Debatte um den Großen Zapfenstreich - Faktenwidrig und geschichtsvergessen

Politiker und Bürger kritisieren den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr. Doch handelt es sich dabei, anders als der Grünen-Politiker Ströbele behauptet, nicht um ein „militaristisches Ritual aus Preußen und NS-Zeit“. Es ist eine Tradition, die europäische Armeen schon pflegten, bevor es Könige von Preußen gab.

Soldaten nehmen an dem Großen Zapfenstreich in Berlin teil, um den Afghanistan-Einsatz der Bundeswehr zu würdigen / dpa
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Julien Reitzenstein befasst sich als Historiker in Forschung und Lehre mit NS-Verbrechen und Ideologiegeschichte. Als Autor betrachtet er aktuelle politische und gesellschaftliche Entwicklungen.

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Laut ist die Kritik an der Bundeswehr in diesen Tagen wegen des vor dem Reichstag abgehaltenen Zeremoniells des Großen Zapfenstreichs. Diese Kritik ist manches Mal ebenso faktenwidrig wie geschichtsvergessen, dann aber voller woker moralischer Überlegenheit. Doch wenn die eigene moralische Selbstvergewisserung mehr zählt als Fakten, lohnt es dann noch, der Skandalisierung Fakten entgegenzusetzen? Es sollte einen Versuch wert sein, einen Versuch in sechs Gedanken.

Selektive Geschichtswahrnehmung

Der erste Gedanke: Woher rührt die Empörung – und weshalb bricht sie sich gerade jetzt Bahn? Bei Licht betrachtet ist nichts geschehen, was nicht schon seit Jahrhunderten bei Streitkräften in Deutschland und im Ausland Normalität ist. Die Bundeswehr hat – wie mehrfach zuvor – vor dem Reichstag das traditionelle Zeremoniell des Großen Zapfenstreichs abgehalten, um damit jene rund 100.000 Soldatinnen und Soldaten zu ehren, die auf Geheiß des Bundestages in Afghanistan dienten. Möglicherweise gibt es gar nicht so viel Empörung, die aber durch Twitter schriller wirkt. Das wird dann besonders fragwürdig, wenn sogenannte Keyboard Warriors sich dort einmischen, wo Menschen dafür geehrt wurden, dass sie auf Befehl des Parlaments in Kampfzonen ihre Gesundheit und ihr Leben riskiert haben.

Der zweite Gedanke: Die Tragödie des Missverstehenwollens und des Faktenverdrehens hätte sich wahrscheinlich nicht in dieser Weise ereignet, wenn der polnische Graf Atanazy Raczyński nicht bereits 1874 verstorben wäre. Denn er hatte sich bis dahin geweigert, sein Palais am Berliner Königplatz nahe dem Brandenburger Tor als Bauplatz für das geplante Reichstagsgebäude zu verkaufen. Hätte man einen anderen Bauplatz gefunden – weiter entfernt vom Brandenburger Tor – wäre eines der Hauptargumente der Empörten ins Leere gegangen: Denn nach der Ernennung Adolf Hitlers zum Reichskanzler marschierten spontan SA-Kolonnen durch den Tiergarten, durch das Brandenburger Tor und über den Pariser Platz, bogen nach rechts in die Wilhelmstraße ab, um an der Reichskanzlei vorbeizuziehen, in der Hitler sich schon am ersten Amtstag weit aus dem Fenster lehnte. Am Pariser Platz lebte der vielfach geehrte jüdische Maler Max Liebermann, der über die Jahre aufmerksam registriert hatte, welche Maßnahmen die Nazis für Juden propagierten, wenn sie denn erst einmal an die Macht kommen. Beim Vorbeimarsch von gleich Zehntausenden Antisemiten sagte er „Man kann gar nicht so viel fressen, wie man kotzen möchte.“ Wäre der Reichstag nicht 500 Meter vom Brandenburger Tor – das wie andere Orte auch auf der Marschroute der SA lag – entfernt gebaut worden, wären viele Empörungen ins Leere gegangen. Gerade jene, die heute eine Verbindung zwischen der Machtübernahme Hitlers, Liebermann, dem Brandenburger Tor und dem Reichstagsgebäude konstruieren.

Der Staat im Staate

Der dritte Gedanke: Die Reichswehr war am damaligen Aufzug nicht beteiligt. Deren Oberbefehlshaber war Reichspräsident von Hindenburg, gegen den Hitler bei der Reichspräsidentenwahl im Jahr zuvor deutlich verloren hatte. Gleichwohl verstand sich die Reichswehr als Staat im Staate, was auch bedeutet, dass sie unpolitisch zu sein hatte – Soldaten waren von Wahlen generell ausgeschlossen. Nach Hindenburgs Tod im Sommer 1934 wurden die Reichwehrangehörigen nicht mehr auf die Verfassung, sondern auf Adolf Hitler vereidigt. Fünf Jahre später wurden sie Teil eines Vernichtungskrieges undenkbaren Ausmaßes. Gleich zu Beginn des Krieges wurde das 1931 in Dienst gestellte „Panzerschiff Deutschland“ in „Lützow“ umbenannt, da Hitler „Deutschland“ nicht untergehen sehen wollte. Sein Handeln zwang ihn genau dazu 1945. Und auch das Panzerschiff wurde 1945 so schwer beschädigt, dass die Selbstversenkung vorbereitet werden musste. Für einen Untergang warb auch die Grüne Jugend vor einigen Jahren: „Am 3. Oktober wurde ein Land aufgelöst und viele freuen sich 25 Jahre danach. Warum sollte das nicht noch einmal mit Deutschland gelingen?“

Der vierte Gedanke: 50 Nationen nahmen am Isaf-Einsatz in Afghanistan teil. Sie sandten Soldaten, um Entwicklungshelfer und NGOs zu schützen, die Mädchenbildung, Gleichstellung von Frauen, Schutz von Kulturgut, den Aufbau einer Demokratie westlichen Vorbilds ermöglichen sollten. Was haben die Bundeswehrangehörigen falsch gemacht, dass sie dabei im Gegensatz zu ihren Kameraden aus anderen Staaten kaum Rückhalt in der Bevölkerung genießen? Will man den in den 1970ern bis 1990ern geborenen Soldaten vorwerfen, was schon lange verstorbene Soldaten im Vernichtungskrieg der Wehrmacht verbrochen haben? Ist es nicht hinreichend, sich deutlich von allem zu distanzieren, was die Nationalsozialisten deutschen Militärtraditionen hinzugefügt haben und auch von deren Ideologie? Auch zu diesem Zweck gibt es den seit 1965 bestehenden Traditionserlass für die Bundeswehr, der seither mehrfach verschärft und eingeengt wurde: eine Abgrenzung von den Vorgängerarmeen der DDR und des Deutschen Reichs, die weltweit Beachtung findet, in Bezug auf die Verbrechen der Wehrmacht auch richtig.

Kritik sollte berechtigt sein

Der fünfte Gedanke: Die DDR-Führung war deutlich darauf bedacht, sich von jedwedem nationalsozialistischen und auch faschistischen Gedankengut, aber auch genuinen Wehrmachtstraditionen deutlich zu distanzieren. Schon bei der Gründung der DDR 1949 ließ FDJ-Chef Erich Honecker 200.000 uniformierte FDJ-Angehörige in einem Fackelzug vor der Führung des „Antifaschistischen Deutschland“ vorbeimarschieren. Dabei trugen sie überlebensgroße Bilder von Stalin, der nur vier Jahre zuvor den Sieg im „Großen Vaterländischen Krieg“ so für sich reklamierte, dass er nach der Kapitulation der Wehrmacht vor den Alliierten auf einer eigenen, weiteren Kapitulationszeremonie in Berlin bestand.

Keiner der Beteiligten oder Beobachter hatte bei solchen Fackelzügen durch Berlin „Nazi-Assoziationen“. Im Übrigen sind Fackeln bei feierlichen Militärzeremonien auch in Israel nicht ungewöhnlich – dort, wo man aus tragischen Gründen eine besondere Sensibilität bezüglich „Nazi-Assoziationen“ hat.

Der sechste Gedanke: Politiker und Bürger kritisieren den Großen Zapfenstreich der Bundeswehr. Das ist legitim. Kritik fällt jedoch auf den Kritiker zurück, wenn er im Eifer der Empörung offenbart, dass seine Kritik auf falschen Annahmen beruht. Ein Beispiel ist der Rechtsanwalt und Politiker Hans-Christian Ströbele. Es sollte ihm zugetraut werden, Fakten zu prüfen. Gleichwohl fragte er „Was soll das militaristische Ritual aus Preußen und NS-Zeit?“. Es wäre anmaßend, Menschen Empfindungen und Assoziationen bei bestimmten Bildern absprechen zu wollen. Aber gezielt Empfindungen und Assoziationen manipulierend hervorzurufen, ist bedenklich.

Zapfenstreich als militärisches Zeremoniell

Zu den Fakten: Zu allen Zeiten war der Soldatenberuf mit psychischen Belastungen verbunden. Früher wurde versucht, das Erlebte mit Alkohol, in gegenseitigem Austausch oder beidem zu verdrängen. Das geschah beispielsweise schon vor dem Dreißigjährigen Krieg in Wirtshäusern. In der Regel lagen dort Fässer auf und der Wirt füllte die Becher unter dem in diesen steckenden Zapfhahn auf. Um der Gefahr vorzubeugen, dass zu wenig Schlaf und Restalkohol am nächsten Tag zu Misslichkeiten führt, etablierte sich ein Ritual. Ein Offizier ging – zumeist in Begleitung von Militärmusikern, was ihm Aufmerksamkeit verschaffte – durch die Wirtshäuser und führte einen leichten Schlag über den Zapfhahn aus. Einen Streich – wie bei „Sieben auf einen Streich“ – als Signal, dass der Zapfen für diesen Abend geschlossen ist und die Soldaten heimgeführt werden.

Der Große Zapfenstreich als militärisches Zeremoniell in Deutschland entwickelte sich im Zuge der Befreiungskriege gegen das napoleonische Frankreich, das damals fast ganz Europa erobert hatte. Am Abend der ersten Schlacht dieser Befreiungskriege bei Großgörschen, am 2. Mai 1813, besichtigte der preußische König Friedrich Wilhelm III. das benachbarte Lager seines Alliierten, des russischen Zaren Alexander I. Wie in Russland üblich, dankten die russischen Soldaten ihrem Schöpfer nach dem von Militärmusik begleiteten ritualisierten Zapfenstreich im Lager mit einem Choral, also einem gesungenen Gebet. Davon beeindruckt, führte Friedrich Wilhelm für seine Truppen ebenfalls ein Gebet und Militärmusik am Abend ein. Da dieses Zeremoniell auch in Schweden und Österreich längst üblich war, übernahmen immer mehr Staaten in Europa, weit über deutschsprachige Staaten hinaus, dieses Zeremoniell. Noch heute ist das stille Gebet Kern des Großen Zapfenstreichs der Bundeswehr. Da der Zapfenstreich naturgemäß am Abend stattfindet, wird die vor Jahrhunderten alternativlose Beleuchtung mit Fackeln als Verweis auf diese alte Tradition beibehalten.

Im Nationalsozialismus wurde analog zu dieser Tradition der Große Zapfenstreich der Polizei erfunden, der auch bei der SS in Gebrauch war. Dieses Zeremoniell wurde weder von der Polizei der Bundesrepublik fortgeführt noch von der Volkspolizei der DDR. Denn es war – mit den Worten Ströbeles – ein „militaristisches Ritual aus der NS-Zeit“. Allerdings führte auch die Nationale Volksarmee der DDR den Großen Zapfenstreich als höchste militärische Zeremonie ein. Bedenken, Gefühle und Assoziationen mit dem in der DDR ritualisierten „Preußischen Militarismus“ gab es offenbar nicht – obschon dieser in der DDR als wesentlicher Wegbereiter des Nationalsozialismus galt.

Skandalisierung einer Zeremonie

Die Skandalisierung des Großen Zapfenstreichs als „Nazi-Tradition“ geht also ebenso an den historischen Fakten vorbei wie die Assoziation mit dem 30. Januar 1933. Denn an jenem Abend war die Wehrmacht gar nicht auf Berliner Straßen zu sehen. Und die Annahme, dass die Wehrmacht nach wenigen Stunden Amtszeit des 13-köpfigen Kabinetts, dem drei NSDAP-Minister angehörten – bereits eine „Nazi-Armee“ gewesen sein könnte, wäre absurd. Richtig ist, dass eine Gliederung der NSDAP und ihre Sympathisanten einen Marsch durch Berlin veranstaltet haben. Einige hatten Fackeln dabei, damals kein seltenes Ritual auch weit jenseits politischer Kundgebungen. Weder lag der Platz vor dem Reichstag auf der Marschroute noch war Militär beteiligt. Da es kaum brauchbare Bilder gab und der Marsch recht ungeordnet war, ordnete Joseph Goebbels einige Monate später an, die Szenen nachzustellen. Seine filmerfahrenen Mitarbeiter sorgten dafür, dass nicht bierbäuchige SA-Mitglieder wie beim echten Aufmarsch im Fokus standen, sondern stramme junge Männer, die von der Ausstattungsabteilung gleichmäßig und überreichlich mit Fackeln versorgt wurden. Wer heute die Bilder einer NS-Inszenierung als historische Tatsachen missverstehen will, um daraus Verbindungen zu einer demokratisch legitimierten Parlamentsarmee zu konstruieren, sollte sein Urteilsvermögen überprüfen.

Der Große Zapfenstreich ist, anders als Ströbele behauptet, kein „militaristisches Ritual aus Preußen und NS-Zeit“. Es ist eine Tradition, die europäische Armeen schon pflegten, bevor es Könige von Preußen gab. Eine Tradition, die die viele Armeen Europas bis heute pflegen. Und die ganz gewiss nicht „aus der NS-Zeit“ stammt. Aus der NS-Zeit stammt hingegen die S-Bahn-Haltestelle Brandenburger Tor. Gleichwohl ist nicht jeder der dort aussteigt oder den von Nazis eingeführten Muttertag begeht, a priori ein Nazi-Apologet. Die Aufführung des Großen Zapfenstreichs in Deutschland erfolgt nach festen Regeln bei in der Regel gleichen Anlässen. Neben Ehrungen ist einer davon die Verabschiedung von Bundeskanzlern, ein anderer die Verabschiedung von Verteidigungsministern. Diesen steht frei, Wünsche bezüglich der Hauptmusik zu äußern. Als Ursula von der Leyen mit einem Großen Zapfenstreich verabschiedet wurde, wünschte sie sich unter anderem „Wind of Change“ und „Ode an die Freude“. Als der erste Verteidigungsminister der Bundesrepublik, Franz-Josef Strauß verabschiedet wurde, wünschte er sich unter anderem den Marinemarsch „Panzerschiff Deutschland“.

Alte Militärtradition ganz neu

Dies zeigt, dass ein Wandel dieser alten Militärtradition laufend stattfindet. Das sollte Anlass sein, die gegenwärtige Kritik genau zu analysieren, die Anteile moralischer Selbstvergewisserung medialer Selbstdarsteller ebenso herauszufiltern wie historische Verdrehungen und Falschbehauptungen. Das verbleibende Destillat wird ein guter Nährboden für das sein, was Johannes Vogel (FDP) in der aktuellen Debatte forderte: „Die Lösung ist nach meiner Überzeugung, dass wir uns noch viel selbstverständlicher und häufiger mit unserer Sicherheitspolitik und unserem Militär beschäftigen würden. Andere Demokratien tun das, bis hin zum Zeremoniell. Das wünschen sich auch sehr viele Soldatinnen und Soldaten.“

Denn nur ein demokratischer und ergebnisoffener Diskurs kann eine Weiterentwicklung des Großen Zapfenstreichs ermöglichen – wenn das einerseits die betroffenen Bundeswehrangehörigen wollen, von denen rund 100.000 vom Bundestag nach Afghanistan gesandt wurden und andererseits jene, die mulmige Gefühle und erschütternde Assoziationen belasten. Auch wenn es sich um – nach Sichtung der Fakten – erschütternde Assoziationen in Zeiten von Nordstream 2 handelt: Der Große Zapfenstreich als Zeremonie wurde von der russischen Armee übernommen, von der NVA aufgeführt, Fackelzüge vom antidemokratischen Schießbefehl-Honecker inszeniert. Spätestens dann sollte klar sein, dass entkontextualisierte Rückgriffe auf die Geschichte einzig Selbstzweck sind.

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