Linke und rechte Identitätspolitik - Das Geschäftsmodell der Opfer-Wut

Beim Projekt der woken Wutkultur geht es nicht darum, die Welt zu einem besseren Ort zu machen. Sondern um die Lust an der inflationären Empörung. Wer sich gekränkt fühlt und es schafft, seiner individuellen Kränkung allgemeine Gültigkeit zu geben, darf seine Wut öffentlich ausleben. Und wird dafür sogar noch belohnt.

Arbeiter bereiten sich darauf vor, eine Statue des ehemaligen Sklavenbesitzers Robert Milligan in London abzureißen / dpa
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Autoreninfo

Bernd Stegemann ist Dramaturg und Professor an der Hochschule für Schauspiel (HfS) Ernst Busch. Er ist Autor zahlreicher Bücher. Zuletzt erschienen von ihm das Buch „Die Öffentlichkeit und ihre Feinde“ bei Klett-Cotta und „Identitätspolitik“ bei Matthes & Seitz (2023).

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Linke Identitätspolitik etabliert im Gegensatz zur rechten eine komplizierte Wutkultur. Sie muss die Thymos-Spannung der Opfer hochhalten und immer wieder neu entfachen. Zugleich muss sie die wütenden Reaktionen der Mehrheitsgesellschaft abwehren, indem sie diese wie in einer japanischen Kampftechnik auf sie selbst zurückwendet. So erklärt sich, warum sich beide Identitätspolitiken gegenseitig befeuern.

Die rechte Wut wird nicht als Ausdruck sozialer Probleme ernst genommen, sondern soll vor allem eine Gefahr für linke Identitäten sein. Rechte Wut wird zum individuellen Charakterfehler erklärt, während linksidentitäre Wut Ausdruck der falschen Verhältnisse ist. Mit diesem doppelten Standard werden permanent neue Konflikte produziert. Denn es werden nicht nur alle nicht-linksidentitären Wutkollektive provoziert, sondern es wird ebenso der Universalismus und Gleichheitsanspruch der bürgerlichen Milieus bekämpft.

Radikale Paradoxien

Um in diesem Wechselspiel Sieger zu bleiben, wendet die linke Identitätspolitik ihre Paradoxien immer radikaler an. Jeder Versuch, auch die rechte Wut als Teil des politischen Spektrums zu verstehen, wird kategorisch abgelehnt. Wer die „Sorgen der Bürger“ ernst nehmen will, macht sich in ihren Augen bereits verdächtig.

Der einfache Grund, warum linke Identitätspolitik ihre doppelten Standards so vehement durchsetzen will, besteht in ihrem politischen Machtanspruch. Würde die Wut der „weißen Menschen“ nicht als Beweis ihrer Schuld angesehen, sondern als verstehbares Aufbegehren anerkannt, bräche das Fundament linker Identitätspolitik zusammen. Ihre doppelten Standards sind das Betriebsgeheimnis ihres Erfolgs. In jedem einzelnen ihrer Argumente finden sie sich wieder.

Darum droht die größte Gefahr für sie inzwischen nicht von der Seite der rechten Wut, sondern von der Seite, die ihren strategischen Einsatz der Doppelstandards öffentlich kritisiert. Die Wut linker Identitätspolitik richtet sich immer stärker gegen die neutrale Position des Universalismus. Die raffinierteste Abwehr besteht darin, den Universalismus zum Partikularismus der „weißen Menschen“ zu erklären.

Mit diesem logischen Trick sägt die linke Identitätspolitik jedoch an dem Ast, auf dem sie selbst sitzt. Denn wenn es keinen Universalismus in der Gleichheit mehr gibt, entfällt auch ihr Fundament für eine Gleichheit, mit der Minderheiten gleiche Rechte fordern können. Wer den Universalismus der Menschenrechte ablehnt, öffnet die Türen zur Hölle, in der wieder das Recht des Stärkeren gilt.

Doch diese Gefahr wird ignoriert, da der kurzfristige Gewinn aus den doppelten Standards zu verlockend erscheint. Um diesen Kampf der doppelten Standards gegen die Gleichheit des Universalismus zu gewinnen, muss der Wut-Pegel hoch bleiben. Nur ausreichend große Erregung kann das Wutkollektiv zusammenschweißen und es damit gegen rationale Argumente immunisieren.

Die Vehemenz des Aufschreis wird zur stärksten Waffe gegen den zwanglosen Zwang des besseren Arguments. Darum betreibt linke Identitätspolitik ein elaboriertes Wutmanagement. Damit die Anlässe für Kränkungen nicht ausgehen, müssen die Gegenwart und die Vergangenheit nach Ereignissen durchsucht werden, über die man sich empören kann.

Pietistisches Weltbild

So entsteht die „wokeness“ als wichtigster Lieferant immer neuer Kränkungen. Wer „woke“ ist, ist erwacht und findet mit geschärften Sinnen nun den kleinsten Anlass für Empörung. Der Woke erfüllt in der linken Wutkultur eine wichtige Funktion. Er liefert den notwendigen Nachschub an Aufregung, um die linke Wutspannung hochzuhalten.

Die Erwachten fügen sich perfekt ins pietistische Weltbild und radikalisieren die Suche nach Empörungsgründen. Wenn alle weißen Menschen von Natur aus Rassisten sind, erhöht sich die Zahl der empörungsfähigen Ereignisse ins Unendliche. Was als Mikroaggression in US-amerikanischen Colleges schon vor Jahrzehnten für den permanenten Nachschub an Kränkungen sorgte, wird nun zur allgemein verfügbaren Erregung. Die einfache Frage „Woher kommst du?“ löst, wenn sie von einem weißen Menschen gestellt wird, Wut aus. Denn in den empörungsbereiten Ohren klingt diese Frage nach der Unterstellung, dass die nicht-weiße Person womöglich aus einem anderen Land kommen könnte.

Paradoxe Situation ohne Lösung

Ebenso können die „Tränen der weißen Frau“ zu einem Skandal taugen. Wenn eine rassistisch motivierte Tat öffentlich betrauert wird, sollen schwarze Menschen ablehnen, dass weiße Frauen ihre Anteilnahme durch Tränen ausdrücken dürfen. Die Unterstellung besteht darin, dass weiße Frauen mit ihren Tränen nur selbst zum Mittelpunkt der Trauer werden wollen. So wird eine weitere paradoxe Situation geschaffen, in der Weiße es nur falsch machen können.

Stehen sie ohne Gefühle abseits, wird ihnen Empathielosigkeit und ein rassistisches Desinteresse vorgeworfen. Zeigen sie ihre Gefühle und weinen, wollen sie nur die Aufmerksamkeit auf sich lenken. Und wie in allen paradoxen Situationen gibt es keine Lösung. Die Macht liegt genau darin, dass Weiße in eine ausweglose Situation gebracht werden. Der Weiße handelt unhintergehbar falsch, weil er ein Weißer ist, womit er zwangsläufig immer neue Beweise für seine Schuld produziert.

Ist die Tür zur negativen Interpretation „weißer“ Gefühle einmal durchschritten, kann in jeder Handlung und in jeder Formulierung eine rassistische Kränkung gesehen werden. Die Hermeneutik des Verdachts bestimmt dann das Klima, in dem Kommunikation stattfinden muss.

Ein Keks, der von dunkler Schokolade ummantelt ist und „Afrika“ heißt, wird dann ebenso zum rassistischen Skandal wie das Adjektiv „schwarz“ in „Schwarzfahren“ oder „Schwarzarbeit“. Dass in beiden Fällen nicht „schwarze“ Menschen gemeint waren, spielt dabei ebenso wenig eine Rolle wie die absurde Mühe, die eine Gesellschaft aufwenden muss, um die immer neuen Kränkungen zu beruhigen und den alltäglichen Gebrauch der Sprache zu korrigieren.

Affekte der Rache

Bei dem Projekt der woken Wutkultur geht es nicht um einen Plan, die Welt zu einem besseren Ort zu machen, sondern es geht um die Lust an der inflationären Empörung. Wer sich gekränkt fühlt und es schafft, seiner individuellen Kränkung eine allgemeine Gültigkeit zu geben, ist nicht nur berechtigt, seine Wut öffentlich auszuleben, er wird dafür sogar noch belohnt.

Gelten die Affekte der Rache ansonsten als bedenkliche Zeichen von Zivilisationsverlust, so ist die wütende Stimme, die aus einer Opferperspektive nach Vergeltung ruft, ein anerkannter Beitrag zur Öffentlichkeit. Jedes Medium, das im Markt der Aufmerksamkeit mithalten will, braucht inzwischen mindestens eine wütende Opferstimme unter seinen Beiträgern.

Textform des One-Trick-Pony

Das Geschäftsmodell der Opfer-Wut ist so einfach wie erfolgreich. Müssen die Stimmen derer, die nicht als Opfer gelten, Argumente finden und größere Zusammenhänge erläutern, um ihrer Meinung eine Relevanz zu geben, kann die Opfer-Stimme allein auf sich selbst und die eigene Kränkung schauen. So entsteht die Textform des One-Trick-Pony: „Ich bin wütend“ wird zum Ausgangspunkt des immer gleichen Textes, der gegen eine vermeintliche Übermacht anbrüllt.

Dass die Behauptung, eine marginalisierte und darum übersehene Opferposition zu bekleiden, spätestens in dem Moment zur Lüge wird, wo sie regelmäßig in einem überregionalen Medium erscheint und vielfältigen Zuspruch erhält, wird ausgeblendet. Getreu der alten Lehre zum Machterhalt befolgen die Verwalter der Opfer-Wut den Ratschlag: Wenn du herrschen willst, musst du es im Gewand des Dieners tun.

So hat der öffentliche Wettbewerb zwischen rechter und links-woker Identitätspolitik einen klaren Sieger. Und damit findet die paradoxe Methode der linken Identitätspolitik ihre abschließende Formel. Solange sie es schafft, genügend Nachschub an Empörung zu generieren, und solange ihre Wut als legitimer Ausdruck der Unterdrückten erscheint, solange behält sie die Macht über die Regeln der öffentlichen Kommunikation.

Darum steht im Zentrum dieser Wutkultur der gut bewachte Bereich des Opferstatus. Dass die Opfer-Wut so viel erfolgreicher ist als die Täter-Wut der rechten Identitätspolitik, gibt hingegen Anlass, zum Abschluss noch einmal anders über die Wutkultur der Spätmoderne nachzudenken.

Dieser Beitrag ist ein Auszug aus Bernd Stegemanns Buch „Wutkultur“ (Hardcover mit 104 Seiten, 12 Euro), das diesen Monat im Verlag „Theater der Zeit“ erscheint.

 

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