Impfpflicht auf Vorrat - „Wir haben unser Gefühl für Freiheit verloren“

Angesichts des fehlenden Fremdschutzes erkennt der Rechts- und Politikwissenschaftler Volker Boehme-Neßler in der Einführung einer Impfpflicht nichts Geringeres als einen Angriff auf die Menschenwürde. Der 59-Jährige warnt bereits seit der Debatte um einen Immunitätsausweis davor, Freiheit für Sicherheit aufs Spiel zu setzen. Im Interview erklärt Boehme-Neßler, warum Deutschland mit Grundrechtsbeschränkungen auf Vorrat, wie sie etwa von der Union zuletzt gefordert wurden, vollends den Boden der Verfassung zu verlassen droht.

„Ein kleiner Piks“ kann sehr wohl ein Angriff auf die Menschenwürde sein / dpa
Anzeige

Autoreninfo

Philipp Fess hat Literatur-, Kunst- und Medienwissenschaften studiert und arbeitet als Journalist in Karlsruhe.

So erreichen Sie Philipp Fess:

Anzeige

Volker Boehme-Neßler ist Professor für Öffentliches Recht, Medien- und Telekommunikationsrecht an der Carl von Ossietzky Universität Oldenburg.

Herr Boehme-Neßler, Sie haben schon früh nicht davor zurückgescheut, in der Debatte um gesundheitspolitische Freiheitsbeschränkungen klar Position zu beziehen. Sie haben immer wieder den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit angemahnt und vor zu weitreichenden Einschnitten gewarnt. Den Immunitätsnachweis – die, in Ihren Worten „Freiheit als Ausnahme für Gesunde“ – nannten Sie inhuman und verfassungswidrig. Obwohl man mit solchen Statements heute schnell ins Kreuzfeuer der Kritik gerät, haben Sie sich in die Arena gestürzt. Warum?

Ich bin ein freiheitsliebender Demokrat und Wissenschaftler. Es ist mein Job, Dinge zu hinterfragen. Am Anfang wussten wir nicht, wie gefährlich das Ganze wird. Der erste Lockdown war ein Schock, da hatten viele aber das Gefühl, wir befinden uns im Notstand, da ist eben alles anders. Im Herbst 2020 gab es dann wieder Einschränkungen der Freiheits- und Grundrechte – und zwar solche, die es in der Bundesrepublik weder in der Tiefe noch in der Breite jemals gegeben hat. Und da habe ich mir zum ersten Mal die Frage gestellt: Ist das wirklich noch in Ordnung? Außerdem hatte ich immer mehr das Gefühl, dass die Politik nicht mehr von der Wissenschaft gesteuert ist, sondern von Angst. Und Angst, auch wenn das abgedroschen klingt, ist ein schlechter Ratgeber. Jeder Psychologe würde Ihnen sagen, dass Sie mit Angst nicht mehr klar denken können.

Wo ziehen Sie den Trennstrich zwischen berechtigter Sorge und irrationaler Angst?

Schauen Sie, mein Forschungsgebiet liegt an der Schnittstelle zwischen Bildern und Recht. Während sich die Rechtswissenschaften um möglichst präzise Aussagen bemühen und in dem Sinne eher „bilderfeindlich“ sind, orientiert sich die Welt an der medial vermittelten Realität. In der Corona-Krise sind es die berüchtigten Bilder aus Bergamo gewesen, die den Ton in der politischen Debatte gesetzt haben. Jetzt, wo wieder über die Impfpflicht debattiert wird, werden diese Bilder wieder heraufbeschworen. Nach dem Motto: Wenn wir jetzt nicht die Notstandsregeln beibehalten, droht das nächste Bergamo. Es geht dabei um die dramatische Lage, die diese Bilder suggerieren, nicht um den zwar besorgniserregenden, aber weniger dramatischen Kontext, in dem sie eigentlich aufgenommen wurden. 

 

Weitere Beiträge zum Thema Impfpflicht:

 

Die Argumentation für Freiheitsbeschränkungen war allerdings immer die folgende: Kein Recht gilt uneingeschränkt, und gerade in besonderen (Not-)Situationen muss man auf das eine zugunsten des anderen verzichten.

Das ist auch richtig. Natürlich kann es keine absoluten Freiheiten geben, deshalb können in Notsituationen Einschränkungen durchaus gerechtfertigt sein. Aber nur dann, und nur zeitlich beschränkt. Selbst im Notstand müssen die Grundsätze der Verfassung gewahrt werden. Wissen Sie, ich bin ein großer Fan unseres Grundgesetzes. Der wichtigste Satz im deutschen Recht ist der von der unantastbaren Würde des Menschen. Der ist das Ergebnis eines jahrhundertelangen Kampfes, und nicht zuletzt eine Reaktion auf die Verbrechen im Nationalsozialismus. Alle anderen Gesetze dienen quasi dazu, dieses oberste Prinzip abzusichern. Deshalb dürfen wir die Freiheit nicht beschränken, wenn es nicht absolut notwendig und verhältnismäßig ist. 

Am 25. Januar haben Sie ein Rechtsgutachten erstellt, das die Impfpflicht unmissverständlich als verfassungswidrig einstuft.

Genau, im Auftrag der Ärzte für individuelle Impfentscheidung (ÄFI).

Warum ist die Impfpflicht verfassungswidrig? Die Dauerschleife Lockdown-Lockerung-Lockdown haben wir doch nur den Ungeimpften zu verdanken, die die übrige Bevölkerung in „Geiselhaft“ nehmen. Zumindest hat Karl Lauterbach das in der Bundestagsdebatte so gesagt. 

Volker Boehme-Neßler

Was Lauterbach gesagt hat, ist sachlich falsch – und böse. Die Ungeimpften waren seit Beginn der Debatte ein Sündenbock. Schon für sich genommen ist das eine bedenkliche Entwicklung im Umgang mit gesellschaftlichen Minderheiten, ein erschreckend altertümliches Prinzip. Die Behauptung, dass alle Menschen geimpft sein müssen, damit die Pandemie vorbei ist, hat sich im Laufe der Zeit auf wechselnde Argumente gestützt. Das gewichtigste war, andere vor einer Infektion zu schützen. Seit allerdings klar ist, dass wir mit den neuen Impfstoffen keine sterile Immunität erreichen und Geimpfte immer noch ansteckend sein können, ist das Argument hinfällig. Sie werden zu Omikron keine einzige Studie finden, die einen Fremdschutz durch die Impfung belegt. Der lässt sich am Ende nur durch Tests sicherstellen. Gute Tests, wie sie das Paul-Ehrlich-Institut ja auch fortlaufend untersucht.   

Trotzdem wurde zuletzt im Bundestag noch vielfach mit Herdenimmunität und Fremdschutz für die Impfpflicht argumentiert.

Die mehr als 230 Abgeordneten um [den gesundheitspolitischen Sprecher der Grünen] Janosch Dahmen, die den Antrag zur Impfpflicht unterzeichnet haben, zitieren ja sogar wissenschaftliche Studien heran, um die angeblich niedrige Ansteckungsgefahr und den hohen Fremdschutz durch die Impfung zu belegen. Das Problem ist: Spätestens seit Omikron ist es schlicht und ergreifend falsch, Impfung und Impfpflicht mit Herdenimmunität und Fremdschutz in Verbindung zu bringen. Die Studien, die dort zitiert werden, belegen die Behauptungen gar nicht.

In ihrem Gutachten für die ÄFI schreiben Sie, die Impfpflicht verstoße sogar gegen die Menschenwürde. Wie meinen Sie das?

Wenn der Fremdschutz kein Argument mehr ist, kann es bei der Impfung nur noch um Eigenschutz gehen. Menschen zum Eigenschutz zu zwingen, ist aber verfassungsrechtlich schlichtweg nicht erlaubt. Wir haben auch das Recht, ungesund zu leben. Wenn wir einen paternalistischen Staat zulassen würden, der seinen Bürgern das verbietet, hätten wir eine andere Gesellschaft. Zuerst wären die Übergewichtigen, die Raucher und die Risikosportler dran, dann würden die Statistiker weitere Risikogruppen identifizieren. Am Ende haben wir eine Diktatur der Mehrheit, die von Ihnen verlangt, dass Sie entweder aufhören zu rauchen oder Ihre medizinische Behandlung selbst zahlen.

Der Humangenetiker Wolfram Henn, Mitglied des Ethikrats und stellvertretender Vorsitzender der Zentralen Ethikkommission, hat ja schon 2020 gefordert, dass Ungeimpfte auf eine Intensivbehandlung verzichten sollten.

Ja, diese Ideen liegen erschreckenderweise offenbar nur ganz knapp unter der Oberfläche. Der Firnis der Zivilisation ist dünn. Früher hätte ich gesagt, kein Verfassungsrechtler würde solche Ideen mittragen. Nach den letzten zwei Jahren bin ich mir nicht mehr so sicher. Wir denken immer noch, „ein kleiner Piks“ kann kein Angriff auf die Menschenwürde sein. Aber es ist eben nicht nur ein kleiner Piks.

Sondern?

Die Impfung, zumindest diejenige mit den neuartigen Impfstoffen, ist eine höchst intime Entscheidung, eine persönliche Risikoabwägung, die auf der Grundlage von ganz viel Unsicherheit basiert. Wir wissen einfach zu wenig. Über die Wirkungen, über die Nebenwirkungen, und teilweise auch über das Virus. Ich persönlich zum Beispiel hatte mehr Angst vor dem Virus als vor der Impfung. Mittlerweile bin ich dreimal geimpft. Nach der zweiten Impfung hatte ich eine Lungenembolie, und im Januar bin ich – ich würde sagen mittelschwer – an Corona erkrankt. Ob man sich auf das Abenteuer Impfung oder das Abenteuer Krankheit einlässt, ist eine hochsensible Entscheidung, die privat bleiben muss. Wenn die Regierung sie für uns trifft, macht sie ihre Bürger zum Objekt staatlicher Entscheidung und Kontrolle. Genau das verbietet aber unser oberstes Prinzip, und das ist eben die Menschenwürde, nicht die Gesundheit. 

Neben der Herdenimmunität wurden allerdings auch die Überlastung der Krankenhäuser und zuletzt die Aufrechterhaltung der kritischen Infrastruktur als Argumente für eine Impfpflicht angeführt.

Das waren die Argumente für den Notstand. In dem befinden wir uns spätestens seit Omikron aber nicht mehr. Omikron hat weder eine Überlastung der Intensivstationen noch eine Gefährdung der kritischen Infrastruktur ausgelöst.

Die Unionsfraktion scheint mit ihrer Impfpflicht auf Vorrat einen Zwischenweg einschlagen zu wollen. Was halten Sie von dieser Variante, die Geschütze – also Infrastruktur, Impfregister und Bußgelder – schon einmal in Stellung zu bringen und dann (nur) im Notfall scharf zu stellen?

Es ist ein Trick. Der Antrag folgt dem Gedanken: „Jetzt schaffen wir schon mal die Voraussetzungen dafür, Freiheiten schnell einzuschränken, wenn es uns passt.“ Das ist genau das, was das Grundgesetz nicht erlaubt. Es sieht nicht vor, dass Freiheiten leichtfertig eingeschränkt werden können. Maßnahmen können nicht abseits vom akuten Notstand getroffen werden. Genau das versucht man aber hiermit.

In diesem Sinne erinnert die Impfpflicht auf Vorrat ein bisschen an die Vorratsdatenspeicherung.

Historisch gesehen ist das kein Zufall. Es ist der ganz alte Widerspruch zwischen Freiheit und Sicherheit. Besonders nach dem 11. September haben wir Freiheitseinschränkungen für mehr Sicherheit akzeptiert. Je mehr Sicherheit die Menschen wollen, auf desto mehr Freiheit müssen sie verzichten. Das Paradebeispiel ist die Kriminalität: Die absolute Sicherheit vor Kriminalität haben sie nur in der Diktatur oder im autoritären Staat. Das extrem hohe Sicherheitsbedürfnis in Deutschland rührt auch daher, dass sich die Bevölkerung gefühlt seit mehr als 16 Jahren im Krisenmodus befindet. Angela Merkel war Kanzlerin der Finanzkrise, der Euro-Krise, der Flüchtlingskrise. Wir haben uns an den Notstand gewöhnt und dabei unser Gefühl für Freiheit verloren.

Karl Lauterbach sagt, der Ausnahmezustand wird jetzt die Normalität sein.

Das ist ein wahnwitziges Denken, das überhaupt nicht dem Grundgesetz entspricht. Das ist die Perversion dieses Gedankens, an den wir uns gewöhnt haben: dass der Notstand der Normalzustand ist. Krisen sind normal, aber der Notstand nicht. In der Ukraine ist jetzt Notstand, aber nicht bei uns. 

Ob Notstand oder nicht: Müssen Maßnahmen nicht zuerst gut begründet werden, bevor sie durchgesetzt werden können? Und gilt hier nicht wie in anderen Rechtsbereichen auch der Grundsatz des milderen Mittels?

Doch, der gilt. Aber leider gibt es nur die Einschränkung auf Vorrat, aber nicht die Prüfung auf Vorrat. Die kann bei uns immer erst im Nachhinein stattfinden.

Durch die Gerichte.

Ja. Nur leider hat unser System der Checks and Balances während der Corona-Krise nicht funktioniert. Das Bundesverfassungsgericht hat letztendlich alles kritiklos akzeptiert, was die Regierung beschlossen hat. Nicht nur das, es hat sogar verfehlt, im Sinne einer psychologischen Vorwirkung verfassungsrechtliche rote Linien aufzuzeigen, die künftig keinesfalls überschritten werden dürfen.

Die unteren Instanzen waren da offensichtlich sogar etwas kritischer.

Ja, ein paar Oberverwaltungsgerichte haben sich getraut, eigenständig die Verhältnismäßigkeit gewisser Maßnahmen unter die Lupe zu nehmen, zum Beispiel das OVG Lüneburg bei der Ausgangssperre in Hannover. Von solchen wenigen Ausnahmen abgesehen, haben sich die meisten Kollegen jedoch zurückgehalten. Die einen waren zu brav, die anderen zu staatsgläubig. Beim Bundesverfassungsgericht spreche ich ganz klar von Befangenheit. Ich meine, wenn die Judikative die Exekutive beim gemeinsamen Abendessen bittet, zu einem Thema vorzutragen, das so empfindlich ein laufendes Verfahren berührt, ist das Grundprinzip der Gewaltenteilung missachtet.

Als Medienrechtler setzen Sie sich auch mit dem Verhältnis der Demokratie zur Digitalisierung auseinander. Spahns Immunitätsausweis hat sich mittlerweile in anderer Form doch durchgesetzt. In Österreich hat ein Ministerialentwurf für Wirbel gesorgt, der plante, den Impfstatus unter anderem mit Daten zu Einkommen, Erwerbsleben und Arbeitslosigkeiten zu verknüpfen. Halten Sie eine solche Verknüpfung von digitalen Daten für gefährlich? Auf Ihrem Buch, in dem Sie sich mit den Herausforderungen der Digitalisierung für das moderne Staatswesen auseinandersetzen, steht immerhin „Ende der Demokratie“ im Titel.

Ja, aber mit Fragezeichen, darauf bestehe ich (lacht)! Das Buch hat tatsächlich eher einen optimistischen Unterton, ich zeige aber die Gefahren auf. Die Verknüpfung von Daten zählt auf jeden Fall dazu. Im Zeitalter von Big Data gibt es keine irrelevanten Daten mehr. Und natürlich, wenn das mit der Grundeinstellung verknüpft ist, dass jeder gesund leben soll und das entsprechend dokumentiert wird, wächst die Gefahr von Eingriffen in die Freiheit. Eine Verknüpfung von Gesundheitsdaten mit anderen persönlichen Daten auf Vorrat, wie die in Österreich, war natürlich aus datenschutz- und verfassungsrechtlicher Sicht absolut falsch. Aber auf solche Ideen kommt man eben mit diesem Notstandsdenken, wenn es heißt „wir sind im Krieg“ – gegen das Virus oder gegen das Rauchen oder gegen den Klimawandel –, und dann ist anscheinend politisch alles erlaubt. Aber das sieht die Verfassung anders. 

Zu Beginn der Corona-Krise haben die Bilder aus China aber tatsächlich den Eindruck vermittelt, dass man die Bedrohung mit rigoroseren sozialen Kontrollmechanismen besser bewältigen kann, oder?

Das mag sein, die Chinesen gehen technokratisch und dabei unheimlich effizient vor. Ein paar Virologen würden wahrscheinlich sagen, das ist das beste, Zero Covid. Wir müssen uns aber fragen, ob wir so eine Gesellschaft wollen. Die Menschenwürde schützt man nicht durch technologische Effizienz, sondern durch eine Besinnung auf die Werte, die unsere Gesellschaft ausmachen.  

Das Gespräch führte Philipp Fess.

Anzeige