Unterdrückte Sexualität - „Einfach nur mal ficken“

Heute vor 16 Jahren fiel Hatun Sürücü einem sogenannten Ehrenmord zum Opfer. Doch seit diesem Verbrechen hat kein Umbruch stattgefunden in den patriarchalen und orthodoxen Communities. Warum platzieren streng religiöse Familien die Ehre der gesamten Familie noch immer zwischen den Beinen der Frau, fragt Gastautorin Ninve Ermagan.

lmila Bagriacik als Aynur in einer Szene des Films „Nur eine Frau“ über Hatun Sürücü / dpa
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Autoreninfo

Ninve Ermagan (Foto privat) ist in Deutschland geboren und aufgewachsen und Tochter assyrischer Christen. Die 21-jährige Studentin bloggt über den Nahen Osten und die Rolle der Frau in patriarchalen Kulturkreisen.

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„Bereust du deine Sünden?“ fragt Ayhan seine Schwester, bevor er abdrückte. Direkt an einer Bushaltestelle an der Tempelhofer Oberlandstraße in Berlin passierte es. Er schoss ihr nicht einmal, nicht zweimal, sondern ganze dreimal in den Kopf. 

Heute vor 16 Jahren wurde die Kurdin Hatun Sürücü von ihrem jüngsten Bruder ermordet. Ein sogenannter Ehrenmord, der bundesweit Schlagzeilen machte und aufzeigte, dass viele Frauen aus patriarchalen Kulturkreisen auch hier in Deutschland kein selbstbestimmtes Leben führen können. Doch warum platzieren streng religiöse Familien die Ehre der gesamten Familie zwischen den Beinen der Frau?

Die 23-jährige Hatun Sürücü musste als Jugendliche die Schule abbrechen, da sie in der Türkei mit ihrem Cousin zwangsverheiratet wurde. Sie wurde schwanger, von ihm misshandelt und floh schließlich zurück nach Deutschland. Dort eignete sie sich mit der Zeit einen westlichen Lebensstil an. Sie zog von zu Hause aus, kümmerte sich um eine Ausbildung und lernte bald ihren ersten selbst ausgesuchten Freund kennen.

Gekränkte Familienehre

Die Familie schämte sich für die Schwester, die eigenständig lebte und kein Kopftuch mehr trug. In der Moschee erkundigten sich die Brüder, was nach islamischem Recht zutun sei, wenn eine muslimische Frau Unzucht begeht. Schon bald trafen sie die Entscheidung, dass Hatun ihre Freiheit mit ihrem Leben bezahlen muss. Dadurch wollten sie ihre gekränkte Familienehre wiederherstellen.

Als ihr jüngster Bruder sie anbrüllte, sie solle sich nicht verhalten wie eine Schlampe, entgegnete sie ihm: „Ich darf ficken mit wem ich will und wann ich will.“ Nach diesem Satz brachte er sie um. Damit hatte sie ein großes Tabu gebrochen, auszusprechen, dass sie frei sein und ein selbstbestimmtes Leben führen möchte. 

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Dieser Mord zeigt, was Frauen in einem prüden, sexualfeindlichen Kulturkreis erwarten kann, weil sie aufmüpfig sind und sich von einer rigiden Sexualmoral, dem Jungfrauen-, und Keuschheitswahn emanzipieren. Es ist nahezu für viele unvorstellbar, dass Frauen wie Hatun ihre eigenen Entscheidungen treffen, ganz ohne männlichen Vormund, sich nach ihrem eigenen Kleidungsstil anziehen, feiern, Alkohol trinken und ja, „einfach nur mal ficken“ wollen. Das alles ganz unverbindlich, ohne Heirat oder feste Beziehung. Aber eine gute Frau soll in den Moralvorstellungen streng konservativer Kulturkreise fromm, sittsam und bedeckt sein. Eine gute Frau ist eine Jungfrau, eine, die am besten nichts mit dem männlichen Geschlecht zutun hat und sich in der Gesellschaft unsichtbar zeigt. 

Angst vor Kulturverlust

Aus Angst vor dem Verlust der eigenen Kultur zwingen Immigranten ihren Kindern einen mittelalterlich anmutenden Ehrbegriff auf. Der Ursprung vieler nahöstlich assoziierten Phänomene wie überhöhter Machismo, männlicher Gewaltbereitschaft und der Unterdrückung der Frau, findet seinen Ursprung in der Verteufelung der weiblichen Sexualität. Zu solch einer patriarchalisch geprägten Kultur gehört auch die Unbeflecktheit der Frau, die die Ehre der Familie nach außen trägt. Diesen Männern ist die „Unschuld“ des weiblichen Teils der Gesellschaft heilig. Eine Frau kann nicht mehr als die Ehefrau, die Tochter oder die Mutter verkörpern.

Die Unterdrückung der Sexualität in streng religiösen Familien kann verheerende Folgen haben für die Frauen. Der Jungfrauenwahn, die Zwangsehe, die Geschlechterapartheid, das Verbot, Anhänger einer anderen Glaubensausrichtung zu heiraten – all das trägt dazu bei, dass sich Sexualität nicht frei und auf einer natürlichen Art und Weise entfalten kann.  

Doch zu welchen Mitteln greifen verzweifelte Frauen, die ihre natürlichen Triebe nicht unterdrücken wollen und trotzdem nicht mit den Konventionen ihres orthodoxen Umfelds brechen möchten? Die Frauenrechtlerin Seyran Ates erklärt in ihrem Buch „Der Islam braucht eine sexuelle Revolution“, dass der psychische Druck so groß ist und deshalb einige Frauen Analverkehr zum Schutz der Jungfräulichkeit haben, auf Hymnenoperationen zurückgreifen, um ihre Jungfräulichkeit wiederherzustellen oder durch das Einsetzen eines 50 Euro teuren Ersatz-Jungfernhäutchen aus Cellulose und Kunstblut, das die Braut in der Hochzeitsnacht verwendet, ihre Jungfräulichkeit vortäuschen. Wie groß muss die Notlage wohl sein?

Besessen von der Kontrolle des Körpers

Wie sehr die freie sexuelle Entfaltung der Frau verteufelt wird, erkennt man auch daran, dass streng patriarchale Kulturkreise aus Tradition heraus die Klitoris der Frau entfernen lassen. So soll der Sexualtrieb der Frau unterdrückt werden. Die Klitoris-Beschneidung ist der brutalste Ausdruck patriarchaler Strukturen, Frauen das Recht auf ihre Sexualität abzusprechen, weil ihre Kultur von der Kontrolle ihres Körpers besessen ist. 

Seit dem Mord an Hatun Sürücü hat kein sexueller Umbruch stattgefunden in der muslimischen Community. Wer mit offenen Augen durch die Welt läuft, dem wird nicht entgangen sein, dass immer mehr Frauen ein Kopftuch tragen – mitten im liberalen Europa. Das Kopftuch selbst steht für die Unterdrückung und Verteufelung der weiblichen Sexualität. Jene, die es tragen, wollen damit ihre Frömmigkeit zum Ausdruck bringen und das Bild einer gläubigen Muslima vermitteln. Dabei wird die Frau auf ein sexuelles Objekt reduziert, denn im Namen der Religion wird ihr geboten, sie müsse sich verschleiern, um nicht das sexuelle Verlangen der Männer zu wecken. 


Wenn die Sexualität der Frauen aus orthodoxen muslimischen, jesidischen und christlichen Kulturkreisen nicht mehr kontrolliert werden und man den Jungfrauenwahn besiegen würde, wären viele andere Probleme beseitigt. Man müsste auch nicht mehr über Zwangsheirat, Ehrenmorde, Genitalverstümmelung und den Kopftuchzwang sprechen. Deshalb sollte man den Diskurs in Deutschland offener führen, Probleme benennen, um Gewalt gegen Frauen zu verhindern. 

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