Gruppenzwang - Samariter und Pharisäer

Konformität ist das Bindemittel sozialer Gruppen. Wer sich nicht anpasst, wird ausgegrenzt. Unangenehme Debatten werden nicht geführt. Wenn eine falsche Politik so Überlegenheit gewinnt, kann das fatale Folgen haben

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Pluralität wird in einer Gesellschaft in erster Linie hergestellt durch unterschiedliche Milieus / picture alliance
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Autoreninfo

Thilo Sarrazin (SPD) war von 2002 bis April 2009 Finanzsenator unter Klaus Wowereit. Seit dem 1. Mai 2009 war er Mitglied des Vorstands der Deutschen Bundesbank. Im Sommer 2010 trat Sarrazin als Vorstand zurück, nachdem er mit der Buchveröffentlichung "Deutschland schafft sich ab" eine heftige Kontroverse losgetreten hat

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Oft wurde ich in den letzten Jahren gefragt: „Wie halten Sie das nur aus?“ Ich stellte dann immer die Gegenfrage: „Ja, was denn?“ Darauf folgte meist: „Na, die Kritik an Ihrer Person, die Herabsetzungen und Anfeindungen.“ Je nach Situation und Gesprächspartner antwortete ich dann, dass mir das nichts ausmacht, dass das nicht so schlimm sei, dass ich vieles sowieso nicht mitbekäme oder so ähnlich. Nun ist das meiste wirklich nicht so schlimm, und in der Politik habe ich auch gelernt, Anfeindungen auszuhalten. Trotzdem habe auch ich mich immer wieder bei dem Wunsch ertappt, beliebt zu sein, sympathisch zu wirken. Das ist ja auch ganz menschlich.

Immer dann, wenn man glaubt, die eigene Ansicht könnte in einem bestimmten Kreis unpopulär sein, wächst die Versuchung, damit hinter dem Berg zu halten, seine Meinung allenfalls anzudeuten, um nicht zum Außenseiter zu werden. So entsteht im öffentlichen Raum der Eindruck, derlei Einstellungen seien weniger häufig, als sie es tatsächlich sind. Das gilt für alle Bereiche des menschlichen Lebens. Zu einer Zeit beispielsweise, als offen gezeigte Sexualität verpönt war, erschien die Gesellschaft viel sittsamer und gleichförmiger, als sie es tatsächlich war.

Schweigespirale

Pluralität wird in einer Gesellschaft in erster Linie hergestellt durch unterschiedliche Milieus. In einem gleitenden Übergang grenzen sich diese mehr oder weniger voneinander ab oder haben kaum Berührungspunkte. Das kann im Extremfall zu Parallelgesellschaften führen. Innerhalb der Milieus oder Parallelgesellschaften gelten dann wiederum soziale Gesetzmäßigkeiten, die auf Homogenisierung von Meinungen und Einstellungen hinwirken. Für den Raum der politischen Meinungsbildung hat Elisabeth Noelle-Neumann dieses Phänomen als „Schweigespirale“ beschrieben.

Der psychologische Konformitätszwang in sozialen Gruppen ist eine anthropologische Konstante, die die gesamte Menschheitsgeschichte und die unterschiedlichsten Kulturen umfasst. Er hat offenbar als Bindemittel und Organisationsstruktur von Gruppen evolutionären Überlebenswert, sonst hätte er nicht fortbestanden. Spiegelbild der inklusiven Bindungswirkung dieses Konformitätszwangs ist die Abgrenzungswirkung gegenüber jenen, die diese Konformität nicht teilen. Sie zählen zu denen, die der jeweiligen Werte­gemeinschaft nicht angehören; ihnen tritt man mit Distanz gegenüber, wenn nicht gar mit Antipathie und moralischer Verurteilung.

Schädlicher Konformitätszwang

Diese Psychodynamik von Gruppen bestimmt den Wettstreit von Religionen, von Weltanschauungen, von Parteien, Völkern und Staaten oder von miteinander konkurrierenden Sportvereinen. Sie ist elementarer Bestandteil jeder menschlichen Existenz und wirkt keineswegs eindimensional, sondern vielfältig und oft auch widersprüchlich. Wo das Falsche Überlegenheit gewinnt, kann der Konformitätszwang auch schädlich wirken.

Daraus erklärt sich die Dynamik von Diktaturen, totalitären Ideologien oder von Religionen, die die Menschen in geistiger Unmündigkeit fesseln.

Bei den konkreten Organisationsfragen der menschlichen Gesellschaft treten aber auch funktionale Elemente hinzu. Sie stehen oft quer zu moralischen Betrachtungen. So ist eine funktionierende Wirtschaft ohne klar zugeordnete Eigentums- und Verfügungsrechte nicht vorstellbar.

Deshalb tritt das Wohlstandsziel immer wieder in Konkurrenz zum Gleichheitsziel. Eine moralisch hochstehende sozialistische Planwirtschaft, die dem Eigennutz entsagte, war schon rein technisch funktionsunfähig, weil sie das Koordinationsproblem von Produktion und Konsum nicht lösen konnte. Und sie konnte auch anthropologisch nicht funktionieren, weil sie die elementare Rolle des menschlichen Eigennutzes nicht in Rechnung stellte. Darum scheiterte der Kommunismus überall.

Universalismus als Utopie

Die utopische Rolle, die bis vor 40 Jahren der Kommunismus hatte, wird heute vom Universalismus eingenommen. Unter Universalismus verstehe ich eine undifferenzierte Verwischung von Verantwortlichkeit über sämtliche Grenzen hinweg. Am klarsten kommt dieser Universalismus in der Auffassung zum Ausdruck, ein Staat oder eine Gesellschaft habe grundsätzlich die Pflicht, für Verfehlungen und Unzulänglichkeiten anderer Staaten und Gesellschaften einzustehen. Sie seien quasi dem eigenen Schuldkonto anzurechnen. Deshalb müsse man auch grundsätzlich Flüchtlinge und illegale Einwanderer aus anderen Teilen der Welt aufnehmen und für sie sorgen. Der emotionale Fokus des Universalismus in Deutschland ist die sogenannte Willkommenskultur. Dies führt im Ergebnis zu einer Überforderung auch leistungsstarker Staaten – ohne dass gleichzeitig die Übel in den scheiternden Gesellschaften durch diese Weltsozialpolitik tatsächlich gelöst würden.

In Europa kommt dieser Universalismus in der Fehlkonstruktion der Europäischen Währungsunion zum Ausdruck und fand ein schlagendes Beispiel in der gescheiterten Rettung Griechenlands. Er zeigt sich auch im Beispiel der verfehlten Flüchtlings- und Einwanderungspolitik, die kulturfremde Gruppen mit unzureichender Qualifikation zu Hunderttausenden ins Land strömen lässt.

Nicht ernst genommen und ausgegrenzt

Die etablierten Parteien in Deutschland und ein Großteil der Medien folgen weitgehend der universalistischen Ideologie. Wer gegen Einwanderung und massenhaften Zustrom von gar nicht oder wenig qualifizierten Menschen aus Afrika und dem Nahen Osten ist, wer auf die Fehlkonstruktion der Europäischen Währungsunion hinweist und für die finanzielle Eigenverantwortung ihrer Mitgliedstaaten plädiert, der findet von CDU bis Linkspartei kaum Ansprechpartner und erfährt nur selten eine seriöse Behandlung seiner Argumente. Er wird tendenziell ausgegrenzt und als rechtspopulistisch (oder Schlimmeres) gebrandmarkt. Seine Meinungen werden in einen negativen moralischen Zusammenhang gestellt. Weil aber die meisten Menschen zu den Guten und Wohlmeinenden gezählt werden wollen, tappen sie an dieser Stelle in die Sympathiefalle, unterdrücken ihre Bedenken, schalten ihren gesunden Menschenverstand aus und unterwerfen sich den Maximen einer fehlgeleiteten Einwanderungs- und Flüchtlingspolitik und einer falschen Europapolitik.

Dies wird dadurch unterstützt, dass die Sympathiefalle zwei Aspekte hat, die nicht leicht zu trennen sind. Der eine Aspekt ist der oft unbewusste Meinungsopportunismus: Er verschafft individuellen Nutzen in Form von sozialer Anerkennung. Gleichzeitig ist es mit keinerlei individuellen Nachteilen verbunden, für eine liberale Einwanderungs- und großzügige Asyl- und Flüchtlingspolitik zu sein. Die fiskalischen Kosten sind ja für den Einzelnen völlig abstrakt, weil sie auf sehr viele Schultern verteilt werden. Die langfristigen Folgekosten für die Gesellschaft und deren Stabilität treten dagegen erst in Jahrzehnten auf, zudem belasten sie höchst ungleichmäßig die verschiedenen gesellschaftlichen Schichten. Allfälliger Kritik kann man stets mit dem Argument begegnen, dass Deutschland stark sei und deshalb mehr in Integration und Bildung investieren müsse. Der Kritiker steht dann als destruktiver Pessimist, kleinlicher Geizhals oder gar als latenter Rassist und Fremdenfeind da.

Barmherzigkeit schadet der Vernunft

Der zweite Aspekt ist der echte und spontane moralische Impuls, christlich unterlegt durch das Bild des barmherzigen Samariters. Wer die Ausübung der Barmherzigkeit aufgrund wohlbegründeter allgemeiner Überlegungen regulieren und einschränken will, gilt schnell als herzloser Pharisäer. So kann gefühlte Barmherzigkeit die Vernunft dauerhaft beherrschen und mehr Schaden stiften, als sie Nutzen bringt. Das gilt insbesondere dann, wenn der moralische Impuls die barmherzigen Samariter subjektiv dazu ermächtigt, im Sinne der Barmherzigkeit losgelöst von Fakten und realen Zusammenhängen zu argumentieren.

So verhält sich zum Beispiel Entwicklungshilfeminister Gerd Müller. Den wachsenden Einwanderungsdruck auf Afrika führt Müller auf den Klimawandel zurück und warnt vor 200 Millionen Klimaflüchtlingen, denn der von den Industriestaaten verursache Klimawandel betreffe vor allem Afrika. Das bleibt bei ihm freilich eine unbelegte Behauptung. Beim eigentlichen Problem schweigt Müller, nämlich dem unvermindert starken Bevölkerungswachstum speziell in den aktuellen Dürre- und Hungergebieten Ostafrikas. In Somalia, aus dem jetzt Bilder von hungernden Kindern über die Bildschirme flimmern, hat sich die Bevölkerung seit 1970 von 3,4 Millionen auf 10,8 Millionen Menschen verdreifacht. Gleichzeitig ist die Lebenserwartung seit 1950 von 35 auf 56 Jahre gestiegen. Im Ergebnis verdoppelt sich die Bevölkerung in jeder Generation – und zwar in einem Land ohne funktionierende staatliche Strukturen und ohne Anzeichen einer wirtschaftlichen Entwicklung.

Entwicklungshilfe kontraproduktiv

Für diese Situation in Afrika gibt Entwicklungshilfeminister Müller wiederum den westlichen Ländern die Schuld: Sie hätten dort in den vergangenen Jahren „Neokolonialismus“ betrieben. Dieses 50 Jahre alte Schlagwort aus dem marxistischen Argumentationsarsenal begründet er allerdings nicht weiter – sondern ignoriert vielmehr die übereinstimmenden Erkenntnisse der Entwicklungsökonomen, dass die Entwicklungshilfe den Ländern Afrikas – egal wer sie in welcher Form geleistet hat – durchweg wesentlich mehr geschadet als genutzt hat. Afrika wäre nach der Meinung namhafter Experten heute besser dran, wenn seit 1950 überhaupt keine Entwicklungsgelder geflossen wären und die Länder ihren eigenen Weg hätten finden müssen.

Als Universalist glaubt Müller nicht, „dass solche Bewegungen (er meint den Einwanderungsdruck nach Europa) dadurch zu lösen wären, dass man Mauern baut, seine Ressourcen weiter aus Afrika bezieht und sagt: Ihr müsst draußen bleiben. Bei uns herrscht Licht und Sonne und bei euch Hölle und Finsternis.“ Hier argumentiert Müller endgültig an den Tatsachen vorbei, denn Deutschland bezieht kaum Ressourcen aus Afrika: Lediglich 1,6 Prozent der deutschen Importe kommen vom afrikanischen Kontinent. Ohne Südafrika und die Ölexporteure Algerien, Tunesien, Libyen und Nigeria entfallen sogar nur 0,3 Prozent aller deutschen Importe auf Afrika. Afrika ist auch kein relevanter Absatzmarkt für deutsche Waren: Nur 1,6 Prozent aller deutschen Exporte entfallen auf Afrika. Ohne Südafrika und die Ölexporteure sind es sogar nur 0,3 Prozent. Speziell aus Somalia, dessen Dürrekatastrophe der Anlass von Müllers Bemerkungen war, importierte Deutschland im Jahr 2015 Waren im Wert von lediglich 895 000 Euro, also praktisch gar nichts. Die Exporte nach Somalia betrugen knapp 15 Millionen Dollar, auch verschwindend wenig und wohl finanziert durch Entwicklungshilfe.

Schlechtes Gewissen für den guten Zweck

Postfaktischer als der deutsche Entwicklungsminister ist auch Donald Trump in seinen kühnsten Momenten nicht vorgegangen. Aber warum werden die hanebüchenen Äußerungen des Ersteren nicht genauso skandalisiert wie jene des Letzteren? Der Grund dafür ist wahrscheinlich, dass Gerd Müller seine an den Tatsachen vorbeiführende Argumentation für einen humanitären Zweck einsetzt: Er möchte seinen Landsleuten ein schlechtes Gewissen machen, indem er behauptet, Deutschland profitiere von afrikanischen Ressourcen und trage als Industriestaat eine moralische Mitverantwortung für die schrecklichen Verhältnisse in weiten Teilen Afrikas.

Müller verdrängt, dass die Entwicklungshilfe grundsätzlich gescheitert ist und den Wunsch vieler Afrikaner zur Auswanderung nach Europa sowieso nicht stoppen kann. Er verdrängt die unausweichliche Erkenntnis, dass auch weiterhin nur die wirksame Kontrolle der europäischen Grenzen vor unerwünschter afrikanischer Einwanderung schützen kann. Die „Mauer“ dient ihm dabei als polemische Metapher. Der unberechtigte Appell an deutsches und europäisches Schuldbewusstsein soll den Widerstandsgeist untergraben. In Bezug auf die Fluchtbewegung aus Afrika zählt Gerd Müller zu den Gesinnungsethikern. Die Folgen für Deutschland und Europa scheinen ihn wenig zu interessieren. 

Mitleid und Verantwortungsflucht

Aus verantwortungsethischer Sicht gibt es gute Gründe, große Wanderungsbewegungen aus Afrika nach Europa zu verhindern: Bei einem jährlichen Geburtenüberschuss von 30 Millionen könnte selbst eine jährliche Zuwanderung von Millionen Menschen aus Afrika den Kontinent kaum entlasten. Sie würde aber gleichzeitig das europäische Sozial- und Gesellschaftsmodell nachhaltig beschädigen, wenn nicht zerstören. Wer deshalb weitere Migrationsströme unterbinden will, sieht sich gleichwohl dem Vorwurf hartherzigen Spießertums ausgesetzt. Stattdessen wird folgenloses Mitleid zur politischen Maxime erhoben. Das erleichtert die Flucht aus der Verantwortung.

Auch der bevorstehende Bundestagswahlkampf wird davon geprägt sein. Wir werden eine rein taktische Konfrontation zwischen zwei Spitzenkandidaten und den sie tragenden Parteien erleben. Angela Merkel und Martin Schulz trennt in der Flüchtlings- und Einwanderungspolitik und in der Europapolitik rein gar nichts. Auch sonst sind Unterschiede kaum erkennbar. Es geht nicht um die Wahl zwischen politischen Alternativen, sondern um einen politischen Schönheitswettbewerb: Martin Schulz kann besser reden, Angela Merkel hat mehr Amtserfahrung.

Sympathiepunkte für den Wahlkampf

So wird aus dem Wahlkampf, der eigentlich ein Hochamt der Demokratie sein sollte, eine im Kern entpolitisierte Veranstaltung: Es treten an zwei Spitzenkandidaten, die beide gleichermaßen für die Fortsetzung einer auf den zentralen Zukunftsfeldern Einwanderung und Europa gescheiterten Politik stehen. Es gilt das Verdikt der Alternativlosigkeit, das allenfalls an den politischen Rändern hinterfragt wird. Aber ist das Hinterfragen, das Infragestellen nicht die Aufgabe aller Demokraten? Warum haben es die etablierten Parteien verlernt, unangenehme Debatten zu führen? Mit Sympathiepunkten allein ist die Zukunft jedenfalls nicht zu gewinnen. Zumal der Konformitätsdruck viele Bürger mit dem Eindruck zurücklässt, Grundsätzliches besser nicht infrage zu stellen. Damit endet die Mündigkeit der Bürger in der Sympathiefalle.

Ich fürchte, dass die Folge dieser Gefallsucht eine von Neid, ethnischen, religiösen und kulturellen Konflikten zerrissene Gesellschaft sein wird. Das klingt zugegebenermaßen nicht sympathisch. Aber das kann auch nicht der Maßstab sein.

 

Dieser Text stammt aus der Aprilausgabe des Cicero, die Sie in unserem Online-Shop erhalten.

 

 

 

 

 

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