Internationale Presseschau - „Der Winter der deutschen Matriarchin hat begonnen“

Seit Tagen diskutiert Deutschland über eine Große Koalition. Für die ausländische Presse scheint die aber schon ausgemacht. Die Mehrheit der Kommentatoren sieht die Macht der Kanzlerin schwinden und das Ende der Ära Merkel heraufziehen

Kommt man zusammen?/ picture alliance
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New York Times (USA):

„Wenn Schulz die SPD nicht überzeugen kann, könnten die Verhandlungen enden und damit die Stimmung politischer Ungewissheit vertiefen, die Europas größte Volkswirtschaft und zentrales Machtzentrum gepackt hat, seit Merkels Versuch, eine Dreierkonstellation mit zwei kleineren Parteien zu bilden, im November gescheitert ist.“

Guardian (Großbritannien):

„Trotz allem wird Merkels politische Macht im Jahr 2018 nicht schrumpfen. Nur sie hat die Stimmen und die Persönlichkeit, eine Regierung zu bilden. Aber es wird anstrengend werden, eine Regierung zu bilden und ihre Führungsmacht wird fragiler sein als je zuvor. Merkels Macht wird von der rechtsgerichteten Schwesterpartei  abhängen, die mehr Mitsprache in ökonomischen Fragen fordern wird und einer SPD, die wenig begeistert ist, eine weitere Runde „Merkelism“ zu unterstützen, um einen Tisch am Kabinettstisch zu bekommen. (…) Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass Theresa May länger im Amt bleiben könnte als Merkel. Eine Aufgabe für Deutschlands Langzeit-Anführerin wird es sein, sich genauer zu überlegen, wofür ihre Kanzlerschaft stehen soll: zu Hause, aber auch auf europäischer Bühne.

Deutsche Politik wird nicht länger dominiert von einschläfernden Reden und einem gleichgültigen Parlament – die neuen Entwicklungen stehen für eine fragmentiertere Gesellschaft und eine Wählerschaft, die entschiedener auftritt. Merkel wird sich der neuen deutschen Realität entweder anpassen müssen oder den Weg frei machen für eine „post-Mutti era“.“
 

Neue Zürcher Zeitung (Schweiz):

„Bequeme Lösungen für die Sozialdemokraten gibt es zurzeit nicht. Mit der Union geht die SPD eine Verbindung ein, die ihr erfahrungsgemäss bei den Wählern schadet. 1998 erreichten die Sozialdemokraten bei der Bundestagswahl 40,9 Prozent. 2017 waren es noch 20,5 Prozent. Die Erosion der Wählerbasis ist massiv, und sie hat sich beschleunigt, seit Merkel als Bundeskanzlerin am Werk ist.“

El Pais (Spanien):

„Mit dieser Vereinbarung (den Sondierungsergebnissen) hat Merkel einmal mehr ihre Fähigkeit unter Beweis gestellt, hart zu bleiben und bis in den frühen Morgen zu verhandeln. Damit hat sich die Kanzlerin ein viertes Mal das Mandat an der Spitze Deutschlands gesichert, während sich die Kritik an ihrer Führung verschärft. (…) Die Kanzlerin hat die Idee einer neuen Großen Koalition mit den Sozialdemokraten wiederbelebt, mit der sie Deutschland in acht der letzten zwölf Jahre regierte. Ein zweiter Fehlschlag wäre für die politische Zukunft der bis heute ewigen Bundeskanzlerin vielleicht tödlich gewesen.“

Der Standard (Österreich):

„Anders als bei den Jamaika-Verhandlungen zwischen Union, FDP und Grünen waren die Sondierer diesmal äußerst schnell, hatten offenbar intern wenige Querelen und legten dann auch noch ein Ergebnis vor. Getrieben hat sie nicht die Lust auf weitere gemeinsame schwarz-rote Jahre am Kabinettstisch, sondern die Angst vor Neuwahlen. Niemand hätte sich im Fall eines Scheiterns ausmalen mögen, wie stark die AfD bei neuen Bundestagswahlen hätte werden können – bloß mit dem Hinweis, wie unfähig die Altparteien doch seien. Es wäre schwierig gewesen, dem zu widersprechen.“

Die Presse (Österreich):

„Von einer solchen Zwangsehe Aufbruchstimmung zu erwarten, wäre fast unfair. Alle drei Parteichefs tragen ein Ablaufdatum auf ihrer Stirn. CSU-Chef Horst Seehofer musste bereits die halbe Macht abgeben: Markus Söder verdrängt ihn demnächst als Bayerns Ministerpräsident. Martin Schulz bleibt nur deshalb, weil sich auf die Schnelle kein Besserer gefunden hat. Und auch CDU-Kanzlerin Merkel musste sich schon während der Sondierungsgespräche öffentliche Erörterungen über die einsetzende Abenddämmerung ihrer Ära anhören. (...) Der Winter der deutschen Matriarchin hat begonnen."

Libération (Frankreich):

„Die GroKo-Vereinbarung wirft eins der deutschen Tabus über Bord, das zugegebenermaßen schon stark ins Wanken geraten ist: das der Ablehnung jeder finanziellen Solidarität innerhalb der Eurozone. So hat es die SPD geschafft, ihre zurückhaltenden Partner dazu zu drängen, sich dem Vorschlag von Macron zur Schaffung eines Eurozonen-Haushalts anzuschließen. (...) Auch wenn der Teufel in den Details steckt, scheint die Übereinstimmung zwischen den beiden Seiten des Rheins daher groß, was eine echte Belebung des europäischen Projekts ermöglichen dürfte.“

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