Kita-Krise in Berlin - „Kita bedeutet für viele: hinbringen, bespielen und aufbewahren lassen“

In Deutschland verzweifeln viele Eltern daran, einen Kitaplatz für ihre Kinder zu finden. Martina Junius, Kita-Leiterin in Berlin, über die Ursachen des Platzmangels

In der Kita werden Kinder nicht nur bespielt, sondern auch gezielt gefördert / picture alliance
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Christine Zinner studierte Sozialwissenschaften und Literaturwissenschaft und ist freie Journalistin.

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Martina Junius leitet die Berliner „Kita Kleine Weltentdecker“, die Platz für 190 Kinder im Alter von acht Wochen bis sechs Jahren bietet.

Frau Junius, seit August 2013 sind Kommunen gesetzlich dazu verpflichtet, für Kinder nach dem ersten Geburtstag eine Betreuung in einer Kita oder bei einer Tagesmutter zu ermöglichen. Wurde das in Berlin zur Realität?
Wie die gesamte Berliner Realität aussieht, weiß ich nicht genau. Aber ich bekomme in meinem Umfeld und von unserem Träger mit, dass es nicht möglich ist, alle Eltern, die bei uns einen Antrag stellen, mit einem Platz zu versorgen, weil einfach zu viele Eltern Bedarfe angemeldet haben und die Plätze dafür nicht vorhanden sind.

Wie kommt es, dass keine Plätze vorhanden sind?
Es wurden ja viele Kitas vor längerer Zeit geschlossen und abgerissen, und jetzt ist der Bedarf da. Dadurch, dass die Geburtenrate gestiegen und auch der Zuzug nach Berlin immens geworden ist, gibt es zwischen dem Bedarf und dem, was da ist, kein Gleichgewicht mehr.

Von anderen Kitas war zu lesen, dass der Berliner Senat für Bildung, Jugend und Familie ihnen Geld für die Schaffung von mehr Plätzen anbot. Hat er das bei Ihnen auch versucht?
2012 wurden wir befragt, ob wir bereit wären noch zusätzliche Krippenplätze zu schaffen. Da haben wir uns dazu bereit erklärt und haben das Haus noch mal ein Stückchen umgebaut, also auf Krippenkinder ausgerichtet. Da haben wir dann doch eine Summe an Geld bekommen für den Umbau. Ja, das machen sie.

Wie viele Absagen müssen Sie an Eltern im Monat ungefähr verteilen?
Das ist ganz unterschiedlich. Wir haben eine Vormerkliste, wo die Eltern sich bei uns anmelden können, wann sie Bedarf haben, ihr Kind in die Kita zu bringen. Und aus diesen Listen suchen wir dann die Kinder aus, die betreut werden können, und wir müssen sehr viele Absagen erteilen. Wir sind ein großes Haus mit 190 Kindern und nehmen im Schnitt etwa 45 neue Kinder pro Schuljahr auf. Das ist relativ viel.

Wie ist es denn bei anderen Kitas?
Die nehmen oftmals nur 10 oder 15 Kinder neu auf und demzufolge hat man bei uns natürlich noch eine größere Chance, einen Platz zu bekommen. Andere Kitas wissen schon durch die Vormerkliste, die sie führen, wann sie keine mehr annehmen können.

Wie lange vorher sollten sich Eltern anmelden, um sicher einen Platz zu bekommen?
Momentan am Anfang der Schwangerschaft. Wir haben jetzt ganz viele Eltern, die sich während der Schwangerschaft anmelden und uns danach mitteilen, wann ihre Kinder wirklich geboren sind. Wir schauen auch, wann die Eltern sich angemeldet haben. Haben sie sich auch noch mal gemeldet, ihr Interesse seither bekundet? Und ist es ein Junge, ist es ein Mädchen? Man muss ja auch schauen, wie man die Gruppen zusammenstellt. Ich kann nicht 15 Jungs in einer Gruppe haben. Und das alles spielt eine Rolle, wenn man einen Platz vergibt.

Was ist, wenn die Eltern sich erst später anmelden?
Wenn die Eltern erst kommen, wenn das Kind schon ein halbes Jahr alt ist, haben sie geringe Chancen einen Platz zu bekommen, weil andere Eltern sich schon mit der Schwangerschaft angemeldet haben. Man muss sich bei der Platzvergabe eben an irgendwelchen Fakten orientieren können.

Haben Sie auch schon Eltern erlebt, die bei der Suche geradezu verzweifelt sind?
Ja, ich hatte sehr verzweifelte Eltern, die, als sie auf der Suche waren, ihren Arbeitsplatz auch verloren haben. Oder Eltern, die ihn verloren hätten, wenn sie bei uns nicht noch kurzfristig – dank der Absage anderer Eltern – einen Platz bekommen hätten. Oder Eltern, die ihre Ausbildung nicht hätten weiter machen können. Es gab welche, die hierher gezogen sind, ein Haus gebaut haben und davon ausgegangen sind, dass es hier Plätze gibt. Da bestand dann auch die Gefahr, dass sie ihre Raten fürs Haus nicht mehr zahlen können, weil die Mutter noch nicht arbeiten gehen konnte.

Gibt es dann auch irgendwelche Verzweiflungstaten von Eltern, um Sie doch noch zu überzeugen, ihnen einen Platz zu geben?
Es gibt welche, die wollen dann Geld zahlen oder sich hier besonders engagieren, damit sie den Platz bekommen. Aus der Verzweiflung heraus versuchen Eltern alles, um sich einen Platz zu erkämpfen.

Und bringt das was?
Bei uns in der Kita nutzt es nichts, wenn Eltern uns zusätzliche Spenden anbieten oder spätere Hilfen zusagen. Ich bleibe da ganz klar bei meiner Haltung. Es gibt bei uns keine Sonderbehandlungen. Das wäre unfair.

Vor einem Jahr sind in Berlin Tausende auf die Straßen gegangen, um gegen den bundesweiten Kitaplatzmangel zu demonstrieren. Hat sich seitdem merklich etwas verbessert?
Es wurden neue Kitas gebaut, aber es nutzt ja nichts nur neue Kitas zu bauen, wenn ich das Personal nicht habe. Ich war bei einem anderen Träger zu Besuch. Die konnten zwei ganze Gruppen nicht belegen, weil sie einfach kein Personal finden und das schon über ein Jahr hinweg. Und ich konnte bis jetzt auch keine neuen Kita-Verträge für das kommende Schuljahr machen, weil einfach die Erzieher nicht da waren. Wenn ich keine Erzieher habe, kann ich keine Verträge machen, weil ich sonst den Betreuungsschlüssel nicht einhalte. Demzufolge ist es für die Kitas sehr schwer, vorausschauend zu arbeiten, weil alles davon abhängt wie viele Erzieher sich auf freie Stellen melden.

Wie wirkt sich das konkret auf die Kita-Planung aus?
Generell hängt alles vom vorhandenen und noch einzustellendem Erzieherpersonal ab. Das ist für Eltern wie auch für die Kita nervenaufreibend. Die emotionale Belastung ist hoch. Ich könnte mit 30 Eltern, deren Kinder ich bei der Platzvergabe berücksichtigen konnte, einen Vertrag abschließen. Das ist momentan noch nicht möglich, da noch Erzieherstellen offen sind. Das bedeutet, wenn ich kein Personal bis zum August einstellen kann, bleiben die Plätze frei. Das wäre sehr schlimm, denn viele Eltern könnten dann ihre Arbeit nicht wieder aufnehmen. Zum Glück haben sich Erzieher bei uns beworben, weil sie unser Haus und den Träger gut finden und demzufolge können wir unser Haus jetzt wieder voll belegen. Aber in vielen Kitas besteht die Gefahr darin, dass man sie - obwohl man die Plätze hat - nicht füllen kann, weil man einfach kein Personal hat.

Worauf ist dieser Mangel an Erziehern zurückzuführen?
Ich glaube, das sind verschiedene Faktoren, die da reinspielen. Man hätte längerfristig planen müssen. Wir als Fachleute aus der Praxis haben schon vor Jahren gesagt: Mit einem bestimmten Jahrgang, der kommen wird, werden viele Fachkräfte in Rente gehen. Gerade in dem Ostteil der Stadt. Man hätte gut berechnen können, wann das passiert. Man hat ja die Statistiken. Zum anderen hat man nicht dafür gesorgt, dass genügend Leute ausgebildet werden. Es gab wahrscheinlich zu wenig Plätze auch in den Schulen.

Liegt es nicht auch an der schlechten Bezahlung?
Ja, es liegt auch am Gehalt des Erziehers, dass viele Leute diesen Beruf nicht ergreifen wollen. Das was man leisten muss und die lange Ausbildung, die man machen muss, stehen in keinem Verhältnis zu dem Gehalt, das man für seine Arbeit bekommt. Noch dazu ist es so, dass in Berlin schlechter bezahlt wird als in Brandenburg, so dass die Leute abwandern. Gerade die jungen Leute, die am Rande von Berlin wohnen, nehmen den Fahrweg in Kauf, wandern nach Brandenburg ab und arbeiten dort.

Was müsste man tun, um den Erzieherberuf attraktiver zu machen?
Die Kitas neu zu bauen, das ist das eine. Das bedarf es auch auf jeden Fall, aber der Beruf muss attraktiver werden. Wenn man das, was ein Erzieher verdient, mal vergleicht mit dem Verdienst eines Grundschullehrers, der ähnliche Arbeit wie wir mit den Vorschulkindern leistet, besteht da zwischen den Gehältern eine riesige Differenz.

Es geht also vor allem um das Geld?
Es geht nicht nur um die finanzielle Anerkennung des Erzieherberufes. Es geht um die gesellschaftliche Anerkennung. Die Kita ist nicht nur Aufbewahrungsort für Kinder, sondern sollte ein liebevoller Betreuungsort sein, an dem Kinder auch gebildet werden. Von Anfang an. Und das wird oftmals verkannt. Kita bedeutet für viele Leute nur: Hinbringen der Kinder, bespielen und aufbewahren lassen.

Und das ist nicht der Fall?
In der Kita werden die Kinder auf die Schule, auf das zukünftige Leben vorbereitet. Deswegen muss der Stellenwert der Kita in der Gesellschaft ein ganz anderer sein. Die Bezahlung ist das eine. Aber die Anerkennung für die Leistung, die da gebracht wird, ist das Wesentliche.

 

„Wie es im wirklichen Leben aussieht, davon habt Ihr doch keine Ahnung“ – diesen Vorwurf hören Politiker immer wieder, aber auch Journalisten. Gerade wenn sie – wie wir in der Cicero-Redaktion – in der Hauptstadt Berlin leben und arbeiten, wirkt das auf viele offenbar so, als seien wir auf einem fernen Planeten unterwegs. Es wird kritisiert, dass wir zwar gern über Menschen sprechen und schreiben, aber kaum mit ihnen reden würden. Der Vorwurf trifft uns hart, und wir nehmen ihn sehr ernst.

Deswegen haben wir auf Cicero Online eine Serie begonnen, in der wir genau das tun: Mit Menschen sprechen, die nicht in der Öffentlichkeit stehen, aber mitten im Leben, und dort täglich mit den Folgen dessen zurechtkommen müssen, was in der fernen Politik entschieden wird.

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