Inventur bei der SPD - Großreinemachen der Gesinnung

Es ist gerade Inventur bei der SPD. Mitglieder gehen oder werden gegangen. Die neue Parteispitze rückt die SPD zurück nach links. Sie zahlt dafür einen hohen Preis. Ihre Umfragewerte sinken weiter, und die ersten Mitglieder suchen Zuflucht bei der FDP

Ausgeschlossen: Thilo Sarrazin will nach seinem Parteirauswurf bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen / picture alliance
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Christoph Schwennicke war bis 2020 Chefredakteur des Magazins Cicero.

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Drei personelle Ereignisse in kurzer Folge bei der SPD: Sigmar Gabriel wird Aufsichtsrat bei der Deutschen Bank, Thilo Sarrazin wird von einem Schiedsgericht der Parteischädigung für schuldig gesprochen und soll aus der SPD ausgeschlossen werden. Und der Essener Stadtrat Karlheinz Endruschat gibt sein Parteibuch freiwillig ab, weil er die Borniertheit der Parteispitze gegenüber Lebenswirklichkeiten ihrer Wählerklientel nicht mehr ausgehalten hat. Diese drei Personalien haben viel miteinander gemeinsam. Endruschat war in einem Essener Problemstadtteil 37 Jahre Bewährungshelfer, in einer Ecke also, in die Gabriel seine Partei ausdrücklich schicken wollte, als er im November 2013 das Amt des Parteivorsitzenden übernahm. Die Sozialdemokraten müssten dorthin, „wo es brodelt, riecht und stinkt“, hatte er gefordert.

Und war mit diesem Appell irgendwann so sehr gescheitert, dass er aufgab. Sarrazin vertritt Ansichten zum Islam, die kritisch sind und auch etwas mit den Zuständen in Endruschats Kiez zu tun haben. Das ist nicht erlaubt in einer SPD, die sich der guten Gesinnung mehr verpflichtet fühlt als der Lebenswirklichkeit ihrer Klientel. Die sich dem Prinzip eines Robin Hood mehr verpflichtet sieht als einem leistungsstarken Land mit mutigen Unternehmern, die für das Gedeihen ihrer Firmen günstige Umstände brauchen, um Leute einzustellen. Auch solche, die SPD wählen. Weil aber mit Norbert Walter-Borjans, vor allem aber mit Saskia Esken zwei Leute an der Spitze der Partei stehen, die Unternehmer als Feinde sehen, hat sich schon vor wenigen Wochen der frühere Mittelstandsbeauftragte der SPD, Harald Christ, aus der SPD zurückgezogen.

Salzwasser gegen den Durst trinken

Es ist gerade Inventur bei der SPD. Leute gehen und werden gegangen. Ein Großreinemachen der Gesinnung. Ein Exorzismus dessen, was für böse erachtet wird. Vermutlich sind die jetzt tonangebenden Leute in der SPD sogar zufrieden mit ihren „Säuberungsaktionen“. Eine durchweg linksorthodoxe Spitze in Partei und Fraktion scheint vom Glauben geleitet, dass mit dem Tilgen liberalerer oder wirtschaftsnäherer Positionen die SPD zu alter Kraft zurückfinden kann. Dabei merken sie gar nicht, dass sie Salzwasser gegen den Durst trinken. Wenn die regierende SPD die einzige Partei ist, die sich bei den Überschüssen ihres eigenen Finanzministers im Staatshaushalt keine Steuersenkungen vorstellen kann, Steuersenkungen für ihre eigene Klientel, dann ist das ein eindeutiges Indiz dafür, dass sich die neue SPD nurmehr den Bedürftigen und zu kurz Gekommenen verpflichtet fühlt, aber nicht mehr den Leistungsträgern dieser Gesellschaft.         

Auch in der Außenpolitik geht es der neuen Spitze vor allem um die reine Lehre des Friedens, was an sich kein schlechter Ansatz ist, aber ebenso an den Realitäten scheitert wie ihr sozialromantischer Blick auf die Lebensverhältnisse zu Haus bei Karlheinz  Endruschat. Es gab in den achtziger Jahren einmal eine Spielart des Pop, zu der Duran Duran, The Human League und Depeche Mode gerechnet wurden. New Romantic nannte man diese etwas schwülstig-verklärte Musik. Die Sozialdemokraten von 2020 sind die New Romantics der Politik.

Flucht zur FDP 

Die scheidenden Realisten wenden sich wie Endruschat sozialliberalen  Bewegungen zu. FDP-Chef Christian Lindner nimmt verzweifelte SPD-Flüchtlinge wie Florian Gerster mit demonstrativ offenen Armen auf in der FDP. Es ist nicht ausgemacht, ob eine Abspaltung der SPD eine starke politische Kraft werden kann auf absehbare Zeit, Zweifel sind angebracht. Es ist auch nicht gesagt, dass Lindner viele Sozialdemokraten mit einem neuen Parteibuch ausstatten wird. 

Aber klar ist jetzt schon, dass die neue Parteispitze bei ihrer Inventur gerade relevante Teile der Sozialdemokratie verliert. Letzte Realisten wie der wahlkämpfende Hamburger Bürgermeister Peter Tschentscher verzichten  deshalb lieber auf Esken und Walter-Borjans bei seinen Auftritten in der Stadt. Esken hat unmittelbar nach ihrer Wahl zur Parteivorsitzenden das Ziel ausgerufen, die SPD in einem Jahr auf 30 Prozent zu bringen. Bisher ist sie diesem Ziel keinen Zentimeter näher gekommen. Und nirgends steht geschrieben, dass 13 Prozent schon die Unterkante dessen sind, worauf die SPD noch fallen kann. Thilo Sarrazin hat immer gesagt, dass er mit seinem Parteirauswurf durch alle Instanzen bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen wird. Das kann viele Jahre dauern, und vielleicht erlebt eine der beteiligten Streitparteien dieses Ende gar nicht mehr. Das muss nicht zwingend Sarrazin sein, der am 12. Februar 75 Jahre alt wird.     

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