Grünen-Parteitag - So viel Harmonie war nie

Die Grünen demonstrieren auf ihrem Parteitag in Bielefeld das, was derzeit allen anderen Parteien fehlt: Geschlossenheit. Die wieder gewählten Parteivorsitzenden Annalena Baerbock und Robert Habeck nehmen Kurs auf eine Regierungsverantwortung. Spätestens dann aber könnte es ungemütlich werden

Wiedergewählt: Robert Habeck und Annalena Baerbock / picture alliance
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Moritz Gathmann ist Chefreporter bei Cicero. Er studierte Russistik und Geschichte in Berlin und war viele Jahre Korrespondent in Russland.

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„Fast da, aber noch lange nicht am Ziel“, steht in großen Buchstaben über dem Eingang der Stadthalle von Bielefeld, wo sich an diesem Wochenende gut 800 Grünen-Delegierte zu ihrem Parteitag treffen. Die Partei surft auf einer Welle der guten Umfragen, auch wenn zuletzt die drei ostdeutschen Landtagswahlen durchwachsener als erwartet waren. Aber auch im Osten regieren die Grünen bald dort mit, wo sie vorher nur Beobachter waren.

„Nicht nur mitgestalten, sondern mit führen“, die Losung gibt am Samstag Winfried Kretschmann aus, der bislang einzige grüne Ministerpräsident aus Stuttgart. Nicht nur in diesem Moment flüstert der Wind, der von der Bühne weht: Wir übernehmen den Laden bald. Den Laden Deutschland.

Die Delegierten bejubeln deshalb nicht nur Kretschmann, sondern auch Belit Onay, der gerade in Hannover zum Bürgermeister gewählt wurde, und Anne Kebschull, die Landrätin des Landkreises Osnabrück. Der türkischstämmige Onay hat vor einer Woche eine über Jahrzehnte feste SPD-Burg geschleift, Kebschull einen Landkreis übernommen, der seit Kriegsende immer von Männern aus der CDU geführt wurde. Geht es nach der Stimmung auf dem Parteitag – und derzeit auch in Hamburg – wird Katharina Fegebank den Siegeszug in der Hansestadt fortsetzen.

Eine Partei aus 20- bis 40-Jährigen

Angetrieben vom Protest gegen die AfD und gegen den Klimawandel, hat die grüne Welle über die letzten zwei Jahre an Schwung gewonnen. Während die Volksparteien weiter massiv Mitglieder verlieren, werden die Grünen wohl bald die Marke 100.000 durchbrechen. Wie jung die Partei ist, das zeigen die Reihen der Delegierten: Die Partei scheint auf den ersten Blick vor allem aus 20- bis 40-Jährigen zu bestehen, mit ein paar Ausreißern in die Joschka-Generation. Für 40 Prozent der Delegierten ist Bielefeld ihr erster Parteitag.

Der Erfolg zwingt die ehemalige Revoluzzer-Partei aber zu einem Realismus, den sie seit den rot-grünen Regierungsjahren nicht mehr kannten. „Ganz viele Menschen wählen uns und erwarten von uns realistische Antworten“, redet der Schwabe Kretschmann den Delegierten ins Gewissen. Ähnlich klingt Parteichef Habeck am Freitagabend: Die Ära Merkel gehe zu Ende, nun müsse man „aus Hoffnung Wirklichkeit machen“, also Pläne entwerfen und umsetzen.

Wirtschaft ohne Kohle, Öl und Gas

Die Pläne, die er dann skizziert, klingen wie ein Versuch, die neu gewonnenen Grünen-Wähler nicht zu verschrecken. Klar, der Klimaschutz und die offene Gesellschaft stehen ganz oben auf seiner Liste. Aber Habeck glaubt an die „schaffende Kraft der Märkte“ und an das Wirtschaftswachstum, nur brauche es eben Leitplanken, „damit die Märkte der Gesellschaft dienen.“ Sein Konzept eines „Green New Deal“ hat Habeck vor einigen Tagen in der Welt skizziert.

Bei Parteichefin Annalena Baerbock klingt das am Samstag so: „Ich will eine Wirtschaft, die ohne Kohle, Öl und Gas auskommt und gleichzeitig den Wohlstand sichert. Die Transformation muss auch für den Stahlarbeiter bei Thyssen-Krupp funktionieren!“ Das ist meilenweit entfernt von den Aktivisten von Extinction Rebellion, die vor der Tür der Stadthalle demonstrieren, weil ihnen die Forderungen der Grünen nicht weit genug gehen. Habeck und Baerbock haben die Partei in die Mitte gerückt, anschlussfähig für Wähler bis zur CDU gemacht.

Schwarz-rot-gold, wenn auch etwas verschämt

Gegen die populistische Gefahr von Rechts ruft Habeck die Grünen gar als „Verteidiger der Republik“ aus: „Unsere Partei wurde nicht gegründet für solche Sätze“, sagt er da, „aber verteidigen wir diese Republik! Werden wir Verfassungsschützer!“ Vor einem Jahrzehnt wäre ein solcher Satz sicher nicht so beklatscht worden wie 2019. Aber der Erfolg gibt Habeck und Baerbock Recht. Zur Krönung steht Habeck dann am Freitagabend ganz in schwarz neben Katrin Göring-Eckardt ganz in rot und Annalena Baerbock ganz in gelb. Schwarz-rot-gold, wenn auch etwas verschämt, auf einem Bundesparteitag der Grünen? Die Zeiten ändern sich.

Eigentlich ein Wunder, dass die Reihen der Partei bei so viel Realismus derart geschlossen sind: Habeck wird mit 90, Baerbock mit 97 Prozent für die nächsten zwei Jahre wiedergewählt, ohne Gegenkandidaten und mit deutlich mehr Stimmen als im Januar 2018. So viel Harmonie war nie bei den Grünen: Das bisher beste Ergebnis einer Kandidatin holte 2001 Claudia Roth mit 91 Prozent.

Realos und Fundis, das war gestern

Den Vorsitzenden ist es gelungen, die strittigen Themen vor dem Parteitag in der Antragskommission abzuräumen, auch das höchst emotionale Thema Homöopathie. Nur hin und wieder ploppen ideologische Diskussionen auf, etwa als die extrem linken Berliner Grünen aus Friedrichshain-Kreuzberg einen radikaleren Antrag bei der Wohnungspolitik („Enteignen und entschädigen“) als die Parteiführung durchboxen wollen. Aber Habeck stimmt die Delegierten auf seinen Kurs ein. Die Berliner Abgeordnete Katrin Schmidberger stürmt wutschnaubend von der Bühne und schimpft: „Der lügt doch!“ Kümmert aber kaum jemanden.

Die zwei „Flügel“, also Realos und Fundis, deren Kämpfe Parteitage auch mal komplett lähmen konnten, spielen an diesem Wochenende keine Rolle mehr, auch weil es so viele neue Mitglieder gibt, denen diese Flügellogik fremd ist. Kleiner Rückblick: Vor 20 Jahren gingen sich die Grünen gerade hier in Bielefeld auf einem Sonderparteitag gegenseitig an die Gurgel, als es um die Zustimmung der rot-grünen Bundesregierung zum Kosovo-Krieg ging.

Das heißt aber nicht, dass diese Zeiten vorbei sind. Als Baerbock sich für eine europäische Armee ausspricht, ist der Applaus übersichtlich. Sollten die Grünen an der nächsten Bundesregierung beteiligt sein und derartige Diskussionen unter Realbedingungen stattfinden, schlägt die Stunde der Wahrheit. Dann dürfte Schluss sein mit Harmonie.

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