Debatte um Corona-Impfung - Alte und Schwache zuerst!

In den Alten- und Pflegeheimen haben die Corona-Impfungen begonnen. Das hat die ethische Frage aufgeworfen, ob Menschen Vorrang haben sollen, die ohnehin nicht mehr lange leben. Eine Gesellschaft, die in ihrer Mitte noch von Zweifeln geplagt wird, sollte sich diese Fragen gefallen lassen.

Die 91-jährige Lieselotte Ziegler vor der Corona-Impfung / dpa
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Autoreninfo

Ralf Hanselle ist stellvertretender Chefredakteur von Cicero. Im Verlag zu Klampen erschien von ihm zuletzt das Buch „Homo digitalis. Obdachlose im Cyberspace“.

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Jede Rettung folgt ihren eigenen Regeln. Als am 25. Februar 1852 die H.M.S. Birkenhead, ein britischer Raddampfer, der Truppen von Südirland nach Kapstadt transportieren sollte, mit einer Geschwindigkeit von acht Knoten einen Felsvorsprung drei Meilen vor der südafrikanischen Küste rammte, da wurde in den verbleibenden 25 Minuten bis zum vollständigen Untergang eine Order geboren, die seither jeden besseren Katastrophenfilm schmückt: Es ist der sogenannte „Birkenhead Drill“. Er rettete in dieser sternklaren Nacht am Kap der Guten Hoffnung das Leben von sieben Frauen und dreizehn Kindern, während 441 Männer in den Fluten ertranken. 

„To stand and be still / to the Birken’ead Drill / is a damn tough bullet to chew“, dichtete noch Jahre später der englische Schriftsteller Rudyard Kipling über eine Order, die besonders dem männlichen Teil der Bevölkerung eine Menge abverlangt hatte, ließ sie sich doch auf die kurze Formel „Frauen und Kinder zuerst!“ bringen. In der Theorie sollte diese Priorisierung das natürliche Recht des Stärkeren durch einen karitativen Impuls ersetzen, denn andernfalls wäre man auf Hoher See wirklich und ausschließlich in Gottes Hand gewesen. Praktisch indes blieb die Realität auch nach dem „Birkenhead Drill" die gleiche: Eine Untersuchung der Universität Uppsala aus dem Jahr 2019 brachte zutage, dass von 18 untersuchten Schiffsunglücken nur sieben identifiziert werden konnten, bei denen tatsächlich proportional mehr Frauen und Kinder denn Männer überleben konnten.

Der umgedrehte Grundsatz

Doch was zählte, war zunächst einzig die hehre Absicht, und die folgte bei Captain Salmond, dem Oberbefehlshaber der Birkenhead, zwei Grundannahmen: Zum einen der, dass Frauen und Kinder in Notsituationen die Unterlegeneren und Schwächeren seien, zum anderen dass man, wenn man sich schon in derart nassen und archaischen Gefilden befände, den Fortbestand der eigenen Art sichern müsse. Der „Birkenhead Drill“ umfasste so gesehen eine Wette auf eine bessere Zukunft.

Und genau hier beginnt die Differenz zwischen Gestern und Heute: Denn mit der aktuellen Corona-Pandemie befinden wir uns erneut in einer Notsituation, und abermals bedarf es einer klugen Priorisierung. Fehlten damals ausreichend Rettungsboote, so sind es heuer die rettenden Impfungen. Doch damit endet auch schon die Parallele. Denn die vor Wochen von Bundesgesundheitsminister Jens Spahn (CDU) auf Grundlage von epidemiologischen und ethischen Kriterien vorgestellte „Nationale Impfstrategie COVID-19“ hat es nicht so mit der Christlichen Seefahrt. Im Gegenteil: Partiell stellt sie die Ethik von Captain Salmond vom Kopf auf die Füße. 

Die Alten haben ein erhöhtes Sterberisiko

Zwar folgt auch die jetzt begonnene Impfkampagne gegen COVID-19 in ihren Leitlinien dem Gedanken, besonders Schutzbedürftigen in der aktuellen Notsituation den Vortritt zu lassen, doch sind es diesmal eben nicht die Jungen und Zukunftszugewandten, die als erste geschützt werden sollen; der Notruf der Bundesregierung legt das Boot eher von hinten trocken: „Alte und Schwache zuerst!“ 

In der Logik des aktuellen Infektionsgeschehens ergibt diese besondere Form der Triagierung, also der Priorisierung medizinischer Hilfeleistung bei unzureichenden Ressourcen, durchaus Sinn. Denn es sind natürlich die Alten und Pflegebedürftigen, die, sind sie erst einmal mit dem Corona-Virus infiziert, ein erhöhtes Risiko tragen, einen schweren oder gar tödlichen Verlauf einer dann möglichen COVID-19-Erkrankung zu erleiden. 

Keine Übersterblichkeit

Auch stellen die vor 1940 Geborenen derzeit die einzige Gruppe dar, bei der man im Jahresrückblick wohl eine geringe statistische Übersterblichkeit diagnostizieren muss. So wies etwa Göran Kauermann, Professor für Statistik an der LMU München, jüngst gegenüber dem Bayrischen Rundfunk darauf hin, dass es in der Gruppe der 35-59Jährigen 2020 eine Untersterblichkeit gegeben habe, bei den 60-79Jährigen alles im „grünen Bereich“ geblieben sei und lediglich in der Gruppe der über 80Jährigen – immerhin 6,8 Prozent der deutschen Bevölkerung – eine leicht erhöhte Übersterblichkeit zu bemerken sei (Stand 17.12.2020).

Diese Zahlen waren erwartbar. Schon im Sommer deuteten immer mehr Studien darauf hin, dass der Altersmedian der COVID-Verstorbenen bei 82 Jahren liegt, also ziemlich genau ein Jahr oberhalb der Durchschnittslebenserwartung in Deutschland. Die beträgt derzeit laut Statistischem Bundesamt 78,6 Jahre bei Männern und 83,4 Jahre bei Frauen. An den Grundkoordinaten hat sich also trotz Corona nichts geändert. Das Dasein der Deutschen entfaltete sich auch im Jahr 2020 vor einem geradewegs biblischen Zeithorizont: Unser Leben währet siebzig Jahre, und wenn’s hoch kommt, so sind’s achtzig. 

Der Einzelfall

Doch kein Leben passt in eine Statistik. Und so ist es noch nicht Ausdruck eines Methusalem-Komplotts, wenn das erhöhte Corona-Sterberisiko in der Gruppe der über 80jährigen nun dazu geführt hat, dass die ersten Impfteams genau an diesen neuralgischen Punkt der Pandemie begonnen haben. Die erste Frau etwa, die in Deutschland immunisiert worden ist, war eine 101-jährige Bewohnerin eines Seniorenheims in Halberstadt. Verdächtig wird es erst, wenn die Maximen hinter einer solchen Schutzstrategie nicht kritisch und offen hinterfragt werden können.

Die Bild am Sonntag etwa, die gestern mit der Schlagzeile „Nur 150.000 Dosen bei uns angekommen, aber Edith (101) als erste Deutsche geimpft“ aufmachte, erntete einen Sturm der Entrüstung. Ebenso erging es Olaf Gersemann, Leiter des Ressorts Wirtschaft bei der Tageszeitung Die Welt: Nachdem der nämlich am Tag des offiziellen Impfbeginns auf Twitter die Frage gestellt hatte, ob man bei der aktuellen Impfstrategie nicht zunächst die erwartbare Zahl der geretteten Lebensjahre maximieren solle, anstatt Menschen weit jenseits der durchschnittlichen Lebenserwartung zu impfen, stieß er auf breite Ablehnung: Eine solche Frage sei zynisch, so die Meinung vieler Kommentatoren unter Gersemanns Tweet.

Impfung im Toten Winkel der Gesellschaft

Ist es also bereits intrinsisch gut und somit von der deontologischen Theorie geboten, wenn man jene schützt, die dem Lebensende zumindest rein statistisch gesehen am nächsten sind? Oder besteht nicht vielleicht der eigentliche Zynismus darin, dass die Politik und ihre Berater beschlossen haben, jene an vorderster Front impfen zu lassen, die die Folgen dieser Maßnahme aufgrund von Krankheit, Demenz und emotionaler Vernachlässigung oft nur noch schwer überschauen und die ihren eigenen Willen zuweilen nur eingeschränkt formulieren können? 

Alte und Schwache zuerst! Diese Umkehrung des „Birkenhead Drills“ ist in der aktuellen Lage vermutlich medizinisch geboten. Und dennoch – oder vielleicht gerade deshalb -  sollte man sich bewusst darüber sein, dass die Impfkampagne exakt an jenen Toten Winkeln der Gesellschaft beginnt, wo seit Jahren kaum eine Fernsehkamera mal vorbeigeschaut hat und wo das Pflegepersonal aufgrund von Sparmaßnahmen und psychischer Überlastung an einem schier unerträglichen Limit arbeitet.

Exakt jenes Pflegepersonal übrigens, das sich laut einer im Deutschen Ärzteblatt veröffentlichten Umfrage lediglich zu 50 Prozent selbst impfen lassen würde. Das zumindest wirft Fragen auf. Fragen, die gestellt werden müssen. Andernfalls wäre die Rettung der Birkenhead am Ende vielleicht geordneter abgelaufen als die Rettung des deutschen Gesundheitssystems samt der Corona-Risikogruppen.

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