Janine Wissler - Rebellin ohne Berührungsängste

Auf dem heute beginnenden Parteitag will Janine Wissler neue Parteivorsitzende der Linken werden und die Genossen in eine rot-rot-grüne Koalition führen. Sich selbst verortet sie öffentlich auf dem linken Flügel. Tatsächlich ist sie aber längst auf der anderen Seite.

Als Antikapitalistin bislang Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses: Janine Wissler von der Linkspartei / dpa
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Die Wiesbadener Gesellschaft der Freunde des Staatstheaters ist alles andere als eine Gruppe von Revolutionären. Aber Janine Wissler, die Vorsitzende der Linken im Hessischen Landtag, genießt dort einen guten Ruf. In einer Diskussion über Sophokles’ „Antigone“ glänzte die 39-Jährige vor zwei Jahren mit fundierten Kenntnissen. Als Schülerin habe sie in der Theater-AG mitgemacht, berichtete sie. Einmal als Antigone auf der Bühne zu stehen – das war der Traum des Mädchens, das mit ihren aus dem linken Milieu stammenden Eltern schon als Achtjährige in der KZ-Gedenkstätte Dachau war und mit 14 gegen französische Atomtests demonstrierte.

Die Frankfurterin, die Bundesvorsitzende der Linken werden will, ist fasziniert von der starken antiken Frauenfigur, die sich den staatlichen Autoritäten todesmutig widersetzt. Doch im Wiesbadener Regierungsviertel leben Rebellen viel komfortabler als in griechischen Tragödien. „Wir beugen die Nacken und schleppen euch Opfer“, schleudert Antigone den Herrschenden entgegen. Wissler kann in ihrem Lebenslauf nur eine dreijährige Tätigkeit als Verkäuferin in einem Baumarkt aufführen. Danach entspannte sich das Leben der Politologin. 

Konfrontation mit dem Landesgroßvater

Im Landtag ficht sie mit herausragendem rhetorischen Geschick. Aber die Konfrontation hat enge Grenzen. Den 68-jährigen Ministerpräsidenten Volker Bouffier (CDU) tituliert die Chefin der Linken wegen seiner präsidialen Atti­tüde gern als „Landesgroßvater“. Der lächelt darüber. Als Wisslers Geburtstag einmal in eine Sitzungswoche fiel, erhob Bouffier sich von der Regierungsbank, um der Abgeordneten an ihrem Platz im Plenarsaal persönlich zu gratulieren.

Wissler hat keine Berührungsängste. Als sie sich 2018 um das Amt des Frankfurter Oberbürgermeisters bewarb, kokettierte sie damit, dass ein Streitgespräch mit Unternehmerinnen in fröhlicher Runde beim Wein endete. Der außerparlamentarische Kampf kann auch ganz nett sein. Und doch käme niemand auf die Idee, die Marathonläuferin, die gern in den Alpen wandert, als Salonlöwin zu bezeichnen. Wenn ihr politische Gegner Komplimente machen, reagiert sie schmallippig: „Danke für die Blumen.“

Das Erbe von Marx21

Wissler hielt es immer für eine Illusion, „dass wir die Gesellschaft aus den Angeln heben können über Anträge und Reden im Parlament“. Aber genau darin besteht ihre Hauptarbeit. Als zu Beginn der Wahlperiode die Geschäftsordnung des Landtags und ein Zufall zusammenwirkten, griff die Abgeordnete nach einem Posten, den man sich im finanzstarken Hessen eigentlich in der Hand eines Experten wünschen würde. Seitdem ist ausgerechnet die Antikapitalistin Vorsitzende des Wirtschaftsausschusses. 

Aber sie kann in dieser Position weder den Finanzplatz Frankfurt noch den Flughafen zum Einsturz bringen. Sie muss Sitzungen moderieren. Sie ist ein konstruktiver Teil des parlamentarischen Systems, das sie doch eigentlich bekämpfen wollte. So steht es jedenfalls in den Leitsätzen des innerparteilichen Netzwerks Marx 21, dem Wissler sich in jungen Jahren anschloss. Die Linke könne „das Kapital schlagen, wenn Massenbewegungen bereit und in der Lage sind, die herrschende Klasse zu enteignen und den bestehenden undemokratischen Staatsapparat durch Organe der direkten Demokratie zu ersetzen“, heißt es dort. 

Doch solche Zitate, die sie nie relativiert hat, muss Wissler sich nicht länger vorhalten lassen. Weil sie künftig die ganze Partei vertreten will, ist sie nun aus dem Netzwerk Marx 21 ausgetreten. Den angestrebten Umsturz kleidet sie jetzt in die relativ moderate Forderung nach einer „grundlegenden Veränderung der Macht- und Eigentumsstrukturen“.

Regierung als Option

Wissler bringt alle Voraussetzungen mit, um auch auf der nationalen Ebene zu bestehen. Dabei ist es keineswegs so, dass sie jetzt aus taktischem Kalkül Extrempositionen räumen würde, von denen sie eigentlich überzeugt ist. Tatsächlich hat sie es mit der Programmatik ihrer ultralinken Parteifreunde schon in der Vergangenheit nicht so genau genommen. Die Beteiligung an einer Regierung sah sie immer schon als ernsthafte Option.

In Hessen verhandelte sie zweimal über Bündnisse. 2009 scheiterte die Duldung einer rot-grünen Koalition durch die Linke an der SPD. 2013 sondierte Wissler als Fraktionschefin die Chancen zur Bildung einer Dreierkoalition. Am Ende liefen die Grünen zur CDU über. 

Ihre Bereitschaft, in eine Regierung einzutreten, bekundet Wissler nun auch im Hinblick auf den Bund. Sie verortet sich theoretisch weiter auf dem linken Flügel ihrer Partei, aber im politischen Leben ist sie auch auf der entgegengesetzten Seite unterwegs. Sophokles rät in solchen Fällen zur Geduld: „Unmöglich kann man eines Menschen Herz, sein Denken und sein Wollen ganz erkennen, ehe er in Staat und Ämtern sich erprobt.“

Dieser Text stammt aus der Oktober-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

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