Pro und contra Impfpflicht - Pro: Ich zuerst, nach mir die Sintflut

Weil die Zahl der Corona-Infizierten dramatisch steigt und die Quote der Geimpften stagniert, werden in der Politik die Rufe nach einer Impfpflicht für alle lauter. Es ist der einzige Weg aus der Corona-Krise, schreibt Antje Hildebrandt.

Ein Pieks allein reicht nicht: Die Politik hat die Geimpfte in falscher Sicherheit gewogen / dpa
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Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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„Was hat Impfen eigentlich gebracht?“, titelte die Bild neulich – und lieferte die Antwort gleich mit: „45 Prozent der über 60-Jährigen im Krankenhaus sind ungeimpft.“ Die Botschaft der Boulevardzeitung war unmissverständlich Ob man sich impfen lässt, oder in China fällt ein Sack Reis um, das macht keinen Unterschied. Am Ende landet man doch auf der Intensivstation. Sterben müssen wir schließlich alle. 

Die Logik, die sich da offenbart, ist erschreckend. Wer sich impfen lasse, tue sich selbst und der Gesellschaft keinen Gefallen. Die Bild spielt damit auf einen Kontroverse an, die gerade hohe Wellen schlägt. Die Zahl der Inzidenzen steigt steil an. Auf den Intensivstationen ist die Zahl der belegten Betten jetzt schon fast genauso hoch wie in der zweiten Welle, als es noch keine Impfung gab. In Berlin sind aktuell nur noch 91 Betten frei. Reicht es, dass sich die 70 Prozent der Bürger, die bereits doppelt geimpft sind, boostern lassen? Ist es genug, dass der Staat versucht, das hochgradig ansteckende Delta-Virus mit 2G- oder 3G-Regelungen einzudämmen? Oder muss die Regierung doch noch eine Impfpflicht einführen – und wenn ja, nur für bestimmte Berufsgruppen oder für alle? 

Ungeimpfte als Sündenböcke 

Die Bild hat diese Frage bereits beantwortet. Sie findet, die Politik suche einen Blitzableiter für den Unmut über die Corona-Maßnahmen. Einen Sündenbock, den sie für die Wiedereinführung des Homeoffices und andere Einschränkungen der Freiheitsrechte verantwortlich machen kann. Die Zeitung macht sich zum Sprachrohr der Ungeimpften. In Deutschland sind das nach einer neuen Forsa-Studie 18 Millionen Bundesbürger. Ihr Anteil an der Bevölkerung ist so hoch wie in kaum einem anderen europäischem Land. 

Daraus zu schließen, diese Menschen seien Schuld daran, dass die Vierte Welle jetzt mit voller Wucht auf die Intensivstationen zurollt, ist falsch. Von einer Pandemie oder gar einer „Tyrannei“ der Ungeimpften kann keine Rede sein. Die Impfstoffe, die jetzt im Umlauf sind, garantieren keinen dauerhaften Schutz mehr gegen das Delta-Virus. 

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Der Vorteil der Impfung 

Viele Geimpfte  – und dazu zählt die Autorin dieses Kommentars auch sich selbst – haben das zu spät erkannt. Die Politik hatte ihnen suggeriert, mit dem Pieks bekämen sie ihre Freiheit zurück, sie könnten sich die Schnelltests eigentlich sparen.

Das war falsch. Besonders gefährdete Menschen ab 60 Jahren haben zwar eine zehnmal höhere Chance, nicht wegen Covid-19 ins Krankenhaus zu müssen. Umgekehrt bedeutet das aber, dass von 100 Leuten, die ohne Impfung im Krankenhaus gelandet wären, jetzt trotzdem noch zehn auf die Intensivstation müssen. 

Die Motive der Ungeimpften 

Die Regierung hat mit einer Politik der Falschinformation also selbst dazu beigetragen, dass die Inzidenzen jetzt sogar noch höher als vor einem Jahr sind, als noch keiner geimpft war. Daran sind aber auch die Ungeimpften Schuld. Im Robert-Koch-Institut heißt es, eine Herdenimmunität könne man nur herstellen, wenn 85 Prozent der Bevölkerung geimpft sind. Die Zahl der Impfungen aber hält nicht mit der Verbreitung des Virus Schritt. Und schaut man sich die Motive der Impfgegner an, besteht kein Grund zur Hoffnung, dass sich daran in absehbarer Zeit etwas ändern könnte. 

Nach einer Umfrage des Bundesgesundheitsministeriums unter 3.000 Menschen wollen sich neun von zehn Nichtgeimpften auch in den kommenden acht Wochen nicht gegen das Corona-Virus impfen lassen. 89 Prozent von ihnen sagten es habe keinerlei Einfluss auf die eigene Impfbereitschaft, sollten die Intensivstationen an ihre Kapazitätgrenzen stoßen. 

Es geht um Leben und Tod 

Diese Zahlen sind alarmierend. Und sie lassen eigentlich nur einen Schluss zu: Wenn die Ungeimpften sich nicht freiwillig impfen lassen, führt an einer Impfpflicht kein Weg mehr vorbei. Zwar ist eine Skepsis gegenüber neuen Impfstoffen grundsätzlich angebracht. Es gibt Risikogruppen wie Krebskranke, bei denen sich eine Impfung nicht in jedem Fall empfiehlt. Aber die Sorge vor eventuellen Nebenwirkungen spielen nur für 18 Prozent und Zweifel an der Sicherheit der Impfstoffe nur für 15 Prozent der Nichtgeimpften eine Rolle. 69 Prozent von ihnen gaben an, Corona sei nur ein Vorwand für staatliche Kontrolle. 80 Prozent halten die Grundrechtseingriffe für schwerwiegender als die Gefahr durch das Virus. 84 Prozent klagten, der Druck, sich impfen zu lassen, sei zu groß. 

Dabei geht es um Leben und Tod. Bis heute sind hierzulande fast 100.000 Menschen an dem Virus gestorben. Wer in einer solchen Situation immer noch auf seinem Recht auf körperliche Unversehrtheit besteht, muss sich den Vorwurf gefallen lassen, er sei asozial: Ich zuerst, nach mir die Sintflut! Schließlich gefährdet er mit seinem Impfboykott nicht nur sich selbst, sondern auch andere. Sein Risiko, sich und andere anzustecken und am Ende künstlich beatmet werden zu müssen, ist wesentlich höher als das eines Nichtgeimpften. 

Das Risiko eines Lockdowns 

Er nimmt in Kauf, dass andere Notfälle wie Krebs- oder Herzinfarktpatienten nicht operiert werden können, weil das Bett für seine Behandlung benötigt wird. Er riskiert, dass Deutschland auf einen neuen Lockdown zusteuert – mit all seinen Folgen. Denn das wäre die einzige Alternative zu einer Impfpflicht. Die Politik müsste das öffentliche Leben wieder herunterfahren. Die Mehrheit müsste darunter leiden, dass eine Minderheit auf ihrem Recht auf körperliche Unversehrtheit beharrt. Eine Kosten-Nutzen-Rechnung, die nicht aufgehen kann. Der wirtschaftliche Schaden wäre unermesslich – ganz zu schweigen vor den psychischen Folgen für Jugendliche und Kinder. 

Kein Wunder also, dass die Politik umdenkt. Lange war sie davon ausgegangen, dass ein Impfstoff-Angebot reicht, um aus der Coronakrise wieder herauszukommen. Sie hat diese Rechnung ohne die Impfgegner gemacht. Jetzt reift die Einsicht, dass an einer Impfpflicht kein Weg mehr vorbeiführt. Während die Ampelkoalition noch über eine Impfpflicht für bestimmte Berufsgruppen nachdenkt, gehen einige Ministerpräsidenten schon einen Schritt weiter. Nach Daniel Günther (Schleswig-Holstein) haben sich auch Markus Söder (Bayern) und Winfried Kretschmann (Baden-Württemberg) für eine Impfpflicht für alle ausgesprochen. 

Das Scheitern des Gesundheitsministers 

Und das ist gut so. Die eigene Freiheit endet schließlich da, wo die Freiheit der anderen anfängt. Die Regierung darf sich nicht von den  Impfgegnern  vorführen lassen – mit dem Ergebnis, dass sich am Ende auch noch die geimpfte Mehrheit verraten fühlt und sich aus der Solidargemeinschaft verabschiedet.

Das Thema birgt sozialen Sprengstoff. Wohl deshalb hat sich die Politik bislang davor gedrückt, auch nur laut über eine Impfpflicht nachzudenken. Stattdessen hat sie den Druck auf die Ungeimpften sukzessive erhöht. 2 G-Regelungen schließen Ungeimpfte schon heute vom gesellschaftlichen Leben aus. Die private Krankenkasse R + V Versicherung erwägt sogar, höhere Beiträge für Ungeimpfte zu verlangen, weil ein künstlich beatmeter Covid-Patient durchschnittlich 34.200 Euro pro Tag kostet und das Risiko eines schweren Verlaufs für Ungeimpfte noch höher ist. Die Impfpflicht durch die Hintertür, es gibt sie längst. Wäre es da nicht ehrlicher, sie auch gesetzlich zu verankern? 

Wenn der noch amtierende Gesundheitsminister Jens Spahn jetzt sagt, eine Impfpflicht käme viel zu spät, dann gesteht er damit sein eigenes politisches Versagen ein. Schon im Sommer wusste die Politik, dass Deutschland auf eine vierte Welle zusteuert. Spahn hätte also genug Zeit gehabt, Vorkehrungen zu treffen. Jetzt ist es dafür tatsächlich schon sehr spät. Aber was wäre die Alternative? Wenn die Bild suggeriert, impfen bringe nichts, ist das populistisch. Ein Kniefall vor den Impfgegnern und Regierungskritikern. Ein Gesundheitsminister aber sollte mit solchen Sätzen vorsichtig sein.

Er suggeriert damit, dass auch die Regierung vor dem tödllichen Virus kapituliert hat. Und er verspielt damit den letzten Rest Vertrauen in die Demokratie. 

Zum Contra-Artikel von Ingo Way geht es hier.

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