Die Partei der Erstwähler und Erstwählerinnen - „Sie hoffen auf Fortschritt und wählen deshalb die FDP“

Bei Analyse der Erstwählerstimmen zu dieser Bundestagswahl gehen Liberale und Grüne als Sieger hervor. 23 Prozent der Erstwähler und Erstwählerinnen haben sich für die FDP entschieden. Warum das so ist, erklärt Noreen Thiel, die selbst Erstwählerin war und in Berlin als Direktkandidatin der FDP für den Bundestag antrat.

Noreen Thiel vor ihrem Wahlplakat in Berlin-Lichtenberg / Marcel Laskus
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Autoreninfo

Charlotte Jost studiert Political- and Social Studies an der Julius-Maximilians Universität in Würzburg und ist Hospitantin in der Cicero Online-Redaktion.

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Noreen Thiel ist im April dieses Jahres 18 Jahre alt geworden und studiert Marketing in Berlin. Sie war außerdem Direktkandidatin der FDP in Berlin-Lichtenberg für den Bundestag. Am Sonntag kam sie dort auf 6,1 Prozent der Erststimmen. Vier Jahre zuvor hatten die Liberalen dort nur 3,4 Prozent bekommen.

Frau Thiel, ist man denn mit 18 Jahren schon erwachsen genug, sich als Kandidatin aufstellen zu lassen?

Gesetzlich ja. Außerdem ist es natürlich für jeden selbst eine Frage der Reife. Es wurde mir von außen zugetraut, und vor allem habe ich es mir auch selbst zugetraut.

Wurden Sie als Kandidatin ernst genommen?

Das ist sehr unterschiedlich. In den letzten Wochen und Monaten bin ich auf sehr viele unterschiedliche Menschen getroffen. Die einen nahmen mich ernst, die anderen weniger.

Wie gehen Sie damit um?

Besonders, wenn Kommentare mich im Internet aufgrund meines Alters herabsetzen wollen, schenke ich diesen keine Aufmerksamkeit. Wenn Menschen nicht das Interesse haben, sich inhaltlich mit mir auseinanderzusetzen und über Politik zu diskutieren, dann hat es für mich keinen Sinn, sich mit ihnen und ihren Auffassungen zu meiner politischen Kompetenz zu beschäftigen.

Sie sind für die FDP in Berlin-Lichtenberg angetreten. Was sind Ihre politischen Themen innerhalb der Partei?

Ich habe drei Themen, die mir besonders wichtig sind. Zum einen geht es mir darum, in Bezug auf psychische Erkrankungen eine politische und gesellschaftliche Veränderung herbeizuführen. Auch das Thema Bildung hat für mich einen hohen Stellenwert, auch im Zusammenhang mit Digitalisierung.

Wie kommt es zu diesen Themen?

Was Bildung und Digitalisierung angeht: Ich komme aus Cottbus, einer eher ländlichen Region, und weiß deshalb, wie weit wir in der Digitalisierung zurückliegen, insbesondere in Schulen. Das sind die gängigen Probleme auf dem Land. In Bezug auf psychische Erkrankungen: Ich selbst habe mich viel mit meiner psychischen Gesundheit auseinandergesetzt und weiß, was bei der Bekämpfung psychischer Erkrankungen, etwa in der Behandlung, noch nicht richtig läuft. Gesamtgesellschaftlich erfährt das Thema leider noch zu wenig Aufmerksamkeit, doch inzwischen ist es Teil des Bundestagswahlprogramms der FDP.

Welche Ambitionen haben Sie innerhalb der FDP?

Mir geht es auf darum, mich weiterhin politisch zu engagieren und für Themen einzutreten, die mir wichtig sind. Seit drei Jahren bin ich politisch aktiv und es macht mir sehr Spaß. Es werden noch einige Jahre folgen.

Wie bewerten Sie den Wahlkampf der FDP?

Ich finde, wir hatten, ähnlich wie zur Bundestagswahl 2017, einen progressiven Wahlkampf. Dennoch vertreten wir greifbare Themen. Seit der Corona-Pandemie, der Lösung Homeoffice und zunehmender Kommunikation online ist vielen die Relevanz der Digitalisierung klar geworden, für die wir uns auch in diesem Wahlkampf einsetzen. Unsere Hauptthemen, Bildung und Wirtschaft sind stark vertreten, und unser Wiedererkennungswert ist geblieben. Ich bin zufrieden, dass wir unsere Position im Bundestag stärken konnten.

Noreen Thiel / Johannes James Zabel

23 Prozent der Erstwähler- und Erstwählerinnenstimmen gingen an die FDP, somit konnte die Partei die meisten jungen Menschen für sich gewinnen. Warum fühlt sich die Jugend so von der FDP angezogen?

Ich glaube, die Einschränkungen in der Corona-Pandemie haben vielen aufgezeigt, was für einen Stellenwert die persönliche Freiheit hat. Diese scheint jedoch gar nicht so selbstverständlich zu sein, wie wir glauben, weil wir in einer relativ unbeschwerten Zeit groß geworden sind. Vielen ist der Bildungs-Digitalisierungs-Aspekt sehr wichtig, und gerade ehemalige Schüler und Schülerinnen oder die, die noch in die Schule gehen, sehen am ehesten, was in den Schulen nicht funktioniert. Sie hoffen auf Fortschritt und wählen deshalb die FDP. Weil die FDP eine Partei ist, die den jungen Menschen und ihren Belangen mehr Gehör schenkt als andere.

Der FDP hat das Image, eine „Partei der Besserverdienenden“ zu sein. Der ehemalige FDP-Generalsekretär Werner Hoyer äußerte sich dazu im Bundestagswahlkampf 1994: „Wir sind die Partei der Besserverdiener, weil wir wollen, dass alle besser verdienen“. Was halten Sie von diesem Image der FDP in Bezug auf den hohen Anteil an Erstwählerstimmen?

Ich habe vor kurzem gelesen, junge FDP-Wähler und FDP-Wählerinnen würden unsere Partei wählen, weil sie reich werden wollen. Ich finde, Ambitionen dahingehend zu haben, später einmal finanziell erfolgreich zu sein, ist völlig legitim. Besonders von der linken Seite wird eine solche Einstellung häufig verteufelt, für mich aber ist es Liberalismus, wenn jeder selbst entscheiden kann, was seine Ziele sind. Auch Ziele finanzieller Natur. Insofern kann ich mich Hoyer nur anschließen, Wohlstand für alle ist für uns ein wichtiger Aspekt.

Gibt es trotzdem ein bestimmtes soziales Milieu, das die FDP wählt? Spielt bei den jungen Leuten nicht etwa das Elternhaus eine Rolle?

Meine Mutter ist gelernte Frisörin und mein Vater LKW-Fahrer, ich glaube nicht, dass das ein „klassisches“ FDP-Elternhaus ist. Und solche wie mich gibt es viele Mitglieder in der Partei und auch Wähler der FDP, die überzeugt sind von den politischen und wirtschaftlichen Zielen. Es geht am Ende nur darum, welche Entscheidung du selbst für dich triffst und welche Ziele du anstrebst. Das ist unabhängig von deiner sozialen Herkunft.

Kennen Sie denn viele Erstwähler, die FDP gewählt haben?

Ja, auch außerhalb der Partei kenne ich viele, die als Erstwähler und Erstwählerinnen die FDP gewählt haben. Und das finde ich großartig.

Was halten sie von den möglichen Koalitionen Ampel und Jamaika? Welche wäre ihre Wunschkoalition?

Schwierig, beide haben ihre Vor- und Nachteile. Persönlich habe ich keine Präferenz, um ehrlich zu sein. Natürlich wäre eine Ampel-Koalition eher ein Plus für den gesellschaftlichen Liberalismus, insbesondere was das Wahlalter 16 oder die Legalisierung von Cannabis angeht. Eine Jamaika-Koalition wäre dagegen gut für die Stärkung des Wirtschaftsprofils der FDP. Am Ende müssen die Parteien herausfinden, wer mit wem den besten „common sense“ hat. Deshalb ist es wichtig, dass es die Vorsondierungen zwischen Grünen und FDP gibt.

Aber Grüne und FDP haben teilweise sehr konträre Ansichten.

Ja, die größte Meinungsverschiedenheit besteht darin, wie der Klimaschutz angegangen werden soll. Da setzten beide Parteien doch auf sehr verschiedene Strategien, deshalb ist es gerade da wichtig, sich auszutauschen. Außerdem soll abgewogen werden, mit welcher dritten Partei eine Koalition besser funktionieren wird.

Was sollte Ihrer Ansicht nach im Anschluss an die Regierungsbildung als erstes für die Jugend in Deutschland durchgesetzt werden?

Ich hätte gern, dass wir sofort das Wahlalter 16 einführen. Das ist aktuell nicht das wichtigste Thema, mir persönlich ist es aber wichtig.

Wie könnte die Jugend besser von der Politik erreicht werden?

Ich habe mit vielen jungen Leuten gesprochen, die alle wichtige politische Anliegen und Meinungen hatten. Die Bildungssituation vieler verzweifelter Schüler und Schülerinnen zu Hochzeiten der Pandemie hat viele nachhaltig geprägt. Sie wollen eine Lösung für solche Problemzonen in der künftigen Politik sehen. Während der Pandemie wollte die FDP bereits einen Kinder- und Jugendrat einführen, mit der Funktion eines Sprachrohrs für jüngere Menschen. Auch die Anzahl an jüngeren Mandatsträgern und -trägerinnen in der FDP nimmt zu.

Sie haben als junge Erwachsene natürlich eine besondere Nähe zu den politischen Anforderungen junger Wähler und Wählerinnen.

Ja, ich selbst habe im Jahr 2020 mein Abitur gemacht und mein Studium begonnen, die gesamte Vorbereitung auf meine Hochschulreife hat sich online zugetragen. Auch wir hatten im ersten Monat des Lockdowns keinerlei Infrastruktur und Unterstützung. Inzwischen studiere ich, befinde mich bereits im dritten Semester und war bisher zwei Mal in meinem Universitätsgebäude.

Was geben Sie jungen Leuten in Bezug auf politisches Engagement mit auf den Weg? Kann die Jugend etwas Nennenswertes zur Politik beitragen?

Auf jeden Fall. Lasst euch niemals sagen, Politik sei nur etwas für ältere Leute mit mehr Erfahrung. Das ist eine fatal falsche Aussage, denn ich finde, jeder kann so viel bewirken wie er oder sie bewirken möchte. Natürlich wird es Rückschläge geben, ihr krempelt nicht in einer Woche die Welt um, aber wenn ihr Visionen habt, „go for it“. Es tut nicht weh.

Das Interview führte Charlotte Jost.

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