen, muss sonst die Ordnung eingehalten werden. Einfach vorbeikommen, um Interviewpartner zu finden, das gehe nicht, sagen die beiden jungen Männer, der eine mit langen Haaren, der andere mit Dreadlocks. Zu ihrer politischen Gesinnung gäbe es einiges zu sagen. Doch das Plenum müsse entscheiden, ob Journalisten willkommen seien. Man verlässt das mit Graffiti vollgesprühte Haus an diesem Tag mit dem schalen Gefühl einer Abfuhr. Mit fast 300 000 Euro jährlich wurde das Selbstverwaltungs-Kulturzentrum von der Stadt Freiburg zuletzt mitfinanziert. Das Geld nehmen die Aktivisten gern, Transparenz in ihren Strukturen dagegen lehnen sie ab. Fragen zu ihrem Kampf gegen den Staat und die Mittel, auf die sie dabei zurückgreifen, verweigern sie sich.

Die linke Szene ist unübersichtlich

Ob sie im Hambacher Forst Kot auf Polizisten werfen, beim G-20-Gipfel in Hamburg Polizeibeamte mit Zwillen und Steinplatten von Hausdächern angreifen, in Chemnitz „Scheiß Deutschland“ skandieren, in Berlin aus Protest gegen die Gentrifizierung Autos abfackeln – oder ob sie Weichen der Deutschen Bahn demolieren, weil deren Hochgeschwindigkeitsstrecken irgendwie Teil der Infrastruktur des Kapitalismus sind: Linksextremisten bekämpfen den Staat, den sie so hassen, mit allen Mitteln. Sie fordern ihn heraus, als gebe es keine Grenzen. In einem Land, das sich radikalisiert, in dem die Mitte der Gesellschaft an Bindungskraft verliert und die politischen Ränder immer stärker werden, sind sie immer noch eine unterschätzte Gefahr.

Den Mittelpunkt einer jeden WG bildet auch bei „Joker“ in Freiburg die Küche / Heinrich Holtgreve

Das mag daran liegen, dass die Szene sehr unübersichtlich ist. Gemein ist vielen Gruppen vor allem, dass sie ständig diskutieren und ziemlich selten einer Meinung sind. Die Szene lebt von ihrer Diversität, sie umfasst militante Öko-Aktivisten, Salon-Kommunisten und selbst ernannte Anarchisten. Viele Autonome lehnen jede Form von Organisation grundsätzlich ab. Verbindende Elemente sind allenfalls gemeinsame Aktionsfelder oder die theoretischen Leitideen, die allerdings ganz unterschiedlich interpretiert werden. Doch die Szene hat enormen Zulauf: Seit den 1968er Jahren war es nicht mehr so hip, radikal links zu sein.

Die Zahl politisch links motivierter Straftaten ist gestiegen

Das Bundesamt für Verfassungsschutz schlägt Alarm. Es warnt vor einem enormen Anstieg der Mitglieder linksextremistischer Gruppierungen. Allein die Zahl der „gewalt­orientierten Linksextremisten“ sei seit 2014 bundesweit um ein Fünftel auf rund 9000 Personen im Jahr 2017 gestiegen. Wobei Linksextremismus für den Verfassungsschutz letztlich nur eine Sammelbezeichnung ist für verschiedene kommunistische und anarchistische politische Strömungen, die in den unterschiedlichsten Facetten die parlamentarische Demokratie sowie den bürgerlichen Rechtsstaat abschaffen und durch eine „egalitäre Gesellschaft“ ersetzen wollten. Dass die Beschreibung der blutigen Barbarei, in die das kommunistische Versprechen viele Völker geführt hat, ganze Bibliotheken füllt, hält sie nicht ab.

Im Wohnprojekt Susi e.V. in Freiburg gibt es eine Autoschrauberwerkstatt... / Heinrich Holtgreve
… und man stößt auf bürgerliche Symbole wie Weihnachtskugeln / Heinrich Holtgreve

Auch die Zahl politisch links motivierter Straf- und Gewalttaten ist deutlich gestiegen. Im Jahr 2017 registrierte der Verfassungsschutz 6393 Straftaten mit linksextremistischem Hintergrund und damit einen Anstieg gegenüber 2016 von 22 Prozent. Die Zahl der Gewalttaten darunter stieg sogar um 37 Prozent auf 1648. Vor allem die „hohe Zahl an Straftaten gegen Privatpersonen, Repräsentanten des Staates, Unternehmen, Bahnanlagen oder sonstige öffentliche Infrastruktur“ nennt der Verfassungsschutz ein „ernst zu nehmendes“ und „in seinen Auswirkungen wachsendes Problem“.

Öffentlichkeitswirksame Bilder

Zumal die Gewalttäter sich öffentlichkeitswirksam zu inszenieren wissen. Hamburg, am 7. Juli 2017: der G-20-Gipfel. Die brennenden Barrikaden räuchern die Straßen ein. Wie überdimensionale Fackeln erleuchten sie die Nacht. Als sie fast heruntergebrannt sind, kommen aus den Winkeln Halbwüchsige, Gelegenheitschaoten, überzeugte Linksradikale. Sie postieren sich während der Krawalle im Schanzenviertel vor dem Feuer – in Sichtweite der Polizisten und der Kameraleute. Sie zeigen den Beamten und Fernsehzuschauern das Victory-Zeichen, heben beide Arme zum Sieg oder recken den Mittelfinger.

Die Bilder der inszenierten Gewalt beim G-20-Gipfel in Hamburg gingen um die Welt / Danilo Balducci

Die Bilder gehen live um die Welt, und die Botschaft der Chaoten, die aus ganz Europa angereist waren, ist unmissverständlich: Ihr habt gegen uns keine Schnitte, wie man in Hamburg sagt. Und genau das stimmt in diesem Moment. Sie zeigen den Politikern aus aller Welt den Stinkefinger, aber sie zeigen ihn auch den vielen friedlichen Demonstranten, die gegen den G-20-Gipfel für weltweiten Klimaschutz oder eine gerechtere Weltwirtschaftsordnung demonstrieren. Ihre Anliegen spielen in der öffentlichen Wahrnehmung keine Rolle mehr. Für eine Nacht geht es stattdessen nur darum, wem die Straße gehört.

Indymedia, die Bild-Zeitung für krawallbereite Autonome

Zurück nach Freiburg. Als die linksradikale Internetplattform www.linksunten.indymedia.org als Verein wegen der Verbreitung verfassungsfeindlicher Inhalte nach den Krawallen anlässlich des G-20-Gipfels in Hamburg verboten wurde, führten viele Spuren in den Südwesten Deutschlands. Hier wurde vieles der Hetze gegen den Staat und seine Polizei online gestellt. Das heizte die Gewaltbereitschaft weiter an. Und die Versuche, Beamte einzuschüchtern. Neben den sozialen Medien war Indymedia über Jahre das wichtigste Organ zur Verlautbarung linksradikaler Inhalte und für die Mobilisierung zu Gewalttaten. Sozusagen die Bild-Zeitung für krawallbereite Autonome.

Krawalle bestimmten die Schlagzeilen zum G-20-Gipfel, nicht friedlicher Protest / Danilo Balducci

Am 25. August, also anderthalb Monate nach dem Gipfel, durchsuchte die Polizei auch das KTS. Bei der Razzia fanden die Beamten Waffen vom Schlagstock bis zu Elektroschockern und Zwillen. Spätestens da war auch in Freiburg klar: Es gibt ein Problem. Als wachsendes Problem sehen sich die Bewohner des Freiburger Susi e. V. (Selbstorganisierte unabhängige Siedlungsinitiative) nicht. Eher als gewachsenes Ganzes. Jürgen Parpart, den 63-Jährigen nennen alle nur Joker, arbeitet in der Mieterverwaltung des linken Wohnprojekts, das er vor 25 Jahren mitgegründet hat. „Wer links ist und Ideale hat, findet hier seinen Platz“, sagt Joker, der selbst in einer der WGs wohnt. Es gehe da um „ein Eintreten gegen Herrschaftsinteressen“ und für „kollektives Arbeiten“ mit einem Einheitslohn.

Gewalt gilt als legitim, wenn sie den „richtigen“ Gegner trifft

Auf einem alten Autoreifen im Garten steht „ACAB“ geschrieben – die Abkürzung des linken Schlachtrufs „All Cops are Bastards“. Wenn Joker durch das Wohnprojekt führt, grüßen ihn alle freundlich, auch die Nachbarn im Freiburger Stadtteil Vauban, wo vor allem Öko-Yuppies und andere Besserverdienende wohnen. Man kommt sich hier nicht ins Gehege.

In der WG wohnen acht Menschen, das Gros junge Studenten, es hängen Wimmelbilder an der Wand. In Jokers geräumigem Zimmer stehen ein Hochbett, ein uralter PC-Röhrenmonitor und sein Archiv aus Dia-Bildern. Auf dem Gemeinschaftsbalkon wachsen ein paar Hanfpflanzen in Blumenrabatten. Bei besagter Internetplattform Indymedia riefen die Macher aus Freiburg immer wieder offen zu Gewalt gegen Polizisten auf. Teilweise wurden Fotos von Beamten veröffentlicht. „Wir freuen uns über Hinweise, wo sie wohnen oder privat anzutreffen sind“, stand darunter. Polizisten als „Schweine“ zu bezeichnen, so etwas nehme er nicht ernst, sagt Joker. „Aber Polizisten sind bei G 20 Rechtsbrüchige gewesen und nicht Rechtsbeschützer.“ Auch Joker ist nicht explizit gegen die Gewalt, wenn sie nur den richtigen Gegner trifft.

Den richtigen Gegner getroffen – das ist aus der Sicht vieler radikaler Linker beim G-20-Gipfel gelungen. Über 300 Polizisten wurden bei den Chaostagen erheblich verletzt. „Das Militanzverständnis autonomer Gruppen ist ein zentrales Element ihres politischen Selbstbilds. Da Gewalt nach autonomem Verständnis immer auch vermittelbar sein muss, wird grundsätzlich gezielte Gewalt gegen Menschen abgelehnt. Davon ausgenommen sind allerdings Angriffe auf geschützte Polizeibeamte der Einsatzpolizei und Rechtsextremisten“, sagt Heike Uhde, Polizeisprecherin aus Hamburg. Die Staatsgewalt, ergo die Polizei, die dem liberaldemokratischen Selbstverständnis nach ein gewaltfreies Zusammenleben sichert und die Bürger vor Straftaten schützt, gilt dann der Absicherung einer „strukturellen Gewalt des kapitalistischen Staates“.

Der mediale Fokus

Das Zentrum für die radikale Linke in Hamburg ist nach wie vor die „Rote Flora“ mitten im Schanzenviertel, wo sich die Gewalt bei G 20 wie das eintretende Armageddon anfühlte. Von hier aus wurden viele Aktionen beim Gipfel geplant. Trotz dieser Bedeutung für die Szene: Bislang traute sich die Hamburger Politik nicht, die Flora zu schließen. Doch der Gedanke wabert durch die politische Diskussion wie Diskorauch. Vielleicht würde eine Schließung nur die Sicht auf das große Problem vernebeln.

Ein paar Monate nach den Krawallen gab ein Berliner Linksaktivist dem Autor dieser Reportage ein langes schriftliches Interview, das sich auch heute noch verstörend liest. Zur Gewalt von Hamburg hatte er seinen höchst eigenen Standpunkt: „Man sollte die Ereignisse bei G 20 nicht überdramatisieren. Die Eskalationsspirale, an der die Polizeiführung in ihrem selbst erklärten Ausnahmezustand so munter tagelang gedreht hat, ist ihr mit Karacho um die Ohren geflogen. Ich kann an der ‚Eskalation‘ wenig Schlechtes finden. Natürlich sind auch Scheißaktionen passiert wie die vielen Verletzten durch Polizeigewalt. Und diejenigen, die jetzt mit drakonischen Strafen im Knast sitzen, brauchen unsere Unterstützung. Distanzierung von der Gewalt? Über dieses Stöckchen der veröffentlichten Meinung sollte jedenfalls niemand springen. Friedlicher Protest wird seit Jahren systematisch ignoriert.“

Der Wissenschaftler Peter Ullrich sieht bei der Polizei ein unausgeschöpftes Potenzial zur Deeskalation / Heinrich Holtgreve

Das bestätigt auch Peter Ullrich, der seit Jahren an der TU Berlin über linksradikale Gruppen forscht. „Aktivisten wollen den medialen Fokus. Sie wollen Aufmerksamkeit, und Gewalt ist ein Mittel, um sie zu bekommen“, sagt der Berliner Sozialwissenschaftler. Laut Ullrich belegten Studien, wie schwer mediale Aufmerksamkeit ohne Gewalt zu erreichen sei. Mediale Nachrichtenfaktoren führen dazu, dass Gewalt ins Zentrum der Berichterstattung rückt und Inhalte weitgehend verdrängt. „Gewalt hat daher sehr ambivalente Wirkungen“, sagt Ullrich. Was er nicht sagt: Die friedlichen Demonstranten dienen den Linksradikalen manchmal als Schutzschild und manchmal auch als Feigenblatt.

Eskalationsdynamiken wie Fanausschreitungen bei Fußballspielen

Besonders interessant: Die Gewalt – etwa beim G-20-Gipfel – war zwar in allen Medien das dominierende Thema. Linke Medien berichteten ausgiebig über die Gewalt der Polizei gegen die Demonstranten, konservative Medien wiederum über die Exzesse der Protestler. „Am Ende fielen ganz viele andere Themen mit Gipfelbezug völlig unter den Tisch“, sagt Ullrich. Durch den Medienkonsum verfestigten sich dann die ohnehin gehegten Vorurteile. Ullrich: „Es kam zu einer Polarisierung von Meinungslagern, die kaum noch miteinander verbunden waren.“

Floris Biskamp, Politikwissenschaftler an der Universität Tübingen, sagt, die Legitimation von Gewalt falle linken Radikalen deutlich schwerer als rechten. Es gebe unter Linken rege geführte „Militanzdebatten“. „In der Praxis kommt es zu körperlicher Gewalt dagegen besonders oft in Situationen, die mit diesen theoretischen Debatten nur sehr entfernt zu tun haben – bei Kundgebungen, Demonstrationen und ähnlichen Veranstaltungen. Hier sind dann oft Gruppen- und Eskalationsdynamiken am Werk, die den Fanausschreitungen bei Fußballspielen ähneln“, analysiert Biskamp. Gerade das Beispiel G 20 zeige, so Biskamps Kollege Peter Ullrich, wie rigoros die Polizei, die in Hamburg nicht auf Deeskalation setzte, sondern eine harte Linie verfolgte, selbst die Eskalation befördert habe.

Reizthema Gentrifizierung

Ein anderes großes Thema der radikalen Linken ist heute alles, was sich politisch hinter dem Begriff Gentrifizierung verbirgt. Die Verdrängung der Wenigverdiener aus den deutschen Großstädten durch explodierende Mieten führt zum Beispiel in Berlin regelmäßig zu Straßenschlachten zwischen Polizei und Autonomen. Warum? Weil hier alles zusammenkommt: Die Kapitalismuskritik; mit dem Spekulanten ein identifizierbarer Feind; mit den Anwohnern eine soziale Basis, die sich mobilisieren beziehungsweise instrumentalisieren lässt. Und die eigene Betroffenheit: Wer gibt schon gerne quasi mietfreies Wohnen auf?

Aufkleber, wie hier in einem Wohnprojekt in Leipzig, gehören in linken Kreisen zur Standarddekoration / Heinrich Holtgreve

Zum Beispiel in der Rigaer Straße 94 in Berlin-Friedrichshain. Durch die drohende Räumung des teilweise besetzten Hauses, das ein ausländischer Investor erworben hatte, waren die Linken angestachelt. Flaschen und Steine flogen 2016 in Richtung Polizei, Autos wurden abgefackelt. Das Haus wurde von Polizisten abgeriegelt und umstellt. Am Ende gewannen die Bewohner des Hauses vor Gericht: Sie dürfen vorerst bleiben.

Wer die prominente Adresse heute besucht, findet einen Hinterhof vor, auf dem allerhand Gerümpel und Sofas stehen. Eine Schubkarre mit Pflastersteinen steht neben einem Hauseingang – ob zum Werfen oder Bauen, ist nicht auszumachen. Immerhin: Polizisten sieht man hier nirgendwo. Dafür sind viele Anwohner zunehmend genervt von dem wenig bürgerlichen Lebensstil in der Nachbarschaft. Ein Autonomer tritt aus dem Hauseingang, auch er sagt, dass Interviews offiziell über die E-Mail-Adresse der Riesen-WG angefragt werden müssten, bevor er den Hinterhof verlässt. Nichts lassen die Hausbesetzer unversucht, um ihr Projekt zu verteidigen. Ende August drangen einige Autonome aus dem Umfeld der Rigaer Straße sogar in ein Gebäude der Berliner Justizverwaltung ein. Sie bedrohten einen Referatsleiter, um so ihre Solidarität mit inhaftierten Genossen zu bekunden, aber auch um die Berliner Justiz einzuschüchtern und zu verhöhnen.

Gewalt gegen Nazis

Ein hehres Ziel, mit dem Gewalt legitimiert wird, ist für Linksextremisten auch der „Kampf gegen rechts“. Kaum hatten Ende August ein Tötungsdelikt von Asylbewerbern an einem Deutschen und die anschließenden Übergriffe von Rechtsextremisten auf ausländisch aussehende Menschen Schlagzeilen gemacht, eilten auch Leipziger Autonome nach Chemnitz, um sich der ausländerfeindlichen Hetze entgegenzustellen und die Nazis zu verjagen. Neben Polizisten gehören auch Nazis zu jener Gruppe von Menschen, bei denen Linksextremisten Gewalt für legitim erachten. Doch mit ihren Angriffen setzten die Linksradikalen die oft beschworene Spirale der Gewalt erst recht in Gang. In Chemnitz hatten die Sicherheitskräfte einige Mühe, die gewaltbereiten Gruppen von links- und rechtsaußen auseinanderzuhalten.

Die alte Spitzenfabrik in Grimma setzt auf kreatives Chaos… / Heinrich Holtgreve
…und Kronkorken sind bei der autonomen Mülltrennung ein teures Gut / Heinrich Holtgreve

Seit Chemnitz ist das Bundesland Sachsen in eine Art Schockstarre verfallen. Das spürt man auch in Grimma. Die Stadt mit ihren rund 30 000 Einwohnern hat noch einmal einen Sonnentag erwischt. Sozialarbeiter Tobias Burdukat, 35, kommt auf einem verrosteten Rad angefahren und weist den Weg in einen Bioladen, in dem es heute Falafel mit Chutney gibt, fair gehandelt und fleischlos. Das Gespräch kann beginnen.

„Deutschland raus aus Chemnitz“

Burdukat, der selbst oft von Rechten bedroht wird, sei es im Netz oder auf der Straße, hält nichts von den Kategorisierungen. „Ich bezeichne mich nicht mehr als links. Ich sage einfach, dass ich Anarchist und Humanist bin“, sagt er und dreht sich eine Zigarette. Als er sie aufgeraucht hat, steckt er den Stummel in eine runde Dose. Wer eine Zigarettenkippe auf den Boden wirft, beschmutzt Mutter Erde. Der Sozialarbeiter stammt selbst aus der Region. Im Osten, vor allem im ländlichen Sachsen, gebe es zur Nazigang oft wenig Alternativen. „Ich wurde auch verkloppt von Rechten. Aber ich wusste, dass ich mich denen nicht anschließen werde. Irgendwann hatte ich eine Band und war ab da nicht mehr alleine“, sagt Burdukat, während er durch das alte Industrieareal führt, sein „Dorf der Jugend“.

Humanist und Anarchist – Tobias Burdukat mit seinem Dienstfahrzeug / Heinrich Holtgreve

An einer Außenwand der alten Spitzenfabrik von Grimma steht „I hate Germany!“, auf einen Spülkasten hinter den Herrentoiletten auf dem Hof hat jemand „Deutschland raus aus Chemnitz“ gekritzelt. In den alten Produktionshallen in Grimma stehen abgewetzte Sofas herum, Schaufensterpuppen, Fahrräder und alte Deckenlampen. Ein komplettes Chaos – und mittendrin das Büro von Tobias Burdukat. Das Sozialprojekt hat etliche Preise gewonnen. Mit Veranstaltungen und Freizeitangeboten macht Burdukat etwas los für die Jugend am Ort. Er versucht bei ihnen auch sensible Themen anzuschneiden wie Flüchtlinge, Rassismus und Sexismus und sie so davon abzuhalten, ins rechte Spektrum abzudriften.

„Ein Mittel, um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen“

Natürlich ist Burdukat doch ein Linker, auch wenn er das nicht hören möchte. Aber so wie er sich kleidet, seine Tattoos, sein langer Bart, seine Ideale und auch seine Ängste – so spricht ein linker Aktivist. Und in seinem Projekt gibt es selbstverständlich ein Plenum, in dem basisdemokratisch Entscheidungen gefällt werden. Er sagt, er wolle „Jugendliche befähigen, den Mund zu öffnen und gegen Unrecht aufzustehen“. Doch auch er rechtfertigt Gewalt gegen Nazis und Polizisten, sie sei „ein Mittel, um gegen Ungerechtigkeit zu kämpfen.“ So landen die Jugendlichen in der sächsischen Provinz entweder in dem einen oder in dem anderen extremistischen Lager. Die Auseinandersetzung zwischen beiden Lagern, gewalttätige Zusammenstöße auf der Straße, können sich jederzeit wiederholen.

Für den Wissenschaftler Peter Ullrich ist ein Zusammenhang mit der Großen Dauerkoalition in Berlin offensichtlich. „Im Bundestag fehlt es an politischen Kontrasten und für den Bürger an einer echten Wahlmöglichkeit. Das führt zu einer Frustration mit der Demokratie, die zur bloßen Fassade wird: zur Postdemokratie.“ Dabei zeigt sich in Grimma, wie leicht sich die ganze Energie auch in eine andere Richtung lenken ließe. Tobias Burdukat und seine Mitstreiter renovieren ihre Industriebrache Stück um Stück. Draußen ist schon eine Skate-Anlage entstanden. „Letztens hatten wir hier unser Musikfestival“, erzählt Burdukat. Ein paar Jugendliche sitzen draußen in einer Runde. Sie sind gerade dabei, Schrauben nach Größe zu sortieren. Auch so kann es aussehen, wenn man die Welt rettet.

Dies ist ein Text aus der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.












 

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