Homosexualität und die Kirche - Der Sündenfall

Unter Missbilligung der Deutschen Bischofskonferenz finden dieser Tage katholische Gottesdienste statt, in denen sich homosexuelle Paare segnen lassen können. Aber auch Teile der Protestanten haben damit noch ihre Schwierigkeiten. Rund um eine evangelikale Gemeinde in Bremen eskaliert um die Homosexuellen-Frage ein Kulturkampf.

Folgen des Farbanschlags vom 8. März: Bunte Flecken auf der Fassade der St.-Martini-Kirche / Jens Gyarmaty
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Ist das Kunst – oder ein Anschlag?“ Ratlos bleibt ein Tourist vor der St.-Martini-Kirche stehen. Es ist eine der ältesten Kirchen in Bremen, sie liegt wie ein Schiff mitten in der Stadt, am Ufer der Weser. Ihre Fassade wurde bespritzt. Sie leuchtet neuerdings in den Farben des Regenbogens blau, rosa, lila.

Es ist ein irritierender Anblick. Die St.-Martini-Gemeinde steht nicht in dem Ruf, ein Herz für Homosexuelle zu haben. Im Gegenteil. Ihr Pastor Olaf Latzel legt die Bibel so aus, wie sie schon vor Hunderten von Jahren ausgelegt worden sein könnte. Homosexualität, hat er mit Blick „auf die Verbrecher vom Christopher Street Day“ gesagt, sei eine Sünde, zumindest die offen ausgelebte, eine „Degenerationsform“, vergleichbar mit Sodomie. Derzeit darf er solche Äußerungen nicht mehr verbreiten. Das Amtsgericht Bremen hat ihn wegen Volksverhetzung zu einer Geldstrafe von 8100 Euro verurteilt. Deshalb hat ihn die Bremische Evangelische Kirche (BEK) auch vorläufig vom Dienst suspendiert. Es gibt Menschen, die die bunten Flecken auf der Fassade mit einer gewissen Schadenfreude erfüllen. 

Polarisierender Prediger

Eine lokale Posse? Lange sah das so aus. Doch der Streit um die Gemeinde ist nicht vorbei. Im Gegenteil. Er geht gerade erst richtig los. Olaf Latzel nämlich hat Berufung gegen das Urteil eingelegt. Er will notfalls bis vors Bundesverfassungsgericht ziehen. Es ist ein Streit, der sich noch Jahre hinziehen kann. Bis er geklärt ist, will die St.-Martini-Gemeinde nicht warten. Latzel ist ihr Aushängeschild. Ein Popstar der evangelikalen Szene. Ein „Pöbel-­Pastor“, schreibt die Bild, „Hassprediger“ die Frankfurter Rundschau. 30 000 Menschen folgen ihm auf Youtube. Damit er weiter predigen kann, will die St.-Martini-Gemeinde ihre Mitgliedschaft in der BEK ruhen lassen und ihn aus eigener Tasche bezahlen. Sie bekommt für dieses Vorhaben viel Unterstützung. Sechs andere evangelikale Kirchengemeinden in Bremen haben sich bereits hinter den umstrittenen Pastor gestellt. 

Es ist ein Fall, wie ihn die Evangelische Kirche noch nicht erlebt hat. Diese Geschichte erzählt von einem Kultur-Clash. Dass sie ausgerechnet in Bremen spielt, verleiht ihr eine gewisse Fallhöhe. Denn linke Identitätspolitik gehört zur Agenda des rot-rot-grünen Senats. Bremen war die erste deutsche Stadt, die 1979 einen Christopher Street Day veranstaltete. Seither hissen sie am 31. August die Regenbogenfahne vor dem Rathaus. Der Streit um den Pastor rührt an die Frage, wo die Macht der Kirche aufhört und wo Politik anfängt. 

Der traut sich, was zu sagen

Bremen, Mitte März. Eine kalte Böe fegt über den Platz vor der St.-Martini-­Kirche. Es ist ein spätgotischer Backsteinbau aus dem 13. Jahrhundert, Spitzbogenfenster aus handbemaltem Glas. Auf der Eingangstür klebt blaue Farbe. Die Menschen, die an diesem Sonntag den Gottesdienst besuchen, haben keine Lust, über Olaf Latzel zu sprechen. 

Einige haben ihre eigene, in Leder gebundene Bibel mitgebracht. Anja, 51, Rock, Stiefel und Filzhut auf dem Kopf, sagt, sie habe den Pastor vor zwei Jahren in einer Bibelstunde kennengelernt und sei sofort fasziniert von ihm gewesen: „Er sagt die Wahrheit und nicht das, was die Gesellschaft hören will.“ Sind Homosexuelle „Verbrecher vom CSD“? Die Krankenschwester zuckt mit den Schultern. Sie sagt: „Er hat ja nur die gemeint, die den Gottesdienst angreifen.“ 

Wer diese Angreifer sind, diese Frage kann keiner so genau beantworten. Aber dass es sie gibt, ist aktenkundig. Zerstochene Reifen, zerkratzte Fenster, Morddrohungen gegen Olaf Latzel, Störaktionen in und vor der Kirche. Gottesdienstbesucher, die mit Kondomen beworfen wurden. Jürgen Fischer sagt, er weiß nicht, wie oft er schon Strafanzeige gegen unbekannt erstattet hat. Er seufzt. 

Ein langer Kleinkrieg

Fischer ist geschäftsführender Vorstand der Gemeinde, Vater dreier Söhne, Unternehmer. Ein Hanseat, der leise und reflektiert redet und bemüht ist, die Wogen zu glätten. Doch der Streit um die Gemeinde geht ihm nahe. Er sagt, erst kürzlich hätten langjährige Nachbarn den Kontakt zu ihm abgebrochen und in ihrem Garten demonstrativ eine Regenbogenfahne gehisst. Der Kleinkrieg zwischen schwulen und lesbischen Aktivisten und der St.-Martini-Kirche, er hat jetzt auch sein Privatleben erfasst. Fragt man Fischer, wie alles begonnen hat, spannt er einen weiten Bogen. Der reicht 13 Jahre zurück. Es fällt ein prominenter Name: Volker Beck. 

2008, das Christival in Bremen. Es ist so etwas wie der Kirchentag für evangelikale Jugendliche. Die St.-Martini-Gemeinde gehört zu den Veranstaltern. Es kommen 25 000 Teilnehmer aus ganz Deutschland. Volker Beck, damals parlamentarischer Geschäftsführer der Grünen, macht im Bundestag mobil gegen das Treffen. Er sagt, es würde dort Workshops geben, in denen für die Heilung von Homosexualität geworben werden sollte, finanziert vom Bundesfamilienministerium. 

Heilung von Homosexualität?

Beck war einer der ersten Bundespolitiker, die sich als schwul geoutet haben. Heute ist er Lehrbeauftragter für Religionswissenschaftliche Studien an der Ruhr-Uni Bochum. Er sagt, Homosexualität sei keine Krankheit: „Man kann das nicht wegmachen. Kräftig beten und duschen, das funktioniert nicht.“ Er kenne Männer, die solche Seminare in schwere Depressionen gestürzt hätten. Heute sei diese Form der Werbung per Gesetz verboten. Damals habe es ihn Kraft gekostet, die Parlamentarier davon zu überzeugen, dass die Regierung solche Workshops nicht auch noch finanziell unterstützen dürfe. „Ich habe so lange genervt, bis das Thema vom Tisch war“, sagt Beck. 

Gemeindemitglied Jürgen Fischer bestreitet, dass die St.-Martini-Gemeinde solche Veranstaltungen geplant hatte. Er redet von Seelsorge, nicht von „Transformation“. Beck kauft ihm das bis heute nicht ab. Seine Warnungen vor den Workshops machten die Gemeinde damals zur Zielscheibe für Angriffe der LGBTQ-Community. 

Die Quittung: ein legendäres „Kiss-in“, bei dem drei Dutzend Aktivsten der Schwulen- und Lesbenszene eine Predigt eines evangelikalen Hardliners genutzt hatten, um den Gottesdienst der St.-Martini-Gemeinde zu sprengen. Jürgen Fischer erinnert sich noch mit Schrecken daran: „Die haben sich hingestellt, umarmt und beschmust – mit allem, was dazugehört.“ 
Am Ende musste die Polizei die ungebetenen Besucher hinauskomplimentieren. Dann war das Christival beendet. Die Gemeinde hatte ihren Ruf weg. So zumindest sieht es Jürgen Fischer: „Die Teilnehmer waren weg, aber der Feind blieb. Und das waren Pastor Latzel und die St.-Martini-Kirche.“ Seither schickt die Polizei regelmäßig eine Streife vorbei.

Der jüngste Farbanschlag

Der jüngste Anschlag geschah in der Nacht zum 8. März dieses Jahres, einen Tag vor dem Weltfrauentag. Jürgen Fischer steht immer noch unter Schock. Die St.-Martini-Kirche ist schließlich nicht irgendeine Kirche. Sie ist eine der ältesten und reichsten in Bremen, eine schlichte, aber für lutherische Verhältnisse beinahe prächtige Vorzeigekirche, in der früher Kaufleute ein- und ausgingen. Seit 2015 wird sie aufwendig saniert. Die Fassade war schon fertig. Und dann das. 

Fischer öffnet die Tür zu einem kleinen Raum. Es ist die Technikzentrale. Auf Monitoren kann man die Bilder der Überwachungskameras sehen. Sie haben auch die Unbekannten gefilmt, die den jüngsten Farbanschlag begangen haben. Man sieht vier vermummte Gestalten, bewaffnet mit Feuerlöschern. Erst zielen sie auf die Kameras, dann knöpfen sie sich die Fassade vor. 

Waren es Aktivisten vom CSD, der Schwulen- und Lesbenparade, auf der nach Lesart der Gemeinde die Sünde zu Haus ist? Robert Dadanski bestreitet das. Dadanski ist das Gesicht des CSD in Bremen. Ein jugendlicher Vierziger, der eine Spedition leitet. Ein Mann, der eigentlich nicht reden will. Dabei ist Dadanski der Chefankläger im Fall Latzel. Er war es, der im April 2020 Strafanzeige gegen den Bremer Pastor erstattete. Das Corpus Delicti mailt er Cicero zu.

„Dieser Mensch ist gefährlich.“

Es ist eine Audiodatei von einer „Ehe-Fahrschule“ in der St.-Martini-Gemeinde. Oktober 2019, eine Stunde und 42 Minuten. Latzel hatte 20 Paare eingeladen. Er referierte über die göttliche Schöpfungsordnung, über Ehe, Familie und Sexualität. Irgendwann fiel der Satz „die Verbrecher vom CSD“. Dafür hat sich der Pastor inzwischen entschuldigt. In der Gemeinde heißt es, der Satz sei nie für die Öffentlichkeit bestimmt gewesen. Ein Mitarbeiter habe die Aufnahme von der Eheschule Monate später auf dem Server gefunden und auf den Youtube-Kanal der Kirche gestellt – mit Latzels Einverständnis. Der Pastor habe in dem Moment wohl nicht daran gedacht, dass er Dinge gesagt hatte, die in der Öffentlichkeit anders bewertet werden würden als von seiner Gemeinde. 

Robert Dadanski besänftigt das nicht. Er sagt: „Dieser Mensch ist gefährlich.“ Tatsächlich ist der Pastor vorbestraft. 2003 verurteilte ihn das Amtsgericht Siegen wegen Tierquälerei zu einer Geldstrafe. Latzel hatte seinen Schäferhund erschossen, nachdem der mehrfach andere Hunde gebissen hatte. Angeblich wegen seiner „Jägerehre“, um dem Hund das Einschläfern beim Tierarzt zu ersparen, wie er dem Focus sagte. Doch seine Kritiker kaufen ihm das nicht ab. Sie behaupten, der Hund habe sterben müssen, weil ihm sein Besitzer die Bissigkeit nicht habe abtrainieren können. Robert Dadanski schließt daraus, dass Latzel auch vor Gewalt vor Homosexuellen nicht zurückschrecken würde: „Was will der Pastor mir austreiben? Und was ist, wenn ihm das nicht gelingt?“ 

Er hat an die BEK appelliert, über eine Reform der Gemeindeautonomie nachzudenken. Die BEK gilt als die liberalste Landeskirche in Deutschland. Sie ist die einzige ohne Bischof oder Bischöfin. Ihre 61 Mitgliedsgemeinden genießen Glaubens-, Gewissens- und Lehrfreiheit. 

Das erklärt, warum es Olaf Latzel gelungen ist, seine Gemeinde als Bollwerk christlicher Werte gegen „Genderdreck“ und andere Auswüchse eines „rot-rot-grünen Mainstreams“, so zwei Lieblingsbegriffe Latzels, zu positionieren. In dem Maße, in dem sich Frauen und Homosexuelle emanzipiert haben, ist die Gemeinde in die Defensive geraten. Ihr Menschenbild passt nicht mehr in die Zeit. 

Islamophob

Nicht erst seit dem Seitenhieb auf den CSD ist der streitbare Pastor auf dem Radar des Staatsschutzes. In die Schlagzeilen war er zuletzt 2015 geraten, in der Flüchtlingskrise. Da warnte er Christen in einer Predigt, gemeinsame „Zuckerfeste und anderen Blödsinn“ mit Moslems zu feiern. Das sei Sünde. Es gebe schließlich nur einen Gott. Und der sage im Alten Testament unmissverständlich, wie sich ein Christ gegenüber Götzenbildern und anderen Religionen verhalten solle: „umhauen, verbrennen, Schnitte ziehen“. 

Das passte nicht zu einer Willkommenskultur, wie sie der rot-grüne Senat kultivierte. Schon damals regte sich in der BEK Protest gegen Latzel. Einer, der damals gegen ihn und für ein buntes Bremen demonstrierte, will heute nicht mehr namentlich zitiert werden. Er sagt, er habe wütende E-Mails, sogar Morddrohungen bekommen. Der Krieg zwischen linker Identitätspolitik und bibeltreuen Christen, er fordert auf beiden Seiten Opfer. Doch die Gegner benennen kann auch dieser Pastor nicht. 

Verkappter Offizier

Oder er will nicht. Olaf Latzel ist in Deutschland gut vernetzt. Vis-à-vis der Kanzel in der St.-Martini-Kirche hängt eine Kamera, die seine Auftritte auf dem Youtube-Kanal der Kirche überträgt. Seine Predigten gegen den Islam, Flüchtlinge und „Genderdreck“ kommen bei bibel­treuen Christen gut an. Auch Homosexuelle, die selbstbewusst ihre Rechte einfordern, passen ins Feindbild.
Man hätte Latzel gerne gefragt, wie er zu der Sache steht. Der Pastor ruft auch gleich zurück. Ein großer Mann, kantiger Haarschnitt, tiefe Stirnfalten. In einem Interview mit dem Weser-Kurier hat er mal gesagt, als Kind habe er von einer Karriere beim Militär geträumt. „Das fand ich gut, die Orden, die Uniformen“, sagt er da. Daran muss man denken, wenn man ihn reden hört. Er spricht laut und pointiert, jeder Satz eine Salve. Er sagt, leider dürfe er sich wegen des schwebenden Verfahrens nicht äußern. 
Ist Latzel eine politische Figur? In der St.-Martini-Gemeinde heißt es, er stehe keiner Partei nahe. Die Kirche sieht sich als Opfer. 

Aber ist sie das wirklich? Der Fall St. Martini zeigt, was passiert, wenn sich eine Auseinandersetzung so weit hochschaukelt, dass ein Dialog nicht mehr möglich ist, weil sich beide Parteien in ihren Echokammern radikalisiert haben. Schon kursiert in der LGBTQ-Szene das Gerücht, die Gemeinde stecke selbst hinter dem Farbanschlag, um den Opfermythos zu beflügeln. Gar nicht ausmalen mögen die Aktivisten sich, was passieren könnte, wenn die Gemeinde ihre Drohung wahr macht und ihre Rechte und Pflichten in der BEK ruhen lässt, damit Latzel wieder predigen kann, was er predigen möchte – immer schön gegen den Mainstream. 

Merkwürdiges Rechtsverständnis

Jürgen Fischer weist die Kritik an dem Pastor zurück. Er sitzt im Besprechungszimmer in der zweiten Etage des Kirchturms, sein Blick fällt auf die Weser und das Becks-Segelschiff, das hier vor Anker liegt. Es ist ein idyllisches Stillleben. Nur der Appell „Fight Homophobia!“, den jemand mit silberner Farbe an die Promenade gesprüht hat, passt nicht ins Bild. Fischer sagt, Latzel habe niemanden persönlich verletzt, sondern über Homosexualität als Sünde gesprochen und Genderismus als Ideologie – und das im Gehorsam gegenüber dem dreieinigen Gott. Dass ihn die BEK ohne Einverständnis der Gemeinde vorläufig suspendiert habe, sei rechtswidrig. 

Es ist ein merkwürdiges Rechtsverständnis, was sich hier offenbart. Schließlich ist die Kirche kein rechtsfreier Raum. Jemanden ohne Beweis als Verbrecher zu diffamieren, könnte strafrechtlich relevant sein. Latzel aber bleibt dabei. Homosexualität sei Sünde. So kann man die Bibel interpretieren, man muss es aber nicht. Pikanterweise beruft er sich aber auch noch auf eine Denkschrift der Evangelischen Kirche Deutschlands (EKD) von 1996, „Mit Spannungen leben“ heißt sie. Sie unterscheidet zwischen guten und schlechten Homosexuellen. Schlechte, das sind die, die sich „mit ihrer Prägung voll identifizieren können“, gute, das sind die, „die unter ihr leiden und auf Veränderung durch Therapie oder Seelsorge hoffen“. 

Schwul in der St.-Martini-Kirche

Es sind Menschen wie Frank. Der Lehrer ist Anfang 50 und Single – und Mitglied der St.-Martini-Kirche. Viele dürfte das überraschen. Denn wie kann er sich in einer Gemeinde engagieren, die offen lebende Homosexuelle als Menschen zweiter Klasse behandelt? Für Frank ist das kein Widerspruch. Nicht mehr. Er sagt, es sei schon 15 Jahre her, dass er seine letzte Partnerschaft mit einem Mann beendet habe. Seither lebe er „abstinent“. 

Leicht sei das nicht, räumt er ein: „Klar habe ich mal Sehnsucht, aber das geht wieder weg.“ Wichtiger sei doch, dass das „Gefühlschaos“ in seinem Kopf vorbei sei. Frank sagt, er sei immer hin- und hergerissen gewesen: „Mit einem Bein stehst du im Glauben, mit dem anderen in einer schwulen Beziehung.“ Seine Partner seien fremdgegangen. Das habe ihn zusätzlich belastet. Ein Zufall? Nein, das glaubt er nicht. Gott habe ihm ein Zeichen gegeben: „Er wollte, dass ich ihm diene.“ Seit er wieder nach der Bibel lebe, gehe es ihm besser.

Frank klingt erleichtert. Er sagt, die Gemeinde sei so etwas wie seine Familie. Ob es in ihr noch mehr Homosexuelle gebe, wisse er nicht, man spreche ja nicht darüber. Seinen richtigen Namen will Frank nicht in der Zeitung lesen. Er sagt: „Ich schäme mich dafür, dass ich meine Homosexualität ausgelebt habe.“ 

Wie kann die EKD?

Es ist ein Satz, der viel über das Selbstverständnis evangelikaler Christen verrät: Homosexualität wird nur geduldet, wenn sie unterdrückt wird. Wie aber kann es sein, dass die EKD so ein Bild unterstützt? Anruf bei EKD-Vizepräsident Thies Gundlach: Er sagt, die Denkschrift von 1996 sei nicht mehr aktuell. Es sei an der Zeit, sie aus dem Netz zu nehmen. Aber warum entwirft die EKD dann nicht eine neue, die die Diskriminierung von Homosexuellen klar verurteilt? 

Volker Beck sagt, vor einer theologischen Positionierung drücke sich die EKD. Sie äußere sich da lieber politisch. Es sei eben schwierig, zwei Welten unter einen Hut zu kriegen. Hier das traditionelle Familienbild der Evangelikalen, dort Pfarrhäuser, in denen schwule Pastoren oder lesbische Pastorinnen leben, viele sogar mit ihrem Ehepartner und gemeinsamen Kindern. 
2013 hatte es der Rat der EKD mit einer Denkschrift über „Sexualität aus ethischer Verantwortung“ versucht. Doch ein erster Entwurf verschwand in der Schublade. Es heißt, der Widerstand der Evangelikalen sei zu groß gewesen. Gundlach beziffert ihre Zahl auf 250 000 bis 300 000. Lässt sich der Rat der EKD von einer Minderheit tyrannisieren? 

Evangelikale Tyrannen

Diesen Vorwurf hört man in der Kirche immer wieder. Egal, ob es um Homosexualität, Schwangerschaftsabbrüche oder Scheidungen geht, immer seien es evangelikale Krawallmacher, die den Ruf der Amtskirche schädigten. Indem sie ihr die Frömmigkeit absprächen, berührten sie einen wunden Punkt. Denn der evangelischen Kirche sei der Konsens wichtiger als der Konflikt.

Der EKD-Vizepräsident will davon nichts wissen. Er sagt, es gebe kein Problem. Die Initiative für Veränderungen müsse von den Landeskirchen kommen. Und die seien auf einem guten Weg. „Die Diskriminierung von Homosexuellen haben wir hinter uns“, ist sich Gundlach sicher.

Tatsächlich? In Bremen jedenfalls findet sich nicht ein einziger homosexueller Pastor, der bereit ist, diese Aussage zu bestätigen. Zu tief sitzt die Angst, in die Schusslinie von Latzels Anhängern zu geraten. Die BEK wirbt um Verständnis. Die Pastoren wollten nicht noch Öl ins Feuer kippen. Die Stimmung sei aufgeheizt genug. 
Aber löst man das Problem, indem man es unter den Teppich kehrt? Es ist dasselbe Muster wie in der EKD. Die Kirche findet keine Sprache für den Umgang mit dieser Minderheit. 

Fortschrittlicheres Berlin

Um einen Pastor zu finden, der erzählt, wie es ist, sich gegen Widerstände in der Kirche zu behaupten, muss man bis nach Berlin fahren. Pastor Jörg Zabka hat sich vor 20 Jahren geoutet. Die Martin-­Luther-Gemeinde in Lichterfelde ist sein Arbeitgeber. Es ist vor Ostern. Zabka sitzt in seiner leeren Kirche, um den Gottesdienst vorzubereiten, durch ein Fenster fällt mattes Licht auf ein Holzkreuz, das sich im Altarraum erhebt. 

Er ist ein freundlicher Schlaks mit imposanten Augenbrauen und sonorer Stimme. Er sagt, als er 2007 seine Heirats­pläne verkündete, habe ihm die Kirche noch disziplinarrechtliche Konsequenzen für den Fall angedroht, dass er mit einem Partner ins Pfarrhaus ziehen würde. Man würde ihn zwar nicht kontrollieren, aber es dürfe nicht herauskommen.
Zabka ärgerte das. Um Stress zu vermeiden, nahm er sich eine Wohnung. Dort lebt er heute noch. Dabei, sagt er mit Blick auf die St.-Martini-Gemeinde in Bremen, interessiere keinen mehr, wie er lebe. Sein Mann tritt in der Pandemie regelmäßig als Sänger im Gottesdienst auf, und alle wüssten: „Das ist Alexander.“ Heute, schätzt Zabka, seien ungefähr 7,5 Prozent der Pastoren und Pastorinnen in Berlin lesbisch oder schwul.

Entschuldigung angenommen?

Noch immer bekennen sich nicht alle dazu, aber wer es tue, müsse nicht mehr damit rechnen, an den Pranger gestellt zu werden. Von dem Farbanschlag auf die Bremer St.-Martini-Gemeinde hat Zabka in der Zeitung gelesen. Er sagt, er habe ein Problem mit Identitätspolitik. „Das kann ein erster Schritt sein, um sichtbar zu werden – aber das Ziel muss doch eine Gesellschaft sein, in der alle so angenommen werden, wie sie sind. Und ich definiere mich nicht nur über mein Schwulsein. Ich bin auch Hardcore-Radfahrer oder Veganer.“ Aber noch weniger Verständnis hat er dafür, dass die St.-Martini-­Gemeinde Homosexuelle nur dann akzeptiert, wenn sie ihre Sexualität unterdrücken. Er sagt: „Das widerspricht dem christlichen Glauben.“ 

Zabka kennt die Vorbehalte, mit denen Schwule konfrontiert werden. Er versteht sie zum Teil sogar. „Ich habe selber Zeit für mein Coming-out gebraucht. Die muss ich auch anderen zugestehen.“ Er sagt, vier Mitglieder seien wegen ihm ausgetreten, weil sie Probleme mit seiner Art zu leben hatten. Doch das sei lange her. Wenn er seine Konfirmanden heute in der letzten Stunde fragt, wie sie es fanden, von einem schwulen Pastor unterrichtet worden zu sein, zuckten sie mit den Schultern: „Ja und?“ 

Der Kampf um Gleichstellung geht weiter. Bibeltreue Pastoren wie Olaf Latzel sind die letzten, die ihm trotzen. Jetzt will die Berliner Landeskirche Homosexuelle sogar um Vergebung für erlittenes Unrecht bitten. Nimmt Jörg Zabka das Angebot an? Ach, sagt er, und schließt die Kirche ab. Er habe doch Glück gehabt. Pfarrer zu werden, das war immer sein Ziel. Er hat es erreicht. Er sagt, er kenne ältere Kollegen, die aus dem Amt gejagt oder gezwungen wurden, zölibatär zu leben. „Ihr Traum ist zerbrochen. Für sie ist es wichtig, dass die Kirche das mal ausspricht.“

 

Dieser Text stammt aus der Mai-Ausgabe des Cicero, die Sie am Kiosk oder direkt bei uns kaufen können.
 

 

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