Groko-Einigung - Der lange Herbst von Merkels Macht

Die Verhandlungen zur Groko waren zäh. Viele werden nun den Titel des Siegers für sich beanspruchen, die eigentliche Gewinnerin aber ist Angela Merkel. Inhalte sind für sie nicht entscheidend, nur die Macht zählt

Die eigentliche Siegerin des Verhandlungsmarathons zur Großen Koaltion: Angela Merkel / picture alliance
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Christoph Seils war Ressortleiter der „Berliner Republik“ bei Cicero bis Juni 2019. Im Januar 2011 ist im wjs-Verlag sein Buch Parteiendämmerung oder was kommt nach den Volksparteien erschienen.

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Am Ende gab es noch eine dramatische Nachtsitzung. Doch nun scheint die Koalition von Union und SPD zu stehen. Die Unterhändler haben sich auf einen Koalitionsvertrag geeinigt. Rund 200 Seiten soll er stark sein. Sobald er veröffentlicht ist, werden sich die Journalisten und die Lobbyisten über die langen Reihen von Spiegelstrichen beugen, um Sieger und Besiegte zu ermitteln. Beziehungsweise, um die Folgen für die eigene Klientel abzuschätzen. Vorausgesetzt, die SPD-Basis stimmt dem Vertragswerk zu, gibt es allerdings vor allem eine Siegerin des insgesamt fast sechsmonatigen Verhandlungsmarathons: Angela Merkel.  

Das vierte Kabinett Merkel kann kommen

Auftrag erfüllt. Die Kanzlerin hat es doch noch einmal geschafft, eine Regierungsmehrheit zu schmieden. Auch wenn sie einmal mehr schmerzhafte Zugeständnisse machen musste. Es war mühsam, nach den Jamaika-Sondierungen standen auch die Verhandlungen zwischen Union und SPD mehrfach auf der Kippe. Nun aber kann das vierte Kabinett Merkel kommen. Unwahrscheinlich, dass die SPD-Mitglieder tatsächlich noch „Nein“ sagen, so groß ist die Todessehnsucht der Sozialdemokraten dann doch nicht. Zumal die Sozialdemokraten bei der Ressortverteilung einige beachtliche Erfolge vorweisen können. Sie werden offenbar zukünftig unter anderem den Finanzminister und den Außenminister stellen sowie den Arbeits- und Sozialminister. 

Von einer Großen Koalition allerdings sollte man nicht mehr reden, schließlich brachten es CDU, CSU und SPD bei der Bundestagswahl zusammen nur auf 53,4 Prozent. Die GroKo haben die Wähler also eigentlich schon am 24. September vergangenen Jahres abgeschafft. Einer aktuellen INSA-Umfrage zufolge ist die Zustimmung für die drei Parteien mittlerweile sogar unter die 50-Prozent-Marke gefallen. Die quälende Regierungsbildung blieb nicht ohne Folgen, vor allem die SPD ist in der Wählergunst weiter abgesackt.

Für Merkel zählt nur: Kanzlerin bleiben

Dem Ansehen von Angela Merkel in der Bevölkerung hingegen hat das zähe Ringen um die Regierungsbildung, das monatelange Gefeilsche um die Macht, kaum geschadet. Vor allem rund 70 Prozent der CDU-Anhänger stehen Umfragen zu Folge weiter hinter ihr. Das ist ihre Wählerbasis und ihre latente Machtbasis. Ihre innerparteilichen Kritiker hingegen stehen weiter im Abseits, da können sie noch so sehr darauf verweisen, dass der Koalitionsvertrag keine christdemokratische Handschrift trage, nur CSU und SPD ihre politischen Duftmarken darin hinterlassen hätten. Für die CSU wären das: Obergrenze, Familiennachzug und Mütterrente. Für die SPD: Europa; Bildung und Grundsicherung im Alter. 

Doch darauf kommt es für Angela Merkel und ihre Anhängern in der CDU nicht an. Für sie zählt nur die Kanzlerinnen-Wahl. Dass für Angela Merkel nicht Inhalte entscheidend sind, sondern nur die Macht zählt, dürfte eigentlich niemanden wirklich überraschen. Das war 2005, 2009 und 2013 nicht anders. Nicht mutige Reformen prägen ihre bisherige Amtszeit, sondern andauerndes Durchwurschteln und spektakuläre politische Wendemanöver: Wehrpflicht, Atomausstieg, Flüchtlingspolitik. Trotzdem oder vielleicht gerade deswegen ist sie weiterhin die zweitbeliebteste Politikerin im Lande hinter Sigmar Gabriel. Vielleicht gerade deswegen machte sie die Union bei der Bundestagswahl im September vergangenen Jahres trotz Rekordverlusten immer noch zur stärksten Partei. Und zur Ironie der Geschichte gehört auch, dass jene Partei, die mit der Parole „Merkel muss weg“ in den vergangenen Bundestagswahlkampf gezogen war, mit ihrem Wahlerfolg Merkels Alternativlosigkeit manifestierte.

Merkel-Kritiker haben Zeitpunkt zum Sturz verpasst

Die Stärke von Merkel ist also vor allem die Schwäche ihrer Gegner. In den eigenen Reihen genauso wie in den anderen Parteien. Den richtigen Zeitpunkt, die taumelnde Kanzlerin zu stürzen, haben die Merkel-Kritiker in CDU und CSU im Jahr 2016 verpasst. Dieser verpassten Chance laufen sie seitdem hinterher. Zaudern und Zögern verzeiht die Politik selten. Auch die dramatischen Verluste der CDU bei der Bundestagswahl konnte die Merkel-Opposition nicht nutzen, um in der Partei mehr Einfluss zu gewinnen. Sie ist ein ziemlich desperater Haufen, programmatisch uneins und zu einem abgestimmten Agieren nicht in der Lage.

Zu durchschaubar war auch der Versuch ihrer innerparteilichen Gegner, die Kanzlerin in eine Minderheitsregierung zu locken, um sie dann in zwei, drei Jahren leichter abservieren zu können. Hilflos war das Angebot des FDP-Vorsitzenden Christian Lindner, die FDP würde doch wieder für ein Jamaika-Bündnis zur Verfügung stehen, wenn Merkel abgetreten sei. Machtpolitik für Anfänger könnte man diese Manöver auch nennen. Die SPD wiederum ist in einem so desolaten Zustand, dass sie sich schon deshalb in die schwarz-rote Koalition und in die Rolle des Juniorpartners der Union flüchten musste, um zunächst die völlige Implosion der Partei zu verhindern. Es wird viele Jahre dauern, bis die Sozialdemokraten wieder die Machtfrage stellen können, wenn überhaupt. 

Auf den Spuren von Helmut Kohl

Natürlich verweisen viele politische Beobachter darauf, dass Merkels Kanzlerschaft in den kommenden vier Jahren zu Ende gehe, sie schleichend an Zustimmung verliere und die Parole „Merkel muss weg“ immer populärer werde. Merkel sei im Herbst ihrer Macht angekommen, heißt es. Doch dieser Herbst könnte lange dauern. Denn so einfach wird es nicht, den Wechsel an der Spitze der CDU und im Kanzleramt zu organisieren, zumal es in der Union weder ein Verfahren dafür, geschweige denn einen geeigneten Kandidaten oder eine geeignete Kandidatin für die Nachfolge gibt. Einen Anlass, den Wählern diesen glaubhaft zu vermitteln, bräuchte man außerdem. 

Hinzu kommt: Ist Merkel erst einmal als Kanzlerin wiedergewählt, sind machtpolitische und auch verfassungsrechtliche Fakten geschaffen, die sich so leicht nicht korrigieren lassen. Vor allem der Koalitionspartner SPD kann überhaupt kein Interesse daran haben, dass der Union zu Hälfte der Legislaturperiode ein reibungsloser Personalwechsel gelingt. 

Es gibt in der CDU manche, die meinen, Merkels ganz persönliches Ziel sei es, länger im Amt zu sein als Helmut Kohl. Der regierte das Land von 1982 bis 1998 insgesamt 16 Jahre und 27 Tage, Merkel bringt es bis zu diesem Mittwoch auf 12 Jahre und 74 Tage. Wenn sie dieses Ziel tatsächlich hat, ist sie diesem nach den Marathon-Verhandlungen der vergangenen 24 Stunden einen großen Schritt nähergekommen.

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