Krise der Demokratie - Der letzte Trumpf

Das Land ist gespalten, die AfD im Aufwind und die liberale Demokratie in Gefahr. Nur wenn es Union und SPD gelingt, konservative Wähler zurückzugewinnen, können amerikanische Verhältnisse verhindert werden – noch ist es dafür nicht zu spät

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Parteitage, wie der der CDU 2016 in Essen, sind Paralelluniversen, in der die Lebenswelt der Wähler weit weg ist / Nikita Teryoshin
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Timo Lochocki ist Senior Fellow der Stiftung Mercator. Davor arbeitete er im Bundesgesundheitsministerium.

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Die liberale Demokratie in Deutschland steht am Scheideweg. Die Landtagswahl in Bayern belegt eindrücklich, dass das Ende von SPD und CDU/CSU als Volksparteien gekommen sein könnte. Die Stabilität des politischen Systems, die mit der Stärke der beiden Volksparteien einherging, droht ins Wanken zu geraten.

Über all dem steht der kometenhafte Aufstieg der Alternative für Deutschland (AfD). Wohin der Aufstieg von nationalistischen Rechtspopulisten führen kann, sehen wir in den USA, Großbritannien oder Italien: Zerstörung des liberalen Rechtsstaats, finanzpolitisches Harakiri und außenpolitische Abenteuer von tollkühner Dummheit. Droht uns also ein deutscher Trump und ein Dexit – ein Austritt Deutschlands aus der EU?

Das Wählerpotenzial der AfD ist riesig

Deutschland ist in der Tat gerade dabei, all das zu verspielen, was das Land stark macht: die politische Konsensfähigkeit, eine langfristige Migrations- und Wirtschaftspolitik im nationalen Interesse und eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Aber der Grund dafür ist nicht die AfD, sondern es sind die Missverständnisse über die AfD und ihre Wahlerfolge.

AfD-Wähler sind in der überwältigenden Mehrheit demokratische Konservative. Diese Wählergruppe zeichnet sich vor allem durch zwei Kern­anliegen aus – dem Wunsch nach einem behutsamen gesellschaftlichen Wandel und einem positiven Blick auf Autoritäten. Beide sind relativ unabhängig von Region, Einkommen und Bildungsstand in der Bevölkerung zu finden. Daher hatten Konservative in der CDU/CSU, aber auch in der SPD, Linkspartei und der FDP ihre politische Heimat. Progressive hingegen sind von raschem Wandel angetan und haben für Autoritäten weniger übrig; sie finden sich aktuell bei der Rest-SPD und den Grünen.

Diese Konservativen machen je nach Umfrage bis zu 45 Prozent der deutschen Wähler aus. Das Wählerpotenzial der AfD ist also riesig. Je nach Umfrage liegt der Anteil von verfassungsfeindlichen Einstellungen in der Wählerschaft der AfD hingegen bei maximal einem Drittel. Würden die Volksparteien also alle Demokraten von der AfD zurückgewinnen können, würde die AfD unter die Fünf-Prozent-Hürde fallen.

Nazi-Beschimpfungen sind wirkungslos

Die Mitglieder und die Führung der AfD hingegen sind deutlich antidemokratischer eingestellt. Etwa die Hälfte der AfD-Mitglieder hegt starke Sympathien für verfassungsfeindliche Gedanken. Gerade ihr Spitzenpersonal – allen voran Björn Höcke, André Poggenburg und mittlerweile auch der einstmalige Vorzeige-Konservative Alexander Gauland – äußern sich nun derart, dass rechtsextreme, antidemokratische und somit verfassungsfeindliche Parolen klar erkennbar sind.

Die Unterscheidung zwischen AfD-Führung, Mitgliedern und Sympathisanten ist elementar. Wer AfD-Wähler allesamt als Nazis beschimpft, erweist sich selbst einen Bärendienst. Er wird nämlich deren Selbstbild bestätigen, dass man sie gar nicht verstehen will. So wird man keinen einzigen AfD-Wähler zurückgewinnen. Denn die meisten ihrer Wähler sind nicht von der AfD überzeugt, sondern von SPD und Union enttäuscht. Die AfD ist somit Katalysator, ein Symptom der Entfremdung der Wähler von den Volksparteien. Beide sind daher nicht ohnmächtig, sondern haben einen massiven Gestaltungsspielraum, um die AfD wieder kleinzukriegen. Wie das? Hier hilft ein Blick in die Forschung: Flüchtlingszahlen, Gesetze oder Wirtschaftsdaten haben so gut wie nichts mit dem Aufstieg von Rechtspopulisten zu tun. In ganz Europa und auch in den USA gibt es so gut wie keinen messbaren Zusammenhang zwischen realen, greifbaren, objektivierbaren Parametern und dem Auf und Ab von Rechtspopulisten.

Gefühlte Wahrheiten

Deutschland belegt diese Erkenntnisse par excellence. Zwar wuchs die Zustimmung zur AfD im Zuge steigender Flüchtlingszahlen 2015 an; aber sie fällt nicht mit den massiv gefallenen Zahlen seit 2016. Die Umfragewerte für die AfD reagieren auch nicht auf die unterschiedlichen Integrations- und Zuwanderungsgesetze, die seit Herbst 2015 lanciert wurden. Die Partei wird außerdem in wirtschaftlich schwachen Regionen (etwa in Teilen Ostdeutschlands) ebenso wie in den reichsten Wahlkreisen des Landes gewählt (siehe Baden-Württemberg und Bayern). Es gibt auch kaum einen Zusammenhang zwischen der Bildung, dem Einkommen und dem Alter der Wähler und ihrer Sympathie für die AfD. All das deckt sich mit den Daten aus anderen westlichen Demokratien, und das heißt: Reale und objektivierbare Parameter können den Auf- und Abstieg rechtspopulistischer Parteien so gut wie nicht erklären.

Die CDU-Vorsitzende Angela Merkel auf dem Parteitag in Essen, sie wusste bislang immer sehr genau, was in diesem Universum von ihr erwartet wird

Das liegt daran, dass Bürger mit Sympathien gegenüber der AfD nicht direkt auf reale Probleme reagieren, sondern darauf, wie sie deren politische Handhabung bewerten. Es geht also um subjektive Eindrücke, um gefühlte Wahrheiten. Und da sind sich die meisten Wähler ziemlich gleich: egal, ob sie bei CDU, Grünen oder der AfD ihr Kreuzchen machen.

Hieraus folgt: Das mediale Bild, das Politiker abgeben, beeinflusst die Wahlentscheidung massiv. Wähler wandern immer dann zu Rechtspopulisten ab, wenn sie zwei Eindrücke haben: erstens, wenn sie ihr Land von außen bedroht sehen – und dies tritt ein, wenn es medienwirksame Debatten über identitätspolitische Themen gibt, also über Europa oder über Migration, wie derzeit. Und zweitens, wenn die Wähler glauben, dass die etablierten konservativen politischen Kräfte in dieser Frage konservative Anliegen nicht durchsetzen können; exakt dieses Gefühl wird seit Herbst 2015 von Union und SPD permanent befeuert.

„Für die Nation, gegen die Eliten!“

Zum Beispiel, indem Medien über Niederlagen der konservativen Kräfte um Horst Seehofer (CSU) und Jens Spahn (CDU) gegenüber der progressiven Kanzlerin Angela Merkel (CDU) berichten. So entsteht für konservative Wähler der Eindruck: Es gibt ein Problem, es gibt eine konservative Lösung, aber die Regierung macht das genaue Gegenteil, die konservativen Politiker können sich nicht durchsetzen.

Ein reales politisches Problem – steigende Zuwanderungszahlen – sind also eine notwendige Bedingung für den Aufstieg von Rechtspopulisten. Sie geben aber nicht den finalen Ausschlag zur Wahlentscheidung. Denn die hinreichende Bedingung – der Faktor, der entscheidet, wem man seine Stimme gibt – ist die öffentlichkeitswirksame Niederlage der konservativen Flügel in den Volksparteien in medienwirksamen nationalen Debatten über Identitätspolitik.

So entsteht der empfundene Kontrollverlust vieler AfD-Sympathisanten, und es wächst das Misstrauen gegenüber den Spitzenpolitikern der etablierten Parteien. Sie denken zusammengefasst: „Das Land ist bedroht, es gäbe eigentlich auch eine Lösung, aber die Dummköpfe in Berlin setzen sie nicht um! Das kann ja nur bedeuten, dass ihnen mein Land entweder egal ist, oder sie unfähig sind, es zu beschützen.“

Dieses Gefühl greift die AfD mit der Gewinnerformel auf, die alle Rechtspopulisten in allen westlichen Demokratien gemein haben: „Für die Nation, gegen die Eliten!“ Die AfD stellt die Nation als bedroht und die anderen Parteien als nicht willens oder unfähig dar, eben diese zu beschützen. Und wenn jene Kräfte in den etablierten Parteien, die AfD-Sympathisanten noch am nächsten stehen – also zum Beispiel Horst Seehofer und Jens Spahn – öffentlichkeitswirksame Niederlagen einfahren müssen, fällt das AfD-Narrativ natürlich auf fruchtbaren Boden.

Falsche Fokussierung auf Identitätspolitik

Jede Schlagzeile, in der die Medien einen Sieg der progressiven Kanzlerin über ihre konservativen Widersacher in der CDU/CSU verkünden, ist somit Wasser auf die Mühlen der AfD. Die Wirkung solcher Schlagzeilen ist umso heftiger, solange es den Volksparteien nicht gelingt, andere Themen auf die politische Agenda zu setzen. Diesbezüglich haben SPD sowie CDU und CSU in den vergangenen Jahren kolossal versagt. Laut Daten der Forschungsgruppe Wahlen empfanden bis 2009 noch 60 Prozent der Bundesbürger die Bekämpfung der Arbeitslosigkeit als zentrales politisches Problem. 2015 waren dann die Finanz- und Eurozonenkrisen für bis zu 50 Prozent das wichtigste Thema. Bis 2018 hat sich das Bild total gedreht: Ökonomische Themen sind für die meisten Wähler vollkommen irrelevant geworden. 2016 war für 90 Prozent (!) der Befragten die Migrationspolitik das zentrale Thema, 2018 gilt das immer noch für 40 Prozent.

Die ausbleibende politische Debatte über Sozial- und Wirtschaftspolitik führt ferner dazu, dass der Eindruck entsteht, SPD und CDU/CSU seien sich im Kern in finanziellen Fragen einig. Und daraus folgt die pessimistische Lesart, die politischen Eliten steckten alle unter einer Decke. Ihnen sei nicht zu trauen. Einigkeit in ökonomischen Fragen ist daher gut für die AfD, Einigkeit in identitätspolitischen Fragen schlecht. Umgekehrt gilt: Die AfD fällt in den Umfragen, sobald identitätspolitische Konflikte im Konsens abgeräumt sind und es stattdessen massive sozialpolitische Konflikte zwischen SPD und CDU/CSU gibt.

SPD und CDU/CSU haben es in der Vergangenheit sehr oft vermocht, identitätspolitische Themen im Konsens abzuräumen und sich stattdessen auf sozialpolitische Fragen zu fokussieren. Beste Beispiele ist der Asylkompromiss 1992/93 und der Wahlkampf 1994, deren zentrales Thema die Sozialpolitik war. Die damals auftrumpfenden Republikaner traf das hart; sie fielen binnen zwei Jahren von fast 10 auf unter 2 Prozent Wählerzustimmung. Gleiches gilt für die Leitkulturdebatten ab 1999 und die Wahlkämpfe 2002 und 2005, die ganz im Zeichen der ökonomischen Reformnotwendigkeiten standen. 1992 stimmte die SPD in ihrer Petersberger Wende dem Asylkompromiss zu, und während der rot-grünen Regierungen setzte Innenminister Otto Schily (SPD) mehrere konservative Duftmarken. Die SPD marschierte also in Fragen der inneren Sicherheit Seite an Seite mit der Union.

Die Worte über die Taten sind entscheidend

Damit die Parteien bei identitätspolitischen Themen (vor allem in der Europa- und Migrationspolitik) Handlungsfähigkeit demonstrieren können, müssen die konservativen Kräfte in SPD sowie CDU und CSU ins Boot geholt werden. Ein gelungener politischer Kompromiss beinhaltet in dieser Frage also immer auch ein paar konservative Leuchtturmprojekte, die es konservativen Politikern erlauben, mit symbolischen Siegen vor die Öffentlichkeit zu treten.

Wichtig ist Folgendes: Eine umsetzbare politische Lösung ist die notwendige Bedingung; aber der Schlüssel, die hinreichende Bedingung, um die Wähler bei den Volksparteien zu halten, ist die Kommunikation dieser Entscheidung. Der frühere CDU-Generalsekretär Heiner Geißler hat hierzu treffend festgestellt: „Nicht die Taten bewegen die Menschen, sondern die Worte über die Taten.“ Entscheidend ist also die Kombination aus guter Politik und einer zeitgleichen durchdachten politischen Kommunikation derselben.

Jüngstes Positivbeispiel hierfür ist die Griechenlandpolitik der Bundesregierung. Da der damalige Finanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) im Frühling 2015 von den deutschen Medien als strahlender Sieger in den Verhandlungen mit Griechenland porträtiert wurde, kollabierte die AfD. Sie fiel binnen Monaten auf unter 3 Prozent. Es war nicht der parteiinterne Streit zwischen Bernd Lucke und Frauke Petry, der die Partei einbrechen ließ. Nachfolgende innerparteiliche Konflikte schadeten der AfD schließlich auch nicht.

Jährlich grüßt das Murmeltier

Dass die Medien Wolfgang Schäuble als strahlenden Sieger porträtierten, war der Beleg, dass konservative Ansichten sich in der Bundesregierung – in Person des Finanzministers – durchsetzen können. Da Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) aber in den Medien immer als Verlierer im Wettbewerb gegen Kanzlerin Merkel dargestellt wird, entsteht das gegenteilige Bild: Eine konservative Politik in der Migrationsfrage wäre für Konservative nötig und möglich, aber ist in dieser Regierung nicht durchsetzbar.

Die Kommunikation der Integrations- und Migrationsgesetzgebung seit 2016 war eine Aneinanderreihung verpasster Chancen. Dass diese de facto deutlich konservativer wurde, nutzt nichts, weil Gesetzesänderungen nicht als konservativer Sieg im Rahmen eines bürgerlichen Kompromisses verkündet wurden. Dies belegt die Tragik der aktuellen Situation: Richtige Maßnahmen sind seit Jahren reichlich beschlossen worden, nur wurden diese nicht als konservative Siege kommuniziert. Es hätte also herzlich wenig gebraucht, um der AfD den Wind aus den Segeln zu nehmen. Stattdessen gab es ständig Streit, der bei konservativen Bürgern den Eindruck entstehen ließ, dass das Land vor dem Untergang steht, während es von einer progressiven Mischpoke regiert wird.

Als die AfD im Herbst 2015 zum ersten Mal aufstieg, waren es auch nicht die Flüchtlingszahlen, die dies begünstigten. Das ist eine Scheinkorrelation – ein zufälliges Zusammentreffen. De facto war es der medienwirksame Regierungsstreit in der Koalition, in dem sich Horst Seehofer nicht gegen die Kanzlerin durchsetzen konnte, der die AfD erstarken ließ. Im Sommer 2018 befanden wir uns daher fast exakt in der gleichen Situation wie im Herbst 2015. Jährlich grüßt das Murmeltier sozusagen. Auch ein wuchtiger Themenschwenk hin zu sozialpolitischen Themen ist nicht zu erkennen. Kein Wunder, dass die AfD jeden Monat neue Umfragerekorde erreicht.

Die gefährliche „Wir sind mehr“-Lesart

Dabei wäre die integrationspolitische Debatte eigentlich eine Steilvorlage für einen bürgerlichen Kompromiss. Ein Integrationsgesetz könnte starke konservative Akzente setzen, Bundesinnenminister Horst Seehofer (CSU) und auch der konservative Hoffnungsträger der CDU, Gesundheitsminister Jens Spahn, könnten es öffentlichkeitswirksam stützen. Wenn die Regierung beiden in einer medienwirksamen Debatte großen Raum gewähren würde, wäre viel gewonnen.

Entspannung bot der Dortmunder Parteitag der SPD 2017 eher selten

Nun mag man einwenden, dass die AfD und ihre Wähler ja nun wirklich nicht so wichtig seien, dass man nach ihnen die nationale Europa- und Migrationspolitik und deren politische Kommunikation ausrichten müsse. Die populäre These dazu lautet: „Wenn 20 Prozent Rechtsaußen wählen wollen, dann sollen sie halt! Deswegen lassen wir uns doch von unserem progressiven Kurs nicht abbringen. Wir sind mehr!“ Doch diese Lesart ist gefährlich, früher oder später gerät so die liberale Demokratie in Gefahr. Gerade progressive und liberale Wählerschichten sollten deshalb ein massives Interesse daran haben, dass konservative Wähler wieder zu den Volksparteien zurückkehren.

Denn der Einfluss von Rechtspopulisten geht weit über ihr Abschneiden bei Wahlen hinaus. Das liegt erstens daran, dass sie die Debatten und auch die Strategien der großen Parteien, vor allem der Christdemokraten beeinflussen. Etablierte konservative Parteien neigen dazu, aus kurzfristigen wahltaktischen Überlegungen heraus migrationspolitische Positionen von Rechtspopulisten zu übernehmen. Das führt in der Regel zu einer Migrationspolitik, die dem Land schadet, da es die wirtschaftlichen Bedürfnisse außer Acht lässt. Und außerdem zu einer Integrationspolitik, die das Land spaltet, weil die Maßnahmen für progressive Wählerschichten viel zu radikal sind. Eindrücklichstes Beispiel dafür sind hier die USA unter Trump.

Dramatische Folgen nicht ausgeschlossen

Rechtsaußen-Wahlerfolge lösen somit eine Art mentalen Bürgerkrieg aus, indem sie bewirken, dass der nationale Diskurs weg von ökonomischen Thematiken hin zu identitätspolitischen Fragen gelenkt wird. Diese Debatten verlaufen viel verletzender als sozio­ökonomische Konflikte, da sie an das Herz der Wähler rühren: ihre eigene Identität. Statt über die Frage, bist du für oder gegen Umverteilung, wird permanent debattiert, ob man für oder gegen die EU oder für oder gegen eine multikulturelle Gesellschaft ist. Jahrelange Debatten dieser Art vergiften das gesellschaftliche Klima und machen das wichtigste Werkzeug der Demokratie – den Konsens – beinahe unerreichbar. Auch hier lohnt ein Blick auf die USA, nach Großbritannien, nach Frankreich oder Italien.

Die Folge solcher Prozesse ist, dass die politischen Energien für sozialpolitische und wirtschaftliche Reformen fehlen, da sich die Politiker in Identitätskonflikten aufreiben. Die Stagnation der italienischen und französischen Volkswirtschaften muss hier als mahnendes Beispiel gelten. Am weitreichendsten und am gefährlichsten ist der Einfluss von Rechtspopulisten dann, wenn er die außenpolitischen Konstanten eines Landes radikal verschieben kann. Wenn nämlich etablierte Parteien aus Furcht davor, Wähler an Rechtspopulisten zu verlieren, nationale politische Alleingänge ankündigen. Das kann dramatische Folgen haben, im schlimmsten Fall sogar in Form einer kriegerischen Außenpolitik. Der Brexit wird hierfür als tragisches Beispiel in die Geschichte eingehen.

Den Konservativen wieder eine Heimat geben

Der Aufstieg der AfD kann dazu führen, dass sich Deutschland in zwei Bevölkerungsgruppen spaltet, die sich wie in Schützengräben unversöhnlich gegenüberstehen. Er kann dazu führen, dass eine Migrations- und Integrationspolitik gemacht wird, die dem Land fundamentalen Schaden zufügt; die eine wirtschafts- und sozialpolitische Stagnation zur Folge hat, die fast alle Deutschen deutlich ärmer macht – und die im schlimmsten Fall zu außenpolitischen Abenteuern führt, die wir alle bitter bezahlen werden.

Der Aufstieg der AfD bedroht somit all das, was Deutschland stark macht und braucht, um stark zu bleiben: die politische Konsensfähigkeit, eine langfristige Migrations- und Wirtschaftspolitik im nationalen Interesse und eine verantwortungsvolle Außenpolitik. Gerade Progressive und Liberale müssen daher alles daransetzen, dass konservative Wählerschichten wieder eine Heimat bei den Volksparteien finden. Die medienwirksamen Siege des progressiven Flügels der Union um Angela Merkel gegen ihre konservativen Widersacher in CDU und CSU sind somit Pyrrhussiege. Sie stärken die illiberale Partei Deutschlands – die AfD – und machen eine reaktionäre Politik, die dem nationalen Interesse diametral widerspricht, immer wahrscheinlicher.

Für Seehofer und Merkel ist es zu spät

Deutschland steht aktuell also dort, wo die USA vor 15 Jahren und Großbritannien vor zehn Jahren standen. Alle dramatischen politischen Entwicklungen, die sich in den beiden Ländern beobachten lassen, sind auch hierzulande möglich. Um dies zu verhindern, müssen die Spitzenpolitiker die richtigen Lehren aus den Fehlern der Volksparteien in den USA und Großbritannien ziehen. Ein medienwirksamer bürgerlicher Kompromiss mit konservativen Leuchtturmprojekten in identitätspolitischen Fragen ist dafür der zentrale Baustein. Es braucht die richtige Politik und vor allem die richtige politische Kommunikation derselben. Eines von beidem allein reicht nicht.

Für Horst Seehofer und Angela Merkel kommt dies zu spät. Die Spitzenpolitiker, die ihnen nachfolgen werden, haben nur noch wenige Jahre, um es besser zu machen. Es ist der letzte Trumpf, den die Volksparteien noch haben. Wenn dieser nicht sticht, wird sich die AfD bei Werten um die 20 Prozent oder gar darüber stabilisieren. Das Land wäre vor amerikanischen Verhältnissen nicht mehr gefeit. Die liberale Demokratie, die Rechtsstaatlichkeit, Minderheitenschutz und Gewaltenteilung garantiert, nähme massiven Schaden. An ihre Stelle könnte eine Tyrannei der Mehrheit treten. Ein deutscher Trump und ein Dexit würden dann in Reichweite rücken.

Bilder: Nikita Teryoshin

Dies ist die Titelgeschichte der November-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder in unserem Onlineshop erhalten.













 

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