Corona-Klage gegen Österreich - „Meine Frau hätte mich beinahe in Ischgl verloren“

Der Ski-Ort Ischgl hat entscheidend zur Verbreitung von Covid-19 beigetragen: Mindestens 6.000 Urlauber haben das Coronavirus nach ihrer Heimkehr in Europa verbreitet. Einer von ihnen ist Jürgen Stang, er hat die Republik Österreich auf Schadensersatz verklagt. Dabei gehe es ihm nicht ums Geld, sagt er im Interview.

Hat entscheidend zur Verbreitung von Covid-19 beigetragen: Der Skiort Ischgl / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Jürgen Stang, 58, ist nach seinem letzten Ski-Urlaub in Ischgl so schwer an Corona erkrankt, dass er auf die Intensivstation musste. Insgesamt haben sich in Ischgl rund 6.000 Urlauber aus ganz Europa im „Ballermann der Berge“ mit Covid-19 infiziert. Stang ist einer von drei Einzelklägern, die die Republik Österreich mithilfe eines Verbraucherschutzvereins vor dem Landgericht Wien auf Schadensersatz und Verdienstausfall verklagt haben. Er will sich auch einer Sammelklage von 1.000 Betroffenen anschließen. 

Herr Stang, im März haben Sie sich das Corona-Virus bei einem Skiurlaub in Ischgl eingefangen. Jetzt haben Sie die Republik Österreich auf Schadensersatz verklagt. Warum? 
Diese Krankheit war eine Wahnsinnstortur. Und wenn ich jetzt erfahre, dass es in Österreich Menschen gibt, die wussten, dass dieses Corona-Virus in Ischgl grassiert und die Urlauber trotzdem ins Tal gelassen haben aus reiner Profitgier, dann kann ich das nicht einfach so hinnehmen.   

Sie sind nicht der Einzige, der krank aus dem Urlaub zurückgekommen ist. 6.000 Menschen aus ganz Europa haben das Virus verbreitet. Aber nur zwei davon haben Einzelklage eingereicht. Warum?   
Es gibt 32 Tote, die haben keine Stimme mehr. Es gibt Familien, die können sich so eine Klage nicht erlauben. Ich habe das Glück, dass ich finanziell gut abgesichert bin. Ich werde alles daran setzen, dass die Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen werden.

Aber wer ist denn für die Verbreitung des Virus verantwortlich? Der Wirt des „Kitzlochs“ hat dem Cicero gesagt, er hätte sich an die Weisung der Tourismusbehörden gehalten. Und die Behörden sagen, es habe keine Anweisung von der Bundesregierung gegeben.  
Einer schiebt es auf den anderen. Wo fängt die Schuld an? Am 29. Februar wurde der Barkeeper der Après-Ski-Kneipe „Kitzloch“ positiv getestet. Er hatte auch andere angesteckt. Man wusste da schon, dass das Virus tödlich ist. Dann muss man den Laden doch sofort dichtmachen.

Sie meinen die Behörden?
Genau, die können sich nicht herausreden. Aus Island kam ja schon am 5. März die Warnung, dass sich Urlauber in Ischgl infiziert haben. Ich verstehe nicht, warum die Behörden die Lokale weiter offen gelassen und die Lifte nicht geschlossen haben. Das ist eine Seuche, keine Grippe. Für die Betroffenen kann das furchtbare Folgen haben. Schwerstbehinderungen. Oder sogar den Tod.

Sie sprechen aus eigener Erfahrung. Wie ist es Ihnen ergangen?
Wir sind am 13. März abgereist, einen Tag später haben wir den Corona-Test gemacht. Am 19. März bin ich dann ins Krankenhaus gekommen. Und ganz ehrlich: Was danach in den Medien über Ischgl berichtet wurde, konnte ich gar nicht mehr verfolgen. Ich war so todkrank. Ich habe um mein Leben gekämpft.

Was war der schlimmste Moment?
Als ich im Krankenhaus lag, keine Luft mehr bekam und dachte: „Mensch, Dein Opa ist 84 geworden, Dein Vater 77 – und du hast jetzt vielleicht noch eine Stunde.“ Das war das Schlimmste. Ich lag auf der Intensivstation und dachte, du kannst jetzt noch nicht mal Deine Frau anrufen. Die wird doch gerettet. Die Ärzte und Pfleger haben mein Leben gerettet.

Wie lange waren Sie im Krankenhaus?
Zwölf Tage. Ich habe in dieser Zeit zwölf Kilo abgenommen. Sechs Wochen konnte ich nicht das Bett verlassen. Die Nächte waren das Schlimmste. Sie haben Luftnot. Sie inhalieren dreimal.

Sind Sie heute wieder fit?
Nein, noch lange nicht. Ich bin Maurermeister von Beruf und ein aktiver Mensch, auch wenn ich schon lange im Büro arbeite. Aber wenn ich in einem Gebäude die Treppe hochlaufen muss, weil es keinen Aufzug gibt, muss ich mich spätestens in der 3. Etage hinsetzen. Wenn ich als Maurer noch acht Stunden draußen auf einem Gerüst stehen müsste, das ginge gar nicht. Auch die Konzentration fehlt mir häufiger. Nach dem Krankenhausaufenthalt konnte ich gerade mal zwei Sätze am Stück reden.

Was sagt Ihr Arzt, wenn Sie ihm davon erzählen? 
Die Ärzte stehen genauso vor einem Riesenberg von Fragen. Ich war bei Kardiologen oder Urologen. Ich habe eigentlich alle Ärzte durch. Wenn Sie in die Praxis reinkommen, treten die erstmal einen Schritt zurück. Dann gehen sie erstmal eine Checkliste durch. Das Erschreckende ist: Es gibt auch heute noch Ärzte, die sprechen von „grippeähnlichen Symptomen“.

Jürgen Stang / privat

Ärgert Sie das?
Ungemein. Das hat mit Grippe nichts zu tun. Am liebsten sind mir Ärzte, die sagen: „Herr Stang, wissen Sie was? Wir wissen nicht, was das Virus mit Menschen macht.“ Das ist eine ehrliche Antwort. Damit kann ich leben.

Die Gastronomen in Ischgl beteuern, sie hätten Anfang März noch nicht geahnt, welche Dynamik und welches Ausmaß die Pandemie in ihrem eigenen Ort entfaltet hatte.
Das lasse ich nicht gelten. Die Fotos von den Särgen aus Bergamo datieren zwar erst vom 28. März. Man wusste aber damals schon, dass Tote mit Hubschraubern aus Bergamo ausgeflogen worden waren. Man hatte ja auch schon die Bilder aus Wuhan gesehen. Eine ganze Stadt, die unter Quarantäne stand. In Ischgl habe ich aber gehört, wie Gastronomen behaupteten: „Das ist nur eine Erkältung. Deswegen machen wir das Lokal nicht dicht.“

Haben alle so gedacht?
Ich will nicht ausschließen, dass es der eine oder andere Hotelier wirklich nicht gewusst hat. Aber die Verantwortlichen – der Bürgermeister, der Landeshauptmann, die Lift-Gesellschaften, die Gesundheitsämter – die haben das sicherlich schon gewusst.

Haben Sie mal nachgefragt?
Nein, das habe ich ganz bewusst nicht gemacht. Von deren Seite ist nicht mal ein Anruf gekommen, eine Entschuldigung, ein „Wie geht’s Ihnen?“ oder „Was können wir in Zukunft besser machen?“. Die nächste Saison kommt ja. Das Drama geht von Neuem los.

Aber in diesem Jahr ohne Après-Ski. Österreichs Bundeskanzler hat das Feiern verboten. 
(lacht) Ach, das ist doch der größte Humbug.

Ein Party-Stopp ist unrealistisch?
Waren Sie schon mal in Ischgl? Das ist ein Gute-Laune-Ort, der ist sehr eng gebaut. Wenn in den Kneipen nicht mehr gefeiert werden darf, werden die Urlauber ausweichen auf Balkone oder Parkplätze. Da stehen manchmal 100 Busse mit Wochenend-Touristen. Die kommen aus Stuttgart oder dem Rheinland. Die fangen schon im Bus mit dem Feiern an. In Ischgl geht es weiter. Autoklappe auf, Fass hinten rein. Das war früher schon so.

Haben Sie kein Vertrauen in die gängigen Schutzmaßnahmen: Abstand halten, Mund-Nase-Schutz tragen, Hände waschen?
In diesen Lokalen ist es sehr eng. Wenn Sie da essen gehen, wie wollen die Wirte denn da Tische auseinander ziehen, um den Sicherheitsabstand einzuhalten? Dann gibt es keine Belüftung, man kann die Fenster nicht richtig öffnen. Ich würde es mir wünschen, dass die das hinkriegen. Aber ich habe größte Bedenken.

Nach einer guten Werbung für Ischgl klingt das nicht. Warum sind Sie trotzdem schon seit 1991 jeden Winter dort hingefahren?
Ein Kollege hat mich mal mitgenommen. Vorher bin ich immer ins Stubaital gefahren. Das hat mir nicht so gefallen, weil wir jedes Mal den Gletscher hochfahren mussten. Ich kenn den Ort also ziemlich gut. Damals gab’s da noch keinen „Kuhstall“ oder kein „Hexenhaus“. Das „Schlosshotel“ hieß noch „Romantika“.

Und was ist so reizvoll an dem Ort?
Die haben ein fantastisches Skigebiet und einen Ortskern, der verkehrsfrei ist. Es gibt viele Lokale zum Essengehen. Die Freizeitmöglichkeiten sind riesengroß. Es ist nicht nur Skifahren ... 

... sondern in erster Linie auch Party? 
Das stimmt. Es ist auch nicht so, dass ich sagen würde, ich fahre da nie wieder hin. Ich hege keinen Groll gegen die Menschen, die da leben. Um Gottes Willen. Der Ort ist fantastisch. Im Jahr 2000 habe meine Frau da kennengelernt, in der „Trofana Alm“. Sie war mit einer Frauengruppe da, ich mit einer Männergruppe. Fünf Jahre später haben wir geheiratet. Daran kann man schon sehen, welche Bedeutung dieser Ort für uns hat. Meine Frau sagt: „Ich habe Dich in Ischgl kennengelernt. Ich hätte Dich beinahe in Ischgl verloren.“  

Welche Summe fordern Sie vom Land Österreich zurück?
Das möchte ich nicht sagen.

Warum nicht?
Wenn ich das Geld kriege, wäre es gut. In erster Linie geht es mir aber nicht ums Geld, sondern um Gerechtigkeit.

Wäre es nicht besser, sich außergerichtlich zu einigen?
Das hat der Verbraucherschutzverein auch gesagt, der die Klage für mich führt. Es gibt noch drei andere Klagen, unter anderem eine Sammelklage von 1.000 Opfern, der ich mich auch schon angeschlossen habe. So eine Klage ist auch eine Belastung für die Kläger. Immer wieder wird die Geschichte aufgerollt.

Was ist, wenn Sie verlieren? Wie weit würden Sie gehen?
Ich habe einen langen Atem. Ich ziehe das bis zur letzten Instanz durch.

Haben Sie heute noch Lust, Ski zu laufen?
Also, ich würde die Piste mit Sicherheit noch runterkommen. Aber unten müsste ich mich erstmal hinsetzen. Ich schnappe mir ab und zu ein Fahrrad, um ein paar Kilometer zu fahren. Ich merke das ganz schön. Ein normales Leben ist das nicht.

Wie zuversichtlich sind Sie, dass Ihre Fitness wieder zurückkommt?
Die Ärzte hoffen das natürlich. Ich selbst merke auch eine Verbesserung. Aber das sind ganz, ganz kleine Schritte. Diese Erfahrung teile ich mit meinen jüngeren Kollegen, die mit mir zusammen in Ischgl waren. Und die sind alle Mitte 30. Wir haben es uns zur Aufgabe gemacht, andere für die Krankheit zu sensibilisieren. Die Leute werden leichtsinnig mit der Zeit.

Wie bewerten Sie das Krisenmanagement der deutschen Bundesregierung?
Bund und Länder machen zu wenig. Es werden Regeln aufgestellt, die regelmäßig gebrochen werden. Die zu erwartenden Strafen sind einfach viel zu milde. Es muss wirklich weh tun. 

Die Fragen stellte Antje Hildebrandt. 

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