Streitgespräch über Islamismus - „Die Linke unterstützt den politischen Islam“

Nach Dresden, Paris, Nizza und Wien wird offen gestritten: Was hat der Terror mit dem Islam zu tun? Der Psychologe Ahmad Mansour und die Politiker Martin Hikel (SPD) und Barbara John (CDU) geben unterschiedliche Antworten.

Streitgespräch im Rathaus Neukölln: Mansour, John, Hikel / Marcel Schwickerath
Anzeige

Autoreninfo

Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

So erreichen Sie Christoph Schwennicke:

Anzeige

Autoreninfo

Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

So erreichen Sie Moritz Gathmann:

Anzeige

Barbara John (CDU) war von 1981 bis 2003 Ausländerbeauftragte von Berlin. Heute ist sie Vorstandsvorsitzende des Paritätischen Wohlfahrtsverbands Berlin.

Martin Hikel (SPD) ist seit 2018 Bezirksbürgermeister von Berlin-Neukölln. Er folgte damals auf die heutige Familienministerin Franziska Giffey.

Ahmad Mansour wurde in Israel geboren und lebt seit 2004 in Deutschland. Er beschäftigt sich in verschiedenen Projekten mit Radikalisierung und Antisemitismus unter Muslimen.

Herr Hikel, Tage nach dem Attentat von Paris, am Abend des Attentats von Nizza, rufen in Berlin-Neukölln Hunderte junge Männer „Allahu Akbar“, um gegen Frankreich und Macron zu demonstrieren. Wenige Tage später führt ein syrischstämmiger Youtuber einen Mann mit Macron-Maske durch die Straßen Ihres Bezirks, schlägt ihn mit einem Gürtel, am Ende verbrennt er die Maske. Was geht Ihnen da durch den Kopf?

Martin Hikel: Das hat mich fassungslos gemacht. Dass diese Menschen in Neukölln Macron verächtlich machen – der sagt: Meinungsfreiheit ist in unserer westlichen Demokratie ein hohes Gut und gehört verteidigt –, ist nicht hinnehmbar.

Es macht Sie fassungslos, es ist nicht hinnehmbar. Solche Äußerungen hört man seit Jahren. Aber was tun Sie dagegen?

Hikel: Kurzfristig kann man dagegen wenig tun. Es geht da um antiwestliche Einstellungen, die sich bei den jungen Menschen einpflanzen. Diesem Phänomen versuchen wir in den Schulen entgegenzuwirken.

Barbara John: Ich hätte schnell reagiert und gesagt: Ich lade die Leute, die demonstriert haben, zum Austausch ein. Immerhin wäre es dann zu einer Auseinandersetzung gekommen. Dass es einfach so im Sande verlaufen ist, ist nicht gut.

Ahmad Mansour: Sollten wir diejenigen, die unsere Meinungsfreiheit ablehnen, durch ein Treffen mit dem Bürgermeister belohnen?

John: Selbstverständlich. Das ist der Mann, der eine Autorität ist und eine Gegenposition einnimmt. Das ist viel besser als Stillschweigen und Klagen.

%paywall%

Hikel: Ich glaube nicht, dass es ein Umdenken bewirkt, wenn ich diese Leute einlade und sie damit in ihrer Haltung bestärke. Man muss eher mit den Multiplikatoren sprechen, um da etwas zu bewirken.

Ahmad Mansour / Marcel Schwickerath

Mansour: Wir sollten über Meinungsfreiheit sprechen, bevor es zu solchen Ereignissen kommt, in jeder Schule, in jedem Integrationskurs. Aber diejenigen, die auf offener Straße einen Mord relativieren, die demonstrativ Meinungsfreiheit ablehnen, denen müssen wir repressiv begegnen. Bei Bestrebungen gegen die freiheitlichen Prinzipien sind die Verfassungsschützer gefragt. Wenn ein Youtuber, der vor vier Jahren als Flüchtling aus Syrien gekommen ist, nun öffentlich eine Macron- Maske verbrennt, dann kommt auch eine Aufenthaltsbegrenzung infrage.

Aber Abschiebungen sind nur möglich, wenn jemand eine schwere Straftat begeht.

Mansour: Das ist eine schwere Straftat. Diesem Youtuber folgen eine Million Menschen. Er nutzt seine Vorbildfunktion auf eine negative Art und Weise. Er muss Konsequenzen spüren. Ich habe mit ihm gesprochen, und ich kann sagen: Er ist emotional in Deutschland nicht angekommen, er lebt hier und versucht seine voraufklärerischen Werte aggressiv durchzusetzen. Aber dieser Youtuber ist nur die Spitze des Eisbergs. Es geht um eine breite Zahl von Menschen, die bei uns leben wollen und das Prinzip der Meinungsfreiheit, gerade wenn es um Religion geht, nicht akzeptieren wollen.

John: Wir sprechen von 250.000 Menschen in dieser Stadt, die Kulturmuslime oder gläubige Muslime sind. Und denen allen unterstellen Sie, dass sie das gut finden?

Mansour: Ich habe gesagt, dass viele Muslime die Meinungsfreiheit, wenn es um Religionskritik geht, ablehnen.

John: Das wissen Sie doch gar nicht.

Mansour: Kennen Sie die Realität? Machen Sie doch hier draußen mal eine Umfrage. Ich darf ja nicht, weil ich seit fünf Jahren deshalb unter Personenschutz stehe.

Vielleicht würden wir über diesen Youtuber gar nicht reden, wenn es in den Moscheen eine klare Positionierung zu den Attentaten gegeben hätte?

John: Wir brauchen das strittige Gespräch – gerade mit den Leuten, die gegen Macron demonstrieren. Sie im selbst gewählten Milieu schmoren zu lassen, ist falsch. Und der Dialog muss dokumentiert werden. Gleichzeitig müssen wir mit aller Kraft den Terrorismus bekämpfen. Aber dazu brauchen wir die Muslime, die hier leben.

Mansour: Frau John, wir führen jetzt seit 15 Jahren den Dialog mit den Verbänden auf der Islamkonferenz. Hat das etwas gebracht? Wenn Sie auf diese Fragen religiös antworten wollen, müssen Sie mit den Imamen sprechen. Aber es ist ein großer Fehler, mit den Muslimen nur durch die Moscheen zu sprechen. Die Muslime sind Teil dieser Gesellschaft. Man braucht nicht nur die religiöse Ansprache. Der Ansatz, muslimische Funktionäre mit einzubeziehen, um Probleme mit denen zu lösen, die vielleicht viel radikaler sind, hat nicht funktioniert. Nicht in Deutschland, nicht in Frankreich, und auch nicht in Großbritannien. Präventionsarbeit muss in den Schulen stattfinden, in den Integrationskursen, im direkten Austausch – ohne denjenigen Legitimation zu geben, die die Probleme eher verursachen.

John: Sie sagen ja selbst, dass das die Leute sind, die die Probleme verursachen. Dann sind sie doch auch die entscheidenden Leute, mit denen Politik und Gesellschaft sich auseinandersetzen müssen.

Mansour: Der Denkfehler besteht darin, dass wir Muslime nur anhand ihrer religiösen Identität ansprechen. Wir wollen immer Gruppen integrieren, aber nie Individuen.

Barbara John / Marcel Schwickerath

John: Diese Kritik ist mir zu allgemein. Als die Islamkonferenz begann, da war es nicht üblich, dass muslimische Institutionen reagieren, wenn es zu einem islamistisch motivierten Anschlag kam. Das hat sich geändert: Nach den jüngsten Anschlägen gab es Erklärungen von hunderten Menschen und Organisationen mit muslimischem Hintergrund, wie grauenhaft sie das finden, und dass das mit ihrer Religion nichts zu tun hat.

Herr Hikel, Sie sind in diesem Bezirk aufgewachsen und nun seit fast drei Jahren Bürgermeister. Sehen Sie Fortschritte bei der Integration?

Hikel: Die Diskussion hat sich verschärft. Zivilgesellschaftliche Organisationen nutzen heute im Kampf gegen das Neutralitätsgesetz den Begriff des antimuslimischen Rassismus. Hinter diesem Begriff steckt für mich aber nichts Greifbares. Er definiert eine Form des Rassismus und vermischt es mit Religion. Damit wird jeder, der sich mit Diskriminierung konfrontiert sieht, automatisch zum Muslim gemacht. Die Realität ist aber eine andere. Keine Frage: Es gibt bei uns Rassismus, aber der hat primär wenig mit dem Islam zu tun. Der Begriff führt zu einem Opferdiskurs, der die Dialogfähigkeit einschränkt. Ich kann nicht mehr richtig über die Idee des Neutralitätsgesetzes diskutieren – nämlich dass der Staat neutral zu sein hat –, weil man sofort in einer Betroffenheitsdiskussion landet.

Sie sprechen vom Berliner Neutralitätsgesetz, das Beamten und Lehrern das Tragen „religiös geprägter Kleidungsstücke“ verbietet. Abgesehen davon: Setzen Sie denn in Ihrem Bezirk durch, dass Mädchen und Jungen am Schwimmunterricht teilnehmen?

Hikel: Die Lehrer schaffen das, wenn es den politischen Rückhalt gibt. Den gibt es bei uns in Neukölln, das zeigt sich am Neutralitätsgesetz: Wir stehen voll dahinter. Wenn ich mir allerdings die Diskussion auf Landesebene anschaue, dann wird mir himmelangst. Da lässt der grüne Justizsenator Rechtsreferendarinnen in der Ausbildung und im Gericht mit Kopftuch zu. Das ist ein Einknicken unter dem Vorwand, Vielfalt zulassen zu wollen.

Jetzt sind wir bei der Kopftuchdebatte angekommen.

Hikel: Es geht nicht ums Kopftuch, sondern um die staatliche Neutralität.

John: Das Berliner Neutralitätsgesetz wird in seiner Verbohrtheit durch das neue Kopftuch-Urteil des Bundesverfassungsgerichts infrage gestellt. Das Gericht hat dazugelernt, die Berliner SPD nicht. Wir haben es hier mit Integrationserfolgen von Töchtern aus offensichtlich bekennenden muslimischen Familien zu tun. Wenn diese Frauen jetzt an die Türen klopfen, um angestellt zu werden, sagt man hier in Berlin und nur hier: Nee, euch wollen wir nicht. Was sind die Folgen? Wenn sie ihren Beruf ausüben wollen, werden sie auf muslimische Einrichtungen verwiesen, und sie lernen: Die wollen uns hier nicht, egal, wie sehr wir uns anstrengen. Einwanderungsgesellschaft heißt, gemeinsam eine neue Gesellschaft bilden, in der man Dinge mit Vernunft und Empathie aushandelt.

Mansour: Ihre Worte stehen dafür, was in den letzten Jahren schiefgelaufen ist, für diese linke Verweigerung der Debatte. Herr Hikel ist nicht dagegen, dass Frauen mit Kopftuch in dieser Gesellschaft ihren Platz finden. Sie werden an Universitäten und in Banken angestellt. Aber in drei Bereichen, wo sie den Staat verkörpern, nämlich in Polizei, Justiz und Schule, da erwarte ich, dass sie keine religiösen Symbole tragen. Wenn dieses Kopftuch für die Frauen ein Schönheitssymbol ist, dann können sie es 18 Stunden am Tag tragen und sechs Stunden, bei der Arbeit, eben nicht. Das tun sie aber nicht, weil das Kopftuch ein religiöses Symbol ist, und es sagt: Frauen sollen ihr Haar bedecken und es fremden Männern nicht zeigen.

Hikel: Wenn wir zulassen, dass das Neutralitätsgesetz anders interpretiert wird, und es zulassen, dass an den Schulen ein Kruzifix, eine Kippa oder ein Kopftuch getragen wird, dann geben wir den Neutralitätsanspruch des Staates auf. Ich habe ein Problem damit, wenn ein Repräsentant des Staates sich sichtbar mit einer Weltanschauung identifiziert. Das Prinzip der Neutralität des Staates muss ein guter Republikaner bis aufs Blut verteidigen.

Warum sprechen wir eigentlich nicht über Buddhisten oder Juden? Behindert der Islam Integration?

Hikel: Ich will das von der Religion trennen. Nicht jeder Muslim, der dort draußen herumläuft, ist gegen Meinungsfreiheit. Einen Großteil der Muslime interessiert es einen feuchten Kehricht, was der Zentralrat der Muslime oder Ditib meinen. Wir haben ein Problem mit den mitgebrachten patriarchalen Strukturen. Diese Strukturen werden dann aber mit dem Islam begründet. Ob das legitim ist, kann ich nicht sagen – ich bin kein Islamwissenschaftler.

Wie kann der Staat da eingreifen?

Hikel: Mit Integrationskursen, mit Deutschkursen ist es nicht getan. Wir müssen diejenigen, die in unsere Strukturen reinkommen, zu Staatsbürgern erziehen. Das geht über unsere Schulen. Dort können wir junge Menschen erreichen, ihnen individuelle Teilhabe ermöglichen – fern von Regeln, die ihnen irgendeine Tradition vorschreibt.

Mansour: Ich gehe in Willkommensklassen, in Schulen, in Gefängnisse, um dort unsere Werte zu verbreiten, und treffe dort auf Menschen, die eine große Sehnsucht nach Freiheit und Selbstbestimmung haben. Das merkt man besonders bei denen, die alleine, also ohne ihre Familien, nach Europa gekommen sind. Aber in den letzten Jahren hat Deutschland diese Aufgabe vernachlässigt. Wir haben nur darauf geschaut, wie die Deutschkenntnisse sind, aber wir müssen die Wertevermittlung verstärken, etwa in Debattierclubs, denn da entsteht Diskursfähigkeit. In Berlin erlebe ich stattdessen eine große Ablehnung: Bevorzugt werden Projekte, die Diskriminierung bekämpfen.

John: Es gibt in unserer Gesellschaft Islamophobie, also Islamfeindlichkeit. Einer der Gründe dafür sind die zahlreichen blutigen Kriege, die seit dem Zweiten Weltkrieg insbesondere in der islamischen Welt stattfinden. Jeden Tag töten dort auch heute Muslime andere Muslime: Diese anhaltenden Konflikte haben die Menschen hier entsetzt. Wenn nun Menschen in großer Zahl aus diesen Regionen zu uns kommen, verstärken sich die Ängste, erst recht, wenn selbst hier Geborene zu Mördern werden. Und dann werden schnell alle Muslime verantwortlich gemacht.

Mansour: Es gibt bei uns Muslimfeindlichkeit, ja. Aber Islamophobie ist ein Kampfbegriff, erfunden im Iran, um die Frauen zu diffamieren, die nicht Kopftuch tragen wollten. Zurück in die Praxis von Herrn Hikel. Sind die Moscheen beim Aufbrechen der patriarchalen Strukturen Teil der Lösung oder Teil des Problems?

Martin Hickel / Marcel Schwickerath

Hikel: Beides stimmt. Es gibt massive Probleme, weil bei den Moscheevereinen oft nicht klar ist, welches politische Ziel verfolgt wird. Dort werden ja nicht nur Glaubensfragen diskutiert, sondern politische Fragen. Die meisten Moscheevereine haben Verbindungen zu ausländischen Organisationen wie Ditib oder den Muslimbrüdern. Auf der anderen Seite haben diese Vereine die Möglichkeit, das aufzubrechen. Wenn die Moscheevereine sich eindeutig gegen Terrorismus aussprechen, den Dialog zu anderen Religionen suchen würden, wenn sie predigen würden, dass es nicht schlimm ist, wenn Kinder andere Lebensentwürfe verfolgen – Stichwort Homosexualität. Das ist meine Erwartung an diese Vereine: Sie müssen die Menschen hier in Deutschland dazu befähigen, den Glauben hier so zu praktizieren, dass diese Menschen hier wirklich ankommen.

Im Februar nimmt in Niedersachsen ein Kolleg die Arbeit auf, das Imame für Deutschland ausbilden soll. Ist das sinnvoll?

Hikel: Ich würde es sehr begrüßen, wenn es in Berlin ein islamisches Institut gäbe, das die Breite des muslimischen Glaubens abbildet. Konservative wie liberale Kräfte müssen da Widerhall finden, und sie müssten aushandeln: Was ist Grundlage der Imam-Ausbildung? Aber das gibt es nicht. In den Beiräten, die in Berlin für die Ausbildung zuständig sind, sitzen vor allem konservative und erzkonservative Islamverbände.

Sollte man auf diese Verbände pfeifen und sagen: Wir machen das als deutscher Staat so, wie wir es für richtig halten?

Hikel: Es gibt ja nicht die islamische Gemeinde, sondern viele verschiedene. Die muss man zusammenbringen.

Mansour: Die Idee der Imam-Ausbildung ist richtig. Aber in der Praxis kann mit einem kleinen Fehler alles zunichtegemacht werden. In Berlin haben wir eine Theologiefakultät. Aber in den Beiräten sitzen die falschen Leute, von Verbänden wie dem Zentralrat der Muslime, der Islamischen Gemeinschaft der Schiitischen Gemeinden Deutschlands und der Islamischen Föderation in Berlin. In Münster gibt es das Zentrum für Islamische Theologie, geleitet von dem liberalen Theologen Mouhanad Khorchide, aber der wird von den muslimischen Verbänden massiv angefeindet. Sie wollen verhindern, dass ein theologischer Diskurs entsteht, der ein Islamverständnis schafft, das mit Demokratie und Menschenrechten vereinbar ist.

John: Dieses Märchen glauben Sie doch selber nicht. Und was den Vorschlag angeht, wir machen das als deutscher Staat selbst. Das hört sich nach einer Behörde für religiöse Inhalte an. Ausgerechnet in Deutschland, wo Staat und Kirche getrennt sind. Über Ausbildungsinhalte muss das berufene muslimische Lehrpersonal schon selbst entscheiden. Der Staat kann monieren.

Mansour: Ich bin aber Moslem.

John: Sie können sich ja dafür bewerben.

Frau John, über Jahrzehnte hat Ditib, der engstens mit dem türkischen Staat verbunden ist, den Großteil der Imame in Deutschland gestellt. Hat Deutschland auf das falsche Pferd gesetzt?

John: Ich habe über Jahrzehnte gefordert, Imame hier auszubilden. Die Antwort, aus der SPD und aus der CDU, war: Kommt nicht infrage, wir haben es mit Arbeitskräften zu tun, nicht mit Gläubigen. Einwanderung wurde viel zu lange als ein vorübergehendes Phänomen betrachtet.

Herr Hikel, Ihr Parteifreund Kevin Kühnert hat jüngst angeprangert, die Linke sei auf dem „islamistischen Auge“ blind. Hat er recht?

Hikel: Absolut. Die Linke, ob die Partei Die Linke, Die Grünen oder auch die SPD, ist da an vielen Stellen indifferent und schweigt aus falsch verstandener Toleranz und einer blinden Unterstützung für die angeblich Unterdrückten. Das gilt für den Islamismus, aber auch für das Thema Clankriminalität. Zum politischen Islam traut man sich nichts zu sagen, weil das Thema ja von Rechtspopulisten angesprochen wird. Das ist falsch. Hier in der Kommunalpolitik argumentieren wir oftmals gegen Windmühlen. Nur ein Beispiel: Im Bezirk haben wir ein Schulprojekt, das sich mit patriarchalen und falsch verstandenen Männlichkeitsvorstellungen auseinandersetzt. Im Bezirksparlament hat die Linke dagegengestimmt, weil Herr Mansour ursprünglich an dem Projekt beteiligt war – und er gilt als jemand, der sich kritisch zum Islam äußert.

Mansour: Kühnert hat recht. Aber die Linke hat in den letzten Jahren nicht geschwiegen, sondern lautstark den politischen Islam unterstützt. Sie haben Leute wie mich zu Krawallmachern gemacht, die man meiden muss. Sie haben diese Schieflage in der Diskriminierungsdebatte erzeugt, die lautet: Minderheiten darf man nicht kritisieren, Mehrheiten sind per se rassistisch. Jetzt gerade spricht man wieder mit uns, aber in ein paar Wochen sind wir wieder bei dem Mantra: Das hat mit dem Islam nichts zu tun, die Integration läuft großartig.

John: Ich sehe schon Fortschritte. Vor über zehn Jahren gab es hier im Bezirk vermehrt Attacken von Jugendlichen türkischer Herkunft auf Homosexuelle. In der Senatsverwaltung gab es Leute, die sagten: bloß nicht anzeigen, bloß nicht an die Öffentlichkeit. Die Täter sind doch auch Opfer! Ich war anderer Meinung. Heute ist man realistischer. Kühnerts Vorstoß reiht sich da ein. In Frankreich und Österreich kommen jetzt Signale für mehr Repression, gerade gegen salafistisch geprägte Organisationen. Hier in Neukölln hat das Bezirksparlament schon 2015 für einen Verbotsantrag gegen die Al-Nur-Moschee gestimmt. Die ist aber bis heute offen.

Hikel: Das ist eine salafistische Moschee, mit hoher Wahrscheinlichkeit wurden von dort auch IS-Kämpfer rekrutiert. Der Senat prüft das Verbot bis heute, aber der deutsche Rechtsstaat setzt für ein Vereinsverbot hohe Hürden – zu unserem Leidwesen hier in Neukölln.

Sind repressive Maßnahmen am Ende konstruktiv? Laut dem Berliner Verfassungsschutz hat der Druck auf die Moscheen dazu geführt, dass Salafisten sich eher in den privaten Kreis zurückgezogen haben.

Hikel: Verbote führen immer zu Verdrängung, aber die Leute und das Gedankengut sind noch da. Das kennt man auch von rechtsextremen Gruppen. Aber wenn man einen Verein verbietet, der Gastredner einlädt, die gegen Schwule und Juden hetzen, der für eine Interpretation eines Glaubens steht, die wir als demokratischer Staat nicht tolerieren, dann hat das auch eine symbolische Wirkung.

Mansour: Repression bedeutet mehr, als nur Moscheen zu schließen. Vor einigen Jahren hat der Staat das Projekt „Lies!“ verboten, das massiv für den IS rekrutiert hat. Das hat die salafistische Szene spürbar getroffen. Repression bedeutet auch, selbstbewusst die Werte der Republik zu verteidigen.

John: In einer offenen Gesellschaft, die das zweitgrößte Einwanderungsland der Welt ist, müssen wir eine neue Form des Zusammenlebens finden. Jede Migration hat tief greifende Auswirkungen, darunter auch negative. Die Frage muss sein: Wie können wir hier friedfertig miteinander leben? Nur Ausgrenzung und Repression sind da keine Antwort. Ein Beispiel: Der Verfassungsschutz argumentiert etwa mit Kontaktschuld. Da wird eine ganze Moschee stigmatisiert, weil dort Muslimbrüder gebetet haben. Was soll das?

Mansour: In dieser Zukunft will ich nicht leben.Ich bin in diese Gesellschaft gekommen, weil ich die freiheitliche demokratische Grundordnung schätze. Der Rechtsstaat ermöglicht Vielfalt, aber alle müssen sich an gewisse Regeln halten. Und Sie relativieren diese Regeln. Das ist nicht meine Bundesrepublik.

Hikel: Frau John, Sie sagen: Wir müssen miteinander leben. Hier in Neukölln tun wir das: Hier leben Menschen aus über 150 Nationen und 60 Religionsgemeinschaften. Aber ich habe das Gefühl, dass wir unsere Werte immer mehr selbst infrage stellen. Es ist die falsche Antwort zu sagen, wir müssen um jeden Preis alle integrieren. Teilhabe ja, aber es gibt unumstößliche Bereiche, die unverhandelbar sind. Das mag man als repressiv deuten, ich nenne es Standhaftigkeit.

 

Diesen Text finden Sie in der Dezember-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns portofrei kaufen können.

 

Jetzt Ausgabe kaufen

Anzeige