Die Wahl von Thüringen - Kein Dammbruch, sondern Demokratie

Kemmerichs Wahl zum Ministerpräsidenten durch die AfD folgt eine Welle der Empörung. Während die Rufe nach Neuwahlen immer lauter werden, steht die Frage im Raum, ob das Ergebnis in Thüringen nicht schlicht die Dramaturgie der Demokratie spiegelt

Demonstranten vor der FDP-Zentrale in Berlin / dpa
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Autoreninfo

Alexander Kissler ist Redakteur im Berliner Büro der NZZ. Zuvor war er Ressortleiter Salon beim Magazin Cicero. Er verfasste zahlreiche Sachbücher, u.a. „Dummgeglotzt. Wie das Fernsehen uns verblödet“, „Keine Toleranz den Intoleranten. Warum der Westen seine Werte verteidigen muss“ und „Widerworte. Warum mit Phrasen Schluss sein muss“.

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Wer den gestrigen Mittwoch in der kasachischen Steppe oder einem brandenburgischen Funkloch verbrachte und sich erst heute über die Erfurter Geschehnisse des 5. Februar 2020 informiert, der muss folgenden Eindruck gewinnen: Die Demokratie wurde handstreichartig abgeschafft, Faschisten regieren, ein neues Drittes Reich bereitet sich vor. So stimmt es aber nicht. Hysterie ist nie ein guter Ratgeber, Panik auch nicht, historische Vergleiche können irren. Tatsächlich wurde gestern der Spitzenkandidat der FDP vom Erfurter Landtag zum neuen thüringischen Ministerpräsidenten gewählt. Ein unerhörtes Ereignis ist diese Wahl. Einen Grund, den demokratischen Notstand auszurufen, liefert sie nicht.

Die Schönheit der Demokratie

Schauen wir kurz auf die Vorgeschichte: Bei der letzten Landtagswahl im Oktober 2019 verlor die regierende Koalition aus Linkspartei, Grünen und SPD ihre Mehrheit. Regierungen können abgewählt werden: In diesem schlichten Satz steckt die ganze Schönheit der Demokratie. Alle Macht verleiht sie nur auf Dauer, und ihr Souverän ist nur das Volk. Darum heißt es ja auch Demokratie – und nicht Meritokratie, beispielsweise. Das Regierungsbündnis bemühte sich dennoch um eine Fortsetzung seiner Arbeit. Eine Minderheitsregierung sollte gestern installiert werden – und eine Minderheitsregierung muss der neue Ministerpräsident nun tatsächlich zusammenstellen.

Nur eben hört dieser auf den Namen Thomas Kemmerich und nicht Bodo Ramelow. Insofern gibt es, formal betrachtet, an der Wahl Kemmerichs ebenso wenig auszusetzen, wie man die Wiederwahl Ramelows hätte kritisieren können. Minderheitsregierungen widersprechen weder dem Geist noch dem Buchstaben des Gesetzes. Sie sind selten, aus guten Gründen. Eine Regierung, die sich wechselnde Mehrheiten suchen muss, kann strukturell nicht so stabil sein wie eine Regierung, die über eine satte Mehrheit im Parlament verfügt. Andererseits zeigt der Blick auf die Bundesregierung und die sie tragenden Parteien, dass man auch trotz formaler Mehrheiten durch schlechtes Regieren Rückhalt verspielen kann. In den letzten Umfragen kamen CDU, CSU und SPD auf zusammen rund 40 Prozent. Die Berliner Große Koalition ist ein Auslaufmodell.

Eine Frage der Souveränität

Dennoch war die Wahl Kemmerichs ein unerhörtes Ereignis. Seine Partei schaffte den Wiedereinzug in den Landtag mit Ach und Krach, landete am Ende mit 73 Stimmen über der 5-Prozent-Hürde. Dass die mit Abstand kleinste Partei den Regierungschef stellt, ist wahrlich ungewöhnlich. Zudem kandidierte Kemmerich erst im dritten Wahlgang, der nötig geworden war, weil Ramelow in den beiden ersten Wahlgängen nicht die nötige Stimmenzahl erreichte. Dass Kemmerich sich in die demokratische Pflicht nehmen ließ, sollte ihm kein Demokrat vorwerfen. Eher stellt sich die Frage, warum die CDU nicht souverän genug war, um mit einem eigenen Kandidaten eine Alternative zum linken Ramelow und zum rechten AfD-Kandidaten zu bieten. So sprang Kemmerich in die Bresche – und bezieht nun weit mehr Prügel, als er verdient.

Was nämlich war geschehen? Die eine Stimme Mehrheit, die der FDP-Mann schließlich erhielt, verdankt sich höchstwahrscheinlich einem geschlossenen Wahlverhalten von FDP, CDU und AfD. Die AfD, zweitstärkste Fraktion im Erfurter Landtag, gab im dritten Wahlkampf dem eigenen Kandidaten keine und Kemmerich alle Stimmen. So düpiert man den politischen Gegner – und der heißt aus Sicht der AfD Ramelow und Rot-Rot-Grün. Die AfD lobt sich nun selbst für ihre „Strategie“ und ihre „Winkelzüge“. Ein mehr als nur fader Beigeschmack aber bleibt: Die AfD hat den Sinn der geheimen Wahl bis an die Grenzen des Statthaften gedehnt.

Dammbruch oder Demokratie?

Sie wählte mit Kemmerich einen Mann, der als überzeugter Ordoliberaler und Streiter wider die AfD ihrem eigenen Programm denkbar weit entfernt steht. Nun sind alle Wetter los. Der wackere FDP-Mann habe sich von „Faschisten“ wählen lassen. Die „Schande von Erfurt“ müsse getilgt werden. Dass sich in der thüringischen AfD auch sinistre, auch extreme, auch radikale Rechte versammeln, bestreitet niemand. Wäre Höcke zum Ministerpräsidenten gekürt worden: das wäre ein Dammbruch gewesen. So aber führte ein demokratisches Verfahren zu einem zwar grenzwertigen, aber legitimen Ergebnis mit unabsehbarem Ausgang.

Dass Rot-Rot-Grün die Mehrheit bei der letzten Wahl verloren hat, findet jetzt auch in einem neuen Ministerpräsidenten seinen Ausdruck. Das ist normaler demokratischer Brauch. Dass CDU und FDP einem linken Kandidaten ihre Zustimmung verweigern, hätte bis vor wenigen Jahren noch als Normalität gegolten. Erst in jüngster Zeit kippte das Pendel in jene weltanschauliche Richtung, die eine Duldung der Linkspartei als das kleinere Übel erscheinen lässt.

Die allzu schrille Empörung ist kein gutes Zeichen und sendet fatale Signale: Wenn die Bundeskanzlerin nun fordert, „dass das Ergebnis wieder rückgängig gemacht werden muss“, klingt das fatal nach Kommandopolitik. In Demokratien sind demokratische Wahlen nicht „rückgängig“ zu machen, auch nicht solche im dritten Wahlgang. Wenn die CDU-Vorsitzende Kramp-Karrenbauer bedauert, die Abgeordneten der thüringischen CDU seien „sozusagen ihrer eigenen Entscheidung gefolgt“, geht sie von einem über Landesgrenzen hinweg geltenden imperativen Mandat aus, das es nicht gibt. Und wenn Bodo Ramelow zum gröbsten rhetorischen Hammer greift und die Wahl eines FDP-Politikers mit einem Hitler-Zitat kommentiert, zeigt er sich als schlechter Verlierer. Man sollte als Demokrat die Contenance nicht verlieren und der Demokratie vertrauen.

Wie geht es weiter?

Thomas Kemmerich geht nun einen schweren Gang. Es wäre ein Wunder, wenn er ein Kabinett der Experten zusammenbekäme, eine konservativ-liberale „Projekte-Regierung“. Und ein noch größeres Wunder wäre es, wenn er mit einer solchen Regierung die angekündigte Totalverweigerung von SPD, Grünen und Linkspartei aufbrechen könnte. Nach Lage der Dinge wird er den Makel, ein Ministerpräsident von Höckes Gnaden zu sein, nicht ablegen können. Das ist eigentlich schade: Es wäre das spannendste Experiment seit der Wiedervereinigung, wenn ein auch mit Stimmen der AfD gewählter Ministerpräsident seine gestrige Ankündigung wahrmachte, eine „Anti-AfD“-Politik betriebe und dafür keinerlei Unterstützung bekäme von SPD, Grünen, Linkspartei. Neuwahlen werden den gordischen Knoten nicht durchtrennen.

Oder soll die CDU in diese mit der Ankündigung ziehen, sie setze sich für die Wiederwahl Bodo Ramelows ein? Honig saugen aus dem Durcheinander werden die Parteien der Ränder, AfD und Linkspartei. Das wiederum haben sich auch die Parteien der Mitte zuzuschreiben. Ein „unerhörtes Ereignis“ bildet übrigens den Kern einer jeden Novelle, dieser prägnanten erzählerischen Kurzform. Vermutlich taugt auch die Geschichte eines Ministerpräsidenten Kemmerich nur zur Novelle.

Nachtrag: Thomas Kemmerichs Amtszeit taugt nicht einmal zur Novelle. Der Ministerpräsident kündigte einen Tag nach seiner Wahl den Rücktritt an. Das darf man dann wohl einen Witz nennen. Doch zum Lachen ist niemandem zumute. 

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