Kinderrechte in der Verfassung - Triumph der Banalität

Union und SPD haben sich auf die Verankerung der Kinderrechte im Grundgesetz geeinigt. Was nett klingt, entpuppt sich als juristischer Unsinn und offenbart einen negativen Trend im Verfassungsdenken.

Kinder hatten schon immer die gleichen Grundrechte / dpa
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Otto Depenheuer ist Professor für Öffentliches Recht, Allgemeine Staatslehre und Rechtsphilosphie an der Rechtswissenschaftlichen Fakultät der Universität von Köln. 

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Ein verfassungspolitischer Erfolg ist zu vermelden: Nach jahrelangen Verhandlungen haben sich Union und SPD darauf verständigt, zum ersten Mal die Rechte von Kindern ausdrücklich im Grundgesetz zu verankern. Doch wenn es hier einen Triumph zu vermelden gilt, dann nur ein solcher der guten Gesinnung, die den damit verbundenen weiteren Niedergang des Verfassungsdenkens kaum verbergen kann. Denn die neuen Verfassungsnormen enthalten nichts als juristisch leerlaufende Plattitüden und Trivialitäten.

Angesiedelt in Art. 6 Abs. 2 GG; nach dessen 2. Satz soll es in Zukunft heißen: „Die verfassungsmäßigen Rechte der Kinder einschließlich ihres Rechts auf Entwicklung zu eigenverantwortlichen Persönlichkeiten sind zu achten und zu schützen. Das Wohl des Kindes ist angemessen zu berücksichtigen. Der verfassungsrechtliche Anspruch von Kindern auf rechtliches Gehör ist zu wahren. Die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt.“ Doch diese vier Sätze beinhalten – jeder für sich wie im Zusammenhang – nur Trivialitäten ohne jede juristische Wirkung.

Alles überflüssig

So begründet der erste Satz keine „neuen“ Verfassungsrechte der Kinder, sondern setzt sie voraus. Tatsächlich standen Kindern schon immer alle Grundrechte des Grundgesetzes zu. Das ist bislang auch noch von niemandem bestritten worden. Und solche verfassungsrechtlichen Verbürgungen haben auch juristische Wirkungen: Sie sollen vom Staat geachtet und geschützt werden. Natürlich kann der verfassungsändernde Gesetzgeber staatsrechtliche Lehrbuchweisheiten noch einmal ausdrücklich wiederholen. Aber das ändert nichts daran, dass der ganze Satz sachlich so überflüssig ist wie ein Kropf.

Nach dem zweiten Satz der Neuregelung soll das Wohl der Kinder angemessen berücksichtigt werden. Hier stellt sich sofort die Frage nach der Regelungsnotwendigkeit: Haben Staat und Gesellschaft das bisher nicht getan? Gab es je in Deutschland, Europa und der Welt Plädoyers dafür, das Wohl der Kinder nicht zu berücksichtigen. Ist das „Wohl der Kinder“ nicht Gegenstand von „Pflege und Erziehung“, die nach Art. 6 Abs. 2 S. 1 GG zuvörderst den Eltern anvertraut ist?

Die Sorge für die Kinder liegt bei den Eltern  

Natürlich kann man fragen, was das Wohl der Kinder erheischt. Aber genau dazu schweigt die neue Verfassungsnorm – und zwar zu Recht: Denn die Sorge um das Wohl der Kinder liegt in erster Linie bei den Eltern, hilfsweise in Gestalt der Jugendämter beim Staat, wie es Art. 6 Abs. 2 GG ausdrücklich formuliert. Auch der zweite Satz der Neuregelung kann daher nicht anders als Trivialität auf Verfassungsebene qualifiziert werden.

Gleiches gilt auch für den dritten Satz. Kindern muss schon heute von Verfassungswegen rechtliches Gehör gewährt werden. Die Frage ist allein, über welche Einsichtsfähigkeit der Minderjährige verfügen muss, um zu dem jeweils anstehenden Problem rechtlich „gehört“ werden zu können. Da diese Frage durch Gesetz und Rechtsprechung weithin geklärt sind, gilt auch hier die Feststellung, dass der Satz kein Problem löst, keine Frage beantwortet und daher einmal mehr überflüssig ist. Da will dann auch der 6. und letzte Satz der Neuregelung – „die Erstverantwortung der Eltern bleibt unberührt“ – nicht an Überflüssigkeit zurückstehen. Er wiederholt mit anderen Worten nur den 1. Satz des Art. 6 II GG.

Eigentlich gilt juristische Bescheidenheit

Eine derart auf ganzer Linie vermurkste verfassungsrechtliche Neuregelung einen Erfolg zu nennen, verbietet sich von allein. Eines allerdings zeigt diese geplante Neuregelung mit aller Klarheit: der Niedergang des Verfassungsdenkens. Statt juristisches und deshalb einlösbares Recht wird das Grundgesetz zu einem Sammelsurium von politischen Wünschen und koalitionären Absprachen instrumentalisiert.

Indem die Verfassung immer mehr als Symbol behandelt wird, in dem sich alle wiedererkennen sollen können, verliert sie juristischen Selbststand. Tatsächlich soll die Verfassung nur die „rechtliche Grundordnung des Gemeinwesens“ sein, also nur die grundsätzliche Gestalt des staatlichen Gemeinwesens normieren, die fundamentalen Rechtswerte wie Freiheit und Gleichheit, der Staatsaufbau, die Gewaltenteilung usw. festlegen. Mit dieser juristischen Bescheidenheit hat das Grundgesetz seine Popularität errungen, weil man sich auf diese Verfassung wirklich verlassen und sie juristisch beim Wort nehmen konnte.

Mittlerweile „Wünsch-Dir-was-Spielwiese“

Insbesondere nach der Wiedervereinigung ist jedoch ein Trend zu beobachten, der die Verfassung zunehmend zur Projektionsfläche wie zum Spiegelbild der jeweiligen Befindlichkeiten, Wünsche und Hoffnungen werden läßt: „Wer hat noch nicht, wer will nochmal“. So wird jede Verfassungsänderung zur „Wünsch-Dir-was-Spielwiese“ von Erwachsenen, die sich der juristischen Anstrengungen der Etappe ersparen und nur noch Zielprojektionen zu skizzieren in der Lage sind.

Doch das hat seinen Preis: indem die Verfassung ihre juristische Vorhersehbarkeit und Berechenbarkeit verliert, könnten sich der Verfassungsgerichtsbarkeit neue Gestaltungsoptionen eröffnen und sich damit eine weitere Verschiebung der Gewaltenteilung abzeichnen.

Fazit: Wenn der Staat für die Kinder etwas Sinnvolles tun möchte, sollte er Schulen renovieren, sie digital modernisieren und vieles andere mehr verbessern, aber sie sollten bitte die Verfassung in Ruhe lassen. Einmal mehr ist man geneigt, den alten Apo-Spruch in Erinnerung zu rufen: „Hände weg vom Grundgesetz“.

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