Gewalt gegen Politiker - „Du Merkel-Diener, Dich kriegen wir auch noch“

Im November 2017 wurde Andreas Hollstein (CDU), der Bürgermeister der westfälischen Kleinstadt Altena, Opfer einer Messerattacke. Trotzdem lehnt er Polizeischutz ab. Dabei steht sein Name auf der Opferliste einer rechten Terror-Organisation

Andreas Hollstein beim Prozessauftakt gegen den Mann, der ihn attackiert hat. Polizeischutz lehnt er ab / picture alliance
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Autoreninfo

Antje Hildebrandt hat Publizistik und Politikwissenschaften studiert. Sie ist Reporterin und Online-Redakteurin bei Cicero.

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Andreas Hollstein ist Jurist und seit 1999 hauptamtlicher Bürgermeister von Altena. Die 14 .000 Einwohner zählende  Kleinstadt im Sauerland wurde bundesweit bekannt, weil sie 2015 mehr Flüchtlinge aufnahm, als ihr zugewiesen wurden.

Herr Hollstein, Danzigs Bürgermeister Pawel Adamowicz ist bei einer Benefizveranstaltung von einem Mann niedergestochen worden und an den Folgen seiner Verletzungen gestorben. Sie sind vor einem Jahr einem ähnlichen Attentat nur knapp entkommen. Was ging in Ihnen vor, als Sie die Nachricht gehört haben?
Bei mir hat diese Nachricht Demut ausgelöst. Mir hätte das auch passieren können. Ich hatte das Glück, dass ich zwei Menschen an meiner Seite hatte, die dazwischengegangen sind. Wenn sie nicht gewesen wären, wäre es mir vielleicht genau so ergangen.
 
Wen meinen Sie?

Vater und Sohn Demir, die beiden Betreiber des Dönerladens, in dem ich attackiert wurde. Sie haben mir geholfen und dem Täter das Messer weggenommen.

Was ist da genau passiert an dem Tag?
Ich wollte mir nach einer Ausschusssitzung einen Döner holen und hab mich mit Ahmed Demir, dem Inhaber, unterhalten. Plötzlich ging die Tür auf, ein Mann kam herein und fragte: „Sind Sie der Bürgermeister?“ Als ich fragte, was ich für ihn tun könne, zog er ein Fleischmesser aus seiner Umhängetasche, ging auf mich zu und schrie: „Ich stech Dich ab! Du holst 200 Ausländer in die Stadt und lässt mich verdursten.“

Wie haben Sie reagiert?
Meine Gedanken waren in diesem Moment bei meiner Frau und bei meiner Familie, ich hatte Todesangst. Der Mann hat mir das Messer an den Hals gesetzt. Es ist mir dann gelungen, seine Hand wegzudrücken. Schließlich hat er mich noch am Hals in Höhe der Halsschlagader verletzt. Dann kamen die Demirs und haben mir geholfen, ihm das Messer wegzunehmen.

An der Halsschlagader?
Ja, das war haarscharf. Ein etwas tieferer Schnitt oder Stich...

War es das erste Mal, dass Sie angegriffen wurden?
Ja, aber ich habe vorher schon viele Hass-Mails bekommen. Unsere Stadt hat 2015 freiwillig mehr Flüchtlinge aufgenommen, als sie musste – gestützt auf alle Parteien und auch auf die Mehrheit der Stadtgesellschaft. Die Berichterstattung darüber hat 2015/2016 bundesweit Hass-Mails und Bedrohungen ausgelöst.

Was stand darin?   
Die Absender der Hassmails lehnen Flüchtlinge ab. Das konnte man klar herauslesen. Es war eine Diktion, die von der AfD bis zu noch weiter rechts außen stehenden Gruppen benutzt wird. „Du Merkel-Diener, Dich kriegen wir auch noch.“

Haben Sie die Drohungen ernst genommen?
Nein, ich habe das nicht erst genommen. Die ausgedruckten Mails sind im Papierkorb gelandet

Sie haben keine Strafanzeige erstattet?
Nein, ich weiß ja, was dabei herauskommt: Nichts. Nach dem Angriff habe ich sogar noch viel mehr  Hass-Mails bekommen. Die Polizei sprach damals von insgesamt 8000 Äußerungen in den Netzwerken, Mails, Briefen, die geprüft würden. Inzwischen leite ich diese aber an die Polizei weiter – einfach, um zu dokumentieren, dass in unserer Gesellschaft etwas falsch läuft. Wenn man das nicht in den Statistiken hat, dann nimmt man das nicht als gesellschaftliches Problem wahr.

Heißt das, der Überfall war nur das letzte Glied in einer Reihe von Feindseligkeiten – er kam am Ende gar nicht so überraschend?
Ich erkenne dahinter ein System. Früher haben wir Meinungsverschiedenheiten in der Politik ausgehalten, auch innerhalb der Volksparteien. Heute stehen sich diese Meinungen unversöhnlich gegenüber und laden sich gegenseitig auf. Je extremer die an den rechten und linken Rändern sind, umso mehr lädt sich die Stimmung auf. Und immer mehr Menschen nehmen das für bare Münze. Wenn Marine Le Pen sagt, Deutschland wolle das Elsass wieder okkupieren, gibt es Menschen, die das glauben.

Unterstellen Sie Ihrem Täter ein fremdenfeindliches Motiv?
Na, klar. Es stimmt zwar, dass ihm die Stadt das Wasser abgestellt hatte, weil er die Rechnungen nicht mehr bezahlt hatte. Aber nach meinen Recherchen hätte am Tag der Tat ein Anruf gereicht, und er oder sein Betreuer hätten das rückgängig machen lassen können. Außerdem war der Hass gegen „die Ausländer“ klar ausgedrückt.

Der Mann war ein stadtbekannter Alkoholiker. Hatten Sie nicht einfach nur das Pech, ihm im richtigen Moment über den Weg gelaufen zu sein?
Die Menschen, die am labilsten sind, werden am ehesten zu Tätern. Das gilt auch für den Angriff auf meinen Kollegen in Danzig. Auch dieser Täter befand sich offenbar in einer verzweifelten Situation. Er war frisch aus dem Gefängnis entlassen.

In Polen musste sich die regierende Partei PIS den Vorwurf gefallen lassen, sie hätte den Hass auf den liberalen Bürgermeister mit ihrer Politik beflügelt. Macht es sich die Politik zu leicht, wenn sie die Tat auf die paranoide Schizophrenie des Täters schiebt? 
Das Strafrecht kennt nur die Frage der Schuldfähigkeit als relevante Kategorie. Und die ist keine Frage der politischen Einstellung oder Einschätzung. Und das ist auch richtig so.
 
Politik hat keine Mitschuld?
Das ist eine philosophische Frage. Ich glaube, dass jedes Individuum für sich verantwortlich ist. Sonst würde das Strafrecht nicht greifen. Wenn wir sagen würden, die Politik sei verantwortlich, würden wir es uns zu leicht machen. Aber ich glaube schon, dass ein Klima geeignet ist, besonders labilen Menschen zu suggerieren: „Du bist auf dem richtigen Weg. Alle anderen sind bescheuert.“ Die Attentäter von Henriette Reker, Wolfgang Schäuble und Oskar Lafontaine passten alle in dieses Schema. Es waren Menschen, die für solche „Verzweiflungstaten“ empfänglich waren.

Der Politikwissenschaftler Florian Hartleb hat die Verbrechen solcher Einzeltäter wie Anders Breivik oder des  Münchener Amokläufers David S. untersucht. Ergebnis: Neben einer tiefen persönlichen Kränkung verband alle eine Ideologie des Hasses. Kann Hass tödlich werden?
Auf die Frage möchte ich mit einem Zitat der Schriftstellerin Herta Müller antworten. Sie hat 2015 bei der Verleihung des Böll-Preises in Köln sinngemäß gesagt: „In einem Land, in dem Wörter wie Lügenpresse und Volksverräter spazieren gehen, ist der Weg zum Einsatz von Messern nicht mehr weit.“ Extreme sind geeignet, Hass zu produzieren – sowohl rechts als auch links. Ich versuche, dem mit Sachlichkeit zu begegnen.

Woher kommt der Hass?
Einerseits hängt es damit zusammen, dass man Meinungen Andersdenkender nicht mehr einfach stehen lassen kann. Statt um Kompromisse zu kämpfen, will jeder seine individuelle Sicht durchsetzen. Es liegt aber auch daran, dass die Bindekräfte in der Gesellschaft verlieren gehen. In einer Kleinstadt, wo jeder jeden kennt, geht man noch anders miteinander um als in einer Großstadt.

Trotzdem ist Ihnen dasselbe passiert wie dem Chef der Bremer AfD, Frank Magnitz. Der hat nach dem Überfall ein Foto von seinem blutverschmierten Gesicht im Internet verbreitet. Hatten Sie diesen Gedanken auch?
Nein, dazu hätte ich gar keine Zeit gehabt. Ich habe es gerade noch geschafft, meine vier erwachsenen Kinder zu informieren, bevor die das über Facebook mitbekamen. Das einzige Problem war nur: Wie sage ich es meiner 83jährigen Mutter? Medien-Anfragen habe ich an diesem Abend nicht bedient. Ich war nicht sicher, ob ich überhaupt darüber sprechen sollte.

Inzwischen waren Sie mit Ihrer Geschichte auch im Fernsehen.
Mir geht es dabei nicht nur um mich. Ich habe mich im Städte-und Gemeindebund schon vorher mit dem Thema Hassmails und Gewalt beschäftigt. Es sind ja nicht nur Bürgermeister, die Opfer von Gewalt werden. Mir geht es um meine Feuerwehrkameraden, die bei Einsätzen bespuckt und zur Seite geschubst werden, damit Schaulustige noch Video-Aufnahmen von Verunglückten drehen können. Oder um Verwaltungsmitarbeiter, die bedroht werden. Da lässt der Respekt vor dem Menschen nach. Darüber müssen wir sprechen.

Wenn solche Übergriffe auch symptomatisch für die aufgeheizte politische Stimmung sind, müssen Sie sich dann nicht auch als Bürgermeister fragen, ob sie etwas falsch gemacht haben?
Natürlich, die Frage habe ich mir schon gestellt, als es hier in Altena nach dem Herbst 2015 vorgekommen ist, dass mich Menschen plötzlich nicht mehr gegrüßt haben. Ich bin Jahrgang 1963. Ich gehör noch zu der Generation, die ihre Großeltern gefragt haben: Was habt Ihr denn gemacht 1933? Ich hab vier Kinder. Ich möchte nie in eine Situation kommen, diese Frage auch meinen Kindern beantworten zu müssen. Das ist eine Frage der Zivilcourage.

Sie haben im Mai 2017 den Integrationspreis der Bundesregierung für Ihre Flüchtlingspolitik bekommen. Warum klappte in Altena, was woanders so schwer war?
Wir haben das im Rat ausgehandelt. Alle im Rat vertretenen Parteien waren da einer Meinung. Linke, FDP, Grüne, SPD und CDU. 

Inzwischen haben ja auch CDU-Kollegen von Ihnen eingeräumt, dass sie blauäugig waren, als sie 2015 alle Flüchtlinge ins Land gelassen haben. Würden Sie alles nochmal genauso machen?
Ja. Ich spreche da allerdings auch nicht für die Bundes-CDU. In Altena haben wir schon 2007 das ehrenamtliche Engagement unserer Bürger mit einer Freiwilligen-Agentur geweckt. Als die Flüchtlinge kamen, waren wir also schon vorbereitet. Integration ist keine Einbahnstraße. Damit vertrete ich eine Auffassung, die sich mit Teilen der Union, aber auch mit Grünen oder Sozialdemokraten decken – vereinzelt sogar mit Linken.
 
Hat Sie nicht genau das zur Hassfigur gemacht?
Ja, Menschen, die ihre Stimme für eine sachliche Auseineinandersetzung mit dem Thema erheben, geraten zwischen die Fronten und werden von den Rändern beschimpft oder sogar mit Hass überzogen. Aber eine konsequente Haltung gehört zur Politik.

Was glauben Sie, wie wären die Reaktionen auf den Überfall auf Sie ausgefallen, wenn der Täter ein arabischer Flüchtling gewesen wäre?
Dann wäre ich wahrscheinlich zum Liebling des rechten Spektrums geworden, und man hätte mir Mitgliedsanträge für alle möglichen rechten Organisationen zugeschickt. Dabei spielt die Nationalität des Täters gar keine Rolle. Dieser Mensch muss zur Rechenschaft gezogen werden.

Der Täter ist wegen gefährlicher Körperverletzung zu einer zweijährigen Haftstrafe auf Bewährung verurteilt worden. Ein angemessenes Strafmaß?
In meinen Augen ist diese Strafe viel zu milde. Aber ich kann damit leben, sonst wäre ich in Revision gegangen. Irgendwann muss man damit abschließen.

Hat es im Prozess eine Rolle gespielt, dass der Täter Hass auf Ihre Flüchtlingspolitik geäußert hatte?
Im Gegenteil. Die Richter erkannten weder ein fremdenfeindliches noch ein rechtsradikales Motiv. Es wurde kritisiert, dass ich mit den Medien gesprochen hatte – und dass dadurch der Täter vorverurteilt worden wäre. Die Richter kamen zu dem Schluss, dass der Täter das Messer nur aus Sicherheitsgründen mit sich führte – und dass es sich um eine spontane Tat gehandelt habe.

Hätten Sie sich gewünscht, dass die Richter den Hass des Täters stärker thematisiert hätten?
Nein, dieser Hass geht in den Bereich der Gesinnung, und die ist vom Gesetz schwer zu greifen. Worüber wir nachdenken müssen, ist die Frage, ob es sich nicht strafverschärfend auswirken müsste, wenn staatliche Funktionsträger Opfer von Gewalt werden – zum Beispiel Politiker, Verwaltungsmitarbeiter oder Rettungskräfte. Die müssen besonders geschützt werden. Ich bin ja nicht angegriffen worden, weil ich Andreas Hollstein bin. Ich bin angegriffen worden, weil ich Bürgermeister bin. Und solche Übergriffe nehmen zu.

Die AfD hat jetzt mehr Personenschutz für ihre Politiker gefordert. Sie lehnen das ab. Warum?
Wegen der Nähe zum Bürger. Das ist ja der Trumpf der Kommunalpolitik. Das ist unser Vorteil gegenüber Bundes- oder Landespolitikern. Ich kann nicht mit einem Bürger auf dem Markt über seine soziale Notlage reden, wenn ein Polizist daneben stehen würde. Oder bei einem Volksfest mitfeiern. Das würde mir die Freiheit  nehmen. Ich bin ein normaler Bürger und brauche „normalen“ Kontakt.

Trauen Sie denn nach dem Überfall noch unbefangen in die Öffentlichkeit?
Ja. An dem Tag danach habe ich mich noch überwinden müssen. Dann kam ein Mensch auf mich zugeschossen, der nicht besonders gut situiert aussah. Das hat mich im ersten Moment erschreckt. Dann hat er mir die Hand gegeben und gesagt: „Ich bin froh, dass es Ihnen gut geht.“ In dem Moment habe ich mich für meine eigene Angst geschämt. Heute ist alles wieder normal.

Die Tat ist ganz spurlos an Ihnen vorbeigegangen?
Na ja, ich habe meinen Namen jetzt auf einer Liste von Politikern gefunden, die „gegen die weiße Rasse agieren und gefährlich sind.“ Das ist natürlich nicht so ein schönes Gefühl.

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